Nightflights. Alan Bangs

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Название Nightflights
Автор произведения Alan Bangs
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862870202



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Welt, und ich verstand nicht viel von dem, was er sagte. Nach einer Weile hörte ich auf, Fragen zu stellen und redete nur noch, um die Pausen zwischen seinen Ausführungen zu überbrücken, in der vagen Hoffnung, dass er irgendwie auf das eingehen würde, was ich sagte - was er unweigerlich tat, wenn auch meistens, indem er mich kurzerhand unterbrach. Das war weder ein Interview noch eine Unterhaltung, und ich war bestenfalls ein Katalysator, ein Straight Man neben einem Komiker. Die meiste Zeit fühlte ich mich ziemlich bescheuert, vielleicht geriet ich sogar etwas aus der Fassung - nicht wegen der Sendung, aber in Bezug auf das, was Cale indirekt von mir erwartete. Ich hatte noch nie Angst, dass mir mal die Munition ausgehen könnte, dass ich nichts mehr zu sagen hätte, aber ich weiß nur allzu gut, dass man im Radio eine Menge Unsinn verzapfen kann, nur um ein peinliches Schweigen zu vermeiden. Es machte mir aber nicht viel aus, als Dummkopf dazustehen: Auch wenn ich nicht in der Lage war, mitzuhalten, so war ich doch bereit, mich für das, was Cale repräsentierte, zu opfern, nämlich eine wirre, aber irgendwie doch sehr konzentrierte Attacke gegen Konformismus und Konservatismus.

      Während dieser zwei Stunden erlebte ich genau dieselben unterschiedlichen Gefühle wie damals, als mich die Persönlichkeit von Patti Smith mit voller Breitseite erwischte. In jener Nacht, als ich versuchte, sie für den Rockpalast zu interviewen, wollte sie nur eins, nämlich ihre Show abziehen, und jeder, der ihr über den Weg lief, wurde zu einem Teil dieser Show. Es war das erste Mal, dass ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte, oder besser gesagt, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes keine Ahnung, was ich machen sollte, als Patti ausflippte und sich einfach weigerte, irgendwas mit mir zu tun zu haben. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, was schiefgelaufen war und wieso sie das Gefühl hatte, dass ich sie zurückhalten wollte. Später erkannte ich, dass der immense Druck, der auf ihr lastete, jeden, dem sie in dieser Nacht begegnete, in einen Aspekt ihrer eigenen Persönlichkeit verwandelte: Sie kämpfte genauso stark mit sich selbst wie gegen die, mit denen sie zufälligerweise zu tun hatte. Ich weiß noch, wie ich hinter der Bühne der Grugahalle stand und zusah, wie sie wutentbrannt von mir weglief und schreiend verlangte, dass man sie endlich auf die Bühne ließ. Sie nahm überhaupt keine Notiz mehr von dem, was um sie herum geschah, nicht mal von den Kameras, die auf sie gerichtet waren.

      Ich stand da und dachte darüber nach, wie viele Millionen Menschen uns in diesem Moment zuschauten, und was ich bloß tun sollte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich völlig entgeistert, weil ich merkte, dass mir einfach nichts einfiel, um die Situation zu retten. Aber dann dämmerte es mir plötzlich, dass ich mich schrecklich konservativ verhielt, nur in festgesetzten Bahnen dachte und versuchte, einen wirklich einzigartigen Moment auf etwas Stinknormales zu reduzieren. Ich fürchtete die Konsequenzen, aber gleichzeitig war ich von den Möglichkeiten fasziniert. Es ist unmöglich zu beschreiben, was damals in meinem Kopf vorging: Alles ging so rasend schnell, und trotzdem entschied ich mich ganz bewusst, nicht einzuschreiten. Und plötzlich stand ich nicht mehr einfach nur hilflos da, sondern war ein Teil dessen, was passierte. Ich hielt nichts und niemanden zurück und war auch keinem im Weg. Ich erkannte, dass Patti sich selbst darstellte, dass nichts mehr sie aufhalten konnte, dass ihre Persönlichkeit - oder zumindest ein Teil davon - sich ungefiltert entfaltete, von Fragen unberührt, von Höflichkeiten ungeschmälert. Diese wenigen Minuten nahmen mich psychisch ganz schön mit; sie deprimierten mich und hinterließen ein Gefühl der Leere, weil sie mich aus meinem gewohnten Denken herausrissen und in eine Welt führten, in der ich noch nie zuvor gewesen war. Hier war ich nur noch auf mich allein gestellt, weit weg von allem, was ich bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte.

      Ein paar Monate später versuchte Mitch Ryder auf seine eigene Art und Weise, das zu wiederholen, was Patti Smith schon vorgemacht hatte. Er wollte mich provozieren, nicht indem er sich weigerte, meine Fragen zu beantworten, sondern indem er jede Frage mit einer Gegenfrage quittierte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie das Interview begann - ich weiß nur noch, dass mich Mitch Ryder nach der ersten Frage mehr als skeptisch anstarrte und irgendwas murmelte, was ich nicht übersetzen konnte. Dann fragte er mich aus heiterem Himmel: »Have you ever seen two dogs fucking in the street?« Ich bin nie dahinter gekommen, was er mit dieser Frage bezweckte. Damals schien es mir unangebracht, ihn um eine Erklärung zu bitten. Andererseits, wenn ich anders reagiert hätte, hätte er sich vielleicht nicht gezwungen gesehen, zu behaupten, dass es ein Gesetz geben sollte, das Leuten wie mir untersagte, im Fernsehen aufzutreten. Später kehrte er mir mitten im »Interview« einfach den Rücken zu und fing an, sich mit einem Mädchen zu unterhalten, das zufällig neben ihm stand. Das wäre ja auch noch zu verkraften gewesen, wenn ich nicht gerade dabei gewesen wäre, ihm eine Frage zu stellen. Ich hatte aber keine Lust, schon wieder den kürzeren zu ziehen und schnappte ihn mir beim Hemd. Daraufhin drehte er den Kopf in meine Richtung. Ich zog ihn wieder zurück zu mir und machte ihm unmissverständlich klar, dass unser Gespräch noch nicht beendet war. Er revanchierte sich mit der Frage, warum ich eigentlich nie mit seinem Keyboard-Mann Billy sprach. Ich protestierte, aber da war er schon auf hundertachtzig und ließ sich nicht mehr bremsen. »Ich weiß, warum du nicht mit ihm redest«, fuhr er fort. »Weil er deine Freundin angemacht hat, deshalb redest du nicht mit ihm.« Zufällig stand meine Freundin direkt hinter mir, und ich schlug vor, sie selbst zu fragen, ob an dieser haarsträubenden Geschichte was dran wäre. Sie hatte keine Lust, in diese Angelegenheit mit reingezogen zu werden und tat so, als wäre sie verlegen, obwohl sie allen Grund hatte, wirklich verlegen zu sein, wie ich später erfuhr.

      Das Ganze klingt schlimmer, als es in Wirklichkeit war - in Wahrheit war das ganze Interview kaum mehr als ein Geplänkel, ein Spiel - aber eins, das keiner von uns beiden verlieren wollte. Wir wussten beide, was los war, obwohl es manchmal den Anschein hatte, als hätten wir die Kontrolle über das, was wir da machten, verloren. Wir waren alle ziemlich nervös, nur wollte keiner es zugeben.

      Nach dem Interview ging die Band zurück zum Dressing Room, wo sie dem einen Bandmitglied, das nicht zum Interview erschienen war, ohne große Umschweife klarmachte, was sie davon hielt. Seine Antwort, dass er seine Gitarren hatte stimmen wollen, nahm ihm keiner ab und im Nu hatten sich die Gemüter erhitzt, und dann flogen die Fetzen. Joe Gutch, der Gitarrist, der dem Interview ferngeblieben war, wurde zu Boden geschleudert und knallte mit dem Kopf voll gegen die Tür, was Peter Rüchel, der sich im Korridor aufhielt, im ersten Moment davon abhielt, sich in das Zimmer zu stürzen. Als er ihnen dann erklärt hatte, dass er sie nicht auf die Bühne lassen würde, wenn sie sich nicht zusammennähmen, folgte eins der besten Konzerte, die der Rockpalast je zustande gebracht hat - aber das ist eine andere Geschichte. Sie ist teilweise auf einer Maxi-Single verewigt, die kurz danach erschien und unter anderem Live-Versionen von Lou Reeds »Rock'n'Roll« und The Doors‘ »Soul Kitchen« sowie Teile aus dem, was später als »The Legendary Full Moon Concert« bekannt wurde, enthält.

      John Cales Vorstellung letzte Nacht hatte mit dem Mond wohl weniger zu tun, war aber mindestens ebenso legendär wie die von Mitch Ryder. Es war eins der eindrucksvollsten Konzerte, die ich je erlebt habe. Nie zuvor habe ich bessere Versionen von Elvis Presleys »Heartbreak Hotel« oder Lou Reeds »Waiting For The Man« gehört, auch nicht von John Cale selber. Gestern nacht sprach die Musik wirklich für sich selbst; sie machte mich im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, und manchmal schimmerte etwas durch, was über die Grenzen der Musik hinausging. Sie war wirklich transzendental. Die Intensität der Musik war ein direkter Ausdruck der Qualen, die sich in John Cales Vorstellung niederschlugen. Der Höhepunkt kam am Ende von »Waiting For The Man«. Während des ganzen Songs starrte mir Cale in die Augen, hielt mich mit seinem Blick gefangen und bedrohte mich mit jedem einzelnen seiner verrückten Gedanken. Ich saß ihm gegenüber, und da ich der einzige Mensch außer ihm im Studio war, blieb mir gar nichts anderes übrig, als zurückzustarren, als sein Spiegel zu fungieren - und wie zwei Spiegel, die sich gegenüberstehen, reflektierten wir uns tausendfach, und unsere Blicke lösten sich erst dann voneinander, als das Stück lange vorbei war. Es endete unter Tränen, besser gesagt, in Schluchzen. Ich weiß nicht, ob Cale tatsächlich weinte, denn nach dem letzten Akkord auf dem Flügel duckte er sich und verschwand hinter ihm, so dass ich ihn nicht länger sehen konnte. Die Musik hing noch immer in der Luft, und während sie allmählich verebbte, ließen auch die Schluchzer nach. Es war ein sehr unheimlicher Augenblick. Ich wusste nicht, ob das auch zu seiner Vorstellung gehörte. Ich wusste nicht, ob John Cale, wie vorher Patti Smith und Mitch Ryder, mich in Gefilde zu locken versuchte, in die ich mich noch nie zuvor getraut hatte.