Название | Der rote Elvis |
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Автор произведения | Stefan Ernsting |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871155 |
Der Junge vom Lande
Dean Reed wurde am 22. September 1938 in Lakewood am Rande der Verwaltungsmetropole Denver geboren und wohnte mit seinen zwei Brüdern am 3905 Wadsworth Boulevard in Wheat Ridge. Er wuchs in einer staubigen Gegend auf, die erst sechzig Jahre zuvor aus dem Wilden Westen in die Zivilisation gefunden hatte: Colorado, eine amerikanische Provinz wie aus dem Bilderbuch.
Das weite Land und die Rocky Mountains machen glauben, daß es in der Welt noch Platz für ehrliche Rauhbeine gibt, die den lieben langen Tag im Sattel sitzen, um abends im Saloon von ihren Abenteuern zu berichten. Der Landstrich galt als verschlafen. In den Fünfzigern ritt man in Wheat Ridge noch mit dem Pferd in die Stadt. Die engstirnige Provinzialität des Mittleren Westens der USA, der christliche Fundamentalismus und die Rüstungsindustrie erzeugten zusätzlich ein Klima, das auch über die fünfziger Jahre hinaus keinen Platz für Andersdenkende hatte.
Dean Reed galt als fröhliches Kind. Sein Spitzname war Slim. Er hatte Segelohren und konnte mehr Eis essen als alle anderen Kinder in Wheat Ridge. Als Mitglied der Pfadfinder und der Future Farmers of America entwickelte er schon früh eine soziale Ader. Wenn er etwas Geld verdiente, spendete er einen Teil davon der amerikanischen Krebsforschung.
1. Familie Reed Ende der 1950er: Vernon, Dale, Dean, Ruth Anna und Cyril (v.l.)
Der Stammbaum der Familie Reed ist typisch amerikanisch. Er beginnt mit dem ersten Ahnen, der in »God’s own country« das Licht der Welt erblickt hatte. Europäische Vorfahren blieben unberücksichtigt. Die Familie ließ sich bis zu Thomas Reed zurückverfolgen, der 1783 in Pennsylvania geboren und am 21. Dezember 1853 in Ashmore, Illinois, begraben wurde. Dean Reeds Großvater Thomas Riley Reed wurde am 9. Juli 1877 in Ashmore geboren und starb am 8. August 1927 an Asthma, ohne je seinen Heimatort verlassen zu haben. Erst sein Vater Cyril Dale Reed, geboren am 20. Mai 1903, verließ die kleine Siedlung in Illinois, um sich als Lehrer bei Denver in Colorado niederzulassen, wo er am 5. August 1932 seine Schülerin Ruth Anna Hansen ehelichte.
Cyril Reed galt als »Womanizer« und wohnte auf einer kleinen Hühnerfarm. Er arbeitete als Mathematik- und Geschichtslehrer an der lokalen High School. Ruth Anna Hanse, geboren am 15. Juni 1914 in Port Chester, New York, war die Tochter dänischer Einwanderer und hatte eine Ausbildung zur Ballettänzerin absolviert. Sie verbrachte die Jahre nach ihrer Hochzeit als Hausfrau. Am 8. Juni 1935 wurde ihr erster Sohn Dale Robert geboren. Am 22. September 1938 folgte Dean und am 13. November 1943 kam mit Vernon Ray der dritte Junge zur Welt.
Colorado war einer der US-Bundesstaaten, die erst relativ spät besiedelt wurden. Die Army hatte zunächst gründlich mit den Ureinwohnern aufräumen müssen, bevor sich weiße Siedler überhaupt in die Region wagten. Die Gegend war bekannt für ihre Vielfalt an Indianerstämmen. Cheyenne, Arapaho, Comanche, Pawnee, Sioux und Kiowa waren nur die größten Stämme, die Colorado als ihre Heimat betrachteten. 1803 etablierte sich die Staatsgrenze mit der ersten Ansiedlung in Conejos im San Luis Valley. Die Region wurde zum Umschlagplatz und Handelszentrum für Felle und zur neuen Heimat fanatischer Büffeljäger.
Cyril Reed gab seine Hühnerfarm auf und begann im kalifornischen El Monte wieder als Lehrer zu arbeiten. Alle paar Jahre zog die Familie um. Über Salt Lake City ging es bald weiter durch diverse Städte in Arizona nach Pomona bei Los Angeles, wo Cyril Reed ein Geschäft für Rasenmäher eröffnete. Seine Söhne halfen im Laden mit aus, aber auch die Rasenmäher sollten den ehrgeizigen Cyril Reed irgendwann langweilen. Als Dean zehn Jahre alt war, zog die Familie zurück nach Denver, wo Vater Reed erneut als Lehrer arbeitete.
Nicht weit entfernt von Dean Reeds Heimatdorf Wheat Ridge stand Fort Laramie, einer der wichtigsten Army-Stützpunkte seit der Eroberung des Westens, der Millionen von Ureinwohnern zum Opfer gefallen waren. Zwischen 1941 und 1945 waren die militärischen Ansiedlungen im Colorado Mushroom weiter gewachsen. Der gesamte Bundesstaat verwandelte sich in eine Bastion der Rüstungsindustrie. 1951 baute man am Rande von Denver zusätzlich ein gewaltiges Atomkraftwerk, welches am 6. Juni 1989 vom FBI gestürmt und Mittelpunkt eines bundesweiten Plutonium-Skandals wurde.
Für das Kind Dean Reed war Colorado das Land des Wilden Westens aus dem Kino, und sein größter Wunsch war – natürlich – ein Pferd. Sein Vater jedoch hatte für solche Wildwestphantasien wenig Verständnis. Er schickte den Sohn statt dessen mit zehn Jahren auf eine Kadettenschule. Dean Reed lernte bei den Kadetten zwar das Reiten, aber das Militär war ihm zutiefst verhaßt. Ein Jahr lang ertrug er den Drill, bevor er zu rebellieren begann. Mit Unterstützung seiner Mutter konnte er an die heimische Wheat Ridge High School wechseln, wo er sich als guter Langstreckenläufer erwies. Möglicherweise waren die Magengeschwüre, an denen er in dieser Zeit litt – er mußte sich deswegen einer schweren Operation unterziehen – auch eine Folge des verhaßten Kadettendrills.
Dean Reeds Bruder Dale erinnerte sich in einer Nachricht im Forum von deanreed.de noch gut an seine Jugend, die von musischer Erziehung mit einem gewissen Drill geprägt war: »Unsere Eltern suchten ständig nach Möglichkeiten, den Horizont der Söhne zu erweitern. Vernon, Dean und ich selber mußten echte Arbeit leisten, aber dabei hatten wir auch Spaß. Unsere Mutter brachte z. B. zwölf Jungs aus der Nachbarschaft zusammen und bildete eine Indianer-Tanzgruppe. Wir haben unsere eigene authentische Indianerkleidung hergestellt sowie Trommeln und sonstiges Zubehör. Dazu haben wir Bücher aus der Stadtbibliothek geholt, um daraus Indianertänze zu erlernen.« Am 14. Juni 1950 berichtete auch die »Denver Post« von Ruth Anna Reed und ihrer Tanzgruppe, den Busy Bees. Ihr Tanztheaterstück A Pageant About Indians vertrat Denver gar in einem bundesweiten Theaterwettbewerb. Hier hatte Dean Reed seinen ersten Bühnenauftritt und sammelte weitere Erfahrungen in der Theatergruppe seiner High School.
Mit elf Jahren hatte er genug Geld gespart, um sich ein eigenes Pferd zu kaufen. Er hatte Stunde um Stunde die Rasen der Nachbarn gemäht, Wege von Schnee befreit, Weihnachtsbäume verkauft und Gitarre gespielt, bis er die 150 Dollar zusammenhatte. In einem Interview vom 7. Oktober 1982 im Berliner Rundfunk erinnerte er sich: »Ich bin mit meiner Gitarre von Restaurant zu Restaurant gegangen. Und ich bin immer reingegangen. Ich habe gesagt, ich bin bereit, umsonst zu spielen und zu singen, nur für Kleingeld. Und manchmal haben sie ›ja‹ gesagt, und manchmal haben sie ›nein‹ gesagt. Aber wenn sie ›ja‹ gesagt haben, bin ich von Tisch zu Tisch gegangen und habe besonders für die kleinen Kinder gesungen. Ich habe immer gemerkt, wenn man zu den kleinen Kindern singt, gibt der Vater immer gutes Kleingeld dafür. Mit diesem Geld habe ich mein erstes Pferd gekauft.«
Das Pferd, ein Falbe mit heller Mähne, wurde nach einer Comicfigur Blondie getauft, und der Elfjährige entwikkelte unbändigen Ehrgeiz, ein guter Sportreiter zu werden. Schon bald saß er sicherer im Sattel als manch Erwachsener. Später hatte er noch ein zweites Pferd namens Dagwood, das nach dem trotteligen Ehemann der Comicblondine benannt war. Blondie soll zeitweilig 1,80 Meter hoch gesprungen sein, und nicht selten gewann sie für ihren Herrn Wettbewerbe im Springreiten. Die Liebe zum Reiten hat Dean Reed nie verloren. Noch viele Jahre später erinnerte er sich wehmütig an die unbändige Weite von Colorado und endlose Ausritte.
Wie jeder andere Junge, der in der Nachkriegszeit aufwuchs, war Dean Reed ein Fan von Westernfilmen, wenn er auch nicht genau verstand, was aus den Indianern geworden war, denen er mit authentisch gebasteltem Zubehör nacheiferte.