Ich war ein Roboter. Wolfgang Flür

Читать онлайн.
Название Ich war ein Roboter
Автор произведения Wolfgang Flür
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862870363



Скачать книгу

Bild von Kulturen, das ich mir selbst machen konnte, ohne es nur aus den Büchern herauszulesen – all das brachte mir großartige Erfahrungen, die mir später nach meiner schmerzlichen Trennung auch geholfen haben, einen Weg zu mir selbst, zu Lust und zu Klang meiner eigenen Musik zu finden. Mein Weg mit Kraftwerk war bestimmt einer der verrücktesten und schönsten. Dieses Buch soll all jene ermutigen, die ebenfalls spät im Leben ihr eigentliches Ziel erkannt haben und Zufriedenheit aus dessen Verwirklichung schöpfen, wie ich es heute tue. Die Parole lautet: Nie ist es zu spät für etwas Neues, nie für etwas Besonderes. Mit Kraftwerk versuchten wir immer, unseren Fans etwas Besonderes zu bieten. Modernität und Eigenständigkeit sind gerade heute wieder mein persönlicher ›Guiding Ray‹. Ich möchte mich den Worten von Brian Wilson anschließen, der da einmal sagte: »Vergesst nicht, dass unsere Musik immer aus Liebe zu euch gemacht wurde.«

      Und übrigens: Meine Berichte stellen meine ureigensten Meinungen und Gefühle dar. Sie unterscheiden sich gewiss von denen meiner früheren Kollegen, und es gäbe sicher vier sehr unterschiedliche Kraftwerk-Bücher, wenn wir jeder eines geschrieben hätten.

      Wolfgang Flür, Juni 1999

      Wer mit dem Strom schwimmt, erreicht den großen Musikdampfer, wer gegen den Strom schwimmt, erreicht vielleicht die Quelle.

      (Paul Schneider-Essleben, Vater von Florian Kraftwerk)

      »Junge, du machst das schon richtig«.

      (Heribert Flür - mein Vater im Alter von 83 Jahren)

      I

      STATIONEN EINES MUSIKALISCHEN LEBENS

      1

      HÖCHSTE HEITERKEIT - ZUFÄLLE, DIE GIBT ES NICHT

      Düsseldorf, 1. Januar 1999 +++ Was für eine magische Zahl dieses neue Jahr repräsentierte! Für mich war sie viel aufregender als die des nächsten mit den vielen Nullen, vor denen die Leute solch rätselhafte Panik haben. In der Silvesternacht hatte ich mich warm angezogen und im Düsseldorfer Norden einen langen besinnlichen Spaziergang entlang des Rheins gemacht, um die herannahende frische Zeit zu beschnuppern. Am späten Vormittag des Neujahrstages lag ich noch immer in meinem warmen Bett und döste köstlich vor mich hin, als ich plötzlich anfing, über den Sinn des Lebens nachzudenken - meines Lebens. Das tat ich nicht zum ersten Mal. Aber selten habe ich so klar gesehen. Ich dachte auch über die Arbeit an meinem neuen Yamo-Album nach, das ganz den Themen großer Heiterkeit gewidmet ist. Und ich erinnerte mich vergangener Jahre, von denen einige nach meinem freiwilligen Abgang bei Kraftwerk nicht unbedingt zu denen gehörten, die leicht zu bewältigen waren. Und genau das stimmte mich nachdenklich. War mir das Bewältigen etwas Unangenehmes? Bringe ich mein Leben überhaupt nur irgendwie hinter mich, oder empfinde ich dieses Bewältigen sogar als Glück? Was macht mich denn überhaupt glücklich? Viele suchen ihr Glück in einer bindenden Partnerschaft und halten sich darin aneinander fest, weil ihnen ihr Leben solche Angst macht, dass sie beim Bewältigen ständig jemanden zum Festhalten brauchen. Auch Kraftwerk war für mich einmal eine bindende Partnerschaft, in der ich mich gestützt fühlte, in die ich aber auch viel von mir investierte. Beinahe aber hätte ich mich selbst aus den Augen verloren, wenn die anderen es mir am Ende nicht - ohne dass es ihnen wohl bewusst war - leicht gemacht hätten, loszulassen und für die Zukunft ohne ihre ›Stützräder‹ meine eigene Ballance zu finden. Was für ein Gefühl der Erleichterung das heute für mich bedeutet, kann ich mit Worten gar nicht beschreiben. Ich arbeite nun mit unabhängigen jungen Künstlern, lebe lange allein, ohne mich einsam zu fühlen, und bin gar nicht unglücklich dabei, denn ich lebe sehr bewusst, genieße frische Freiheit, und lasse mich von den feinen Lebensgefühlen nicht abbringen.

      Ich gehöre zwar auch zu den Menschen, die Extreme des Lichts und der prallen Farben lieben, aber gerade Pastelltöne und das Zwielicht, das den Tag nicht lassen möchte und die Nacht doch schon sucht, haben mich immer am meisten berauscht und inspiriert. Diese tägliche Wahrnehmung von Veränderung und der Übergang von Feinheit zur Sättigung und wieder zurück zur Blässe, gehen mir über alles. Das aufmerksame Empfinden, dieses köstliche Erkennen, das sich immer wieder in mir ausbreitet, ist alleine schon mein Leben wert. Es kann nur Freude daraus folgen, Freude am Erleben. Ich sehe mit fühlender Hand, mit Winden mach ich mich bekannt, früh schmecke ich die Zeit, hör in den Tag, mach mich bereit. Wie berührend ist eine liebevolle Begegnung! Sie bereitet höchste Heiterkeit überhaupt. Es ist ein kaum fassbares Glück, dass dies jeden Tag aufs Neue funktioniert, immer wieder anders und deshalb neu.

      Es gibt Millionen von Menschen, die sich nach Unsterblichkeit sehnen - die aber nicht wissen, was sie an einem verregneten Sonntagnachmittag anfangen sollen.

      (Maurice Chevalier)

      Aber was hat das alles für einen Sinn, wenn ich so schnell wieder unsere schöne Erde verlassen muss? Wozu das Ganze? Eine sonderbare Spezies hat diesen Planeten wie eine Naturkatastrophe befallen und ich fürchte, so kontrovers und raubsüchtig wie sich der Wurm Mensch verhält, wird er auch nicht lange bleiben können. Ein kurzes Gastspiel vielleicht, dann wird bestimmt wieder etwas ganz anderes mit dieser liebenswerten, im Raum schwebenden blauen Kugel geschehen, die sich, aus der Ferne gar wunderlich betrachtet, von solch ulkigen Kreaturen betrampeln lässt, die sich ihren eigenen Namen geben, sich gegenseitig erkennen und so etwas skurriles haben können, wie Langeweile. Wesen, die auch Stimmungen haben, in denen sie sich halb totlachen. Welche, die singen, selbst gebaute Musikinstrumente spielen und sich ihre Sinne am liebsten von einer der unbegreiflichsten Sachen der Welt verdrehen lassen - Humor. Und welche, die Spaß daran haben, aus purem Unsinn gehörig viel Krach zu schlagen, ja, richtig schön unnütz zu sein. Wer will da nicht ‘ne zeitlang dabeisein?

      Die gierige Menschheit will mehr als das Leben, sie will auch noch ins Paradies ...

      Für mich ist es einfach aufregend, diese kontroversen Wesen zu beobachten und alles um mich herum wahrzunehmen. Ein Augenblick von dem, was gerade ist, von Licht und Klang im dunklen All. Zu neugierig hat er mich gemacht. Schönheit, Freude und Liebe sind das, was uns am Leben hält, was wir brauchen, was wir geben müssen. Die Wahrnehmung von Freude, die ich empfange und bereite, gibt dem Leben einen Wert. Ich gehöre einfach dazu – jetzt – denke gar nicht daran, meine Periode als Last zu empfinden, es einfach nur so zu bewältigen und mein Glück im Anschaffen von lästigem Eigentum zu suchen. Das gierige Habenwollen ist doch nur dumpfer Rausch. Wofür strengen sich da so viele so verkrampft an und wirken dennoch unzufrieden und mürrisch? Ich finde es erschreckend anzusehen, wie wenige meiner Artgenossen einfach glücklich sind über das pure Gefühl ihres Daseins. Ich jedenfalls freue mich täglich über meine Lebendigkeit und meine Empfindungen. Pures Leben ist mein Luxus, Fantasie mein Reichtum, und im Himmel bin ich schon jetzt, während ich lebe. Zum Genießen sind wir schließlich da, atmen doch ständig von der köstlichen Substanz Atmosphäre, die wir so gern als ›unser blauer Himmel‹ bezeichnen. Auf was sonst noch warten da so viele und klammern sich an unverschämte Versprechungen ihrer selbst auferlegten Religionen, die sie vom schweren Bewältigen ihres Alltags erlösen sollen? Die gierige Menschheit will mehr als das, sie will auch noch ins Paradies – ihr Supermarkt der Belohnung für Lebensbewältigung. Dass ich nicht lache! Man sollte ihnen am besten dort noch Rabattmarken in Aussicht stellen ...

      Schnell ist die privilegierte Zeit der Wahrnehmung wieder vorbei und manche haben nicht mitbekommen, dass das Göttliche in ihrer eigenen Kreatürlichkeit ruht. Man muss sich erst einmal selbst entdecken, liebhaben und ernst nehmen. Und wenn man das dann kann, geht es auch besonders gut mit anderen.

      Mein Glück zu zeigen, ist jedenfalls ganz normal für mich. Musik ist dabei ein beschwingtes Medium, mit dem ich mich ausdrücken und Freude vermitteln kann. Ich will es wenigstens versuchen, denn ich habe von Anfang an so viel davon.

      Als meine Mutter noch lebte, erzählte sie mir einmal, dass ich als Fünfjähriger meinem Zwillingsbrüderchen beim Spielen folgende Frage gestellt haben soll:

      »Winfried, bist du eigentlich froh, dass es dich gibt?«

      Mein Bruder soll daraufhin lange nachgedacht und dann fast weise geantwortet haben:

      »Ja, Wolfgang, ich bin eigentlich auch ganz froh, dass es mich gibt.«

      Woraufhin ich ihm beigepflichtet hätte: