Название | Nightflights |
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Автор произведения | Alan Bangs |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870202 |
An klaren Tagen konnte man bis zu einem Wall aus Eis sehen, der sich etwa hundert Meter entfernt vom Ufer gebildet hatte. Hinter ihm stürmte die Brandung gegen das Eis. Wenn die Wellen gegen den Wall prallten, brachen sie sich im Eis, wurden zurückgeschleudert oder lösten sich in Schaum auf - und die Gischt, die sich über der Masse des Wassers bildete, verwandelte sich in der eisigen Luft in kleine Kristalle, die wie Tausende von Diamanten auf die Erde zurückfielen. Sie prasselten auf die gefrorene Decke des Sees nieder und glitzerten in der Sonne. Die Studenten, die in der Bibliothek saßen und das Ganze beobachteten, bildeten sich ein, sie könnten trotz der Entfernung, der Musik und der dicken Glasscheibe vor ihrer Nase, das Eis bersten hören, und wenn die Sonne untergegangen war, kam der Bibliothekar, rüttelte sie aus dem Schlaf und schickte sie nach Hause, ehe er die Platten einsammelte, das Licht löschte und sich selber auf den Heimweg machte.
Die Fluten des Sees hielten ungeachtet der Tatsache, dass ihr Publikum sie verlassen hatte, an ihrer stetigen Verwandlung fest, Nacht für Nacht, wohl wissend um ihre Macht, jeden, der sie je gesehen hatte, zu berauschen. Ich selbst habe dieses Schauspiel nie gesehen, aber nachdem ich mir all diese Geschichten an einem heißen Sommernachmittag angehört habe, kommt es mir heute manchmal so vor, als hätte ich sie selber erlebt.
5. Februar: Night Flight mit John Cale oder: Eine seltsame Totenstille geht durch den Äther
Das erste Mal, dass ich John Cale live spielen sah, war im »Paradiso« in Amsterdam, irgendwann Mitte der siebziger Jahre. Damals machte er sich auf der Bühne über eine aufblasbare Puppe her und versuchte, sie mit einem Mikro zu vergewaltigen. Kurz danach sah ich ihn noch mal, diesmal im »The Venue« in London. Er trat mit einer weißen Fechtmaske, unter der sein Kopf mit einem langen weißen Schal umwickelt war, auf. Darunter blitzte ein Stück zerknitterte Aluminiumfolie hervor. Seitdem habe ich Cale noch mehrere Male live erlebt, und fast jeder seiner Auftritte ist mir stark im Gedächtnis haftengeblieben.
Eigenartigerweise kann ich das von seinen Platten nicht behaupten, obwohl ich keinen Schimmer habe, wieso. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, wo ich mich befand, als ich zum ersten Mal eine Platte von ihm hörte: Ich kann nicht mal sicher sagen, welches seiner Alben mich überhaupt auf seine Musik aufmerksam machte. Vieles spricht dafür, dass es »Paris 1919« war, und aller Wahrscheinlichkeit nach hat irgendwer sie mir damals vorgespielt, lange, ehe ich sie mir selber zulegte. Es ist aber auch genauso gut möglich, dass ich von alleine drüber gestolpert bin, fasziniert von dem Cover oder auch den Titeln der einzelnen Songs. Ich war schon immer ein fanatischer Leser, und die Tatsache, dass ein Song »Graham Greene« hieß, hat mich sicher neugierig gemacht, auch wenn ich damals nur Greenes Namen kannte und noch nichts von ihm gelesen hatte. Vor allem aber war es das Cover, das meine Aufmerksamkeit erregte.
Es zeigt fünf Fotos, eins vorne und vier auf der Rückseite. Auf jedem dieser Fotos trägt Cale einen weißen dreiteiligen Anzug und dazu eine weiße Krawatte. Auf der Vorderseite sitzt er in einem Korbstuhl und stützt den Kopf in die Hand. Sein Gesichtsausdruck ist trügerisch: Es kommt einem fast so vor, als sei er tief in Gedanken versunken, aber gleichzeitig scheint er jeden Moment loslachen zu wollen. Die vier Fotos auf der Rückseite sind da schon eindeutiger, obgleich die Diskrepanz zwischen dem, was er tut und dem, was er denkt, weiterbesteht. Auf dem ersten Foto steht er vor dem Fenster, auf dem zweiten fängt er an, nach rechts wegzukippen, auf dem dritten ist sein Kopf schon aus dem Bildrahmen verschwunden, und auf dem vierten sind nur noch seine Füße zu sehen. Auf dem ersten Foto sind seine Augen offen, auf dem zweiten geschlossen. Hinter ihm sieht man ein Fenster und hinter dem Fenster einen Garten. Sowohl das Zimmer als auch der Garten draußen sind von Sonnenlicht durchflutet. Beim Fallen macht er keine Anstalten, sich festzuhalten und auf dem letzten Foto, kurz bevor er endgültig auf dem Boden liegt, hat man freien Blick auf das Fenster. Was hat das alles zu bedeuten? Ich habe keine Ahnung: Das Ganze bringt mich einfach nur zum Lachen.
Es ist schon irgendwie komisch, dass ich mich nur so vage an diese Platte erinnern kann. Sie gefiel mir von Anfang an, aber es fällt mir schwer, sie mit einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort in Verbindung zu bringen. Sie erinnert mich an nichts, wenn ich sie höre, und ihre Existenz ist völlig unabhängig vom Erscheinungsjahr und so ganz anders als alle anderen Platten, die John Cale aufgenommen hat. Vielleicht ist das der Grund, warum er und seine Musik mich so sehr faszinieren: Beide sind äußerst schwer auszumachen, und beide sind nicht nur unzuverlässig, sondern auch unkalkulierbar.
John Cale tendiert zur Unberechenbarkeit. Er ist ganz und gar kein »sicherer« Interviewpartner. Egal, wieviel Mühe man aufwendet, um genau hinzuhören, man kommt manchmal einfach nicht dahinter, was er meint. Es ist schwer, seinen Gedanken zu folgen, weil er von einem Thema auf das andere kommt und Ideen auf die verrücktesten Arten miteinander kombiniert. Politik, nicht Musik, ist sein Lieblingsthema, wenn er sich mit einem hinsetzt, um zu reden. Er lebt seit fast zwanzig Jahren in New York City, einer traditionellen »Medienstadt«, und hat sich seine Meinung aus Zeitungen und Nachrichtensendungen gebildet, doch die Art, wie er sie dann vorbringt, ist wirklich einmalig.
Letzte Nacht war John Cale mein Gast bei Night Flight. Vor der Sendung gingen wir essen, und obwohl die ganze Band dabei war, kamen später nur John und seine Frau Rise mit ins Studio. Wir kamen erst eine halbe Stunde, ehe wir auf Sendung gingen, beim BFBS an und hatten deshalb wenig Zeit, irgend etwas zu besprechen. Eigentlich hatten wir sowieso bewusst darauf verzichtet, große Vorbereitungen zu treffen, in der Hoffnung, dass wir so spontaner miteinander umgehen würden. John hatte sich bereiterklärt, uns eine kleine Live-Vorstellung zu geben, obwohl er sich absolut keine Gedanken darüber gemacht hatte, welche Songs er bringen wollte.
Wie auch immer, vom rein technischen Standpunkt aus gesehen, war ein Mindestmaß an Vorbereitung unumgänglich, und deshalb stimmte John einem Soundcheck zu. Wir sagten ihm, dass wir alles aufzeichnen würden, damit er sich das Ganze hinterher anhören und uns sagen könnte, ob er mit der Tonqualität zufrieden sei. John ging ins Studio, setzte sich an den Flügel, klimperte uns zwei Songs vor und kam dann wieder in den Kontrollraum zurück. Er hörte sich das Band an und fand es gut. Dann bestand er darauf, die Aufnahme zu löschen. Er ließ sich auch nicht von seiner hartnäckigen Forderung abbringen, dass die Sendung nicht aufgezeichnet werden dürfe. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ihn theoretisch jeder aufzeichnen konnte, der die Sendung zufällig hörte, aber das beeindruckte ihn in keinster Weise. Ich schob das Band mit den beiden Songs also in den Apparat und löschte die Aufnahme. Damit war John aber immer noch nicht zufrieden. Er verlangte das Band: Es genüge nicht, die Aufnahme zu löschen, erklärte er, das Band müsse ordnungsgemäß zerstört werden. Er wickelte es von der Spule und warf es in den Papierkorb. Die Atmosphäre, die schon gespannt genug war, fing an zu knistern. Niemand konnte den Verlauf der nächsten Sendung voraussehen, und ich fing an, mir ernstlich Gedanken zu machen, was alles passieren könnte.
Ich verließ das Studio, in dem John am Piano saß und ging in den Nebenraum, wo ich normalerweise arbeite, um mit der Sendung zu beginnen. Als erstes spielte ich zwei Liebeslieder von Buddy Holly; eins - »Love Is Strange« - wurde erst nach seinem Tod fertiggestellt. Norman Petty, Hollys Produzent, mischte aus einem früheren Demotape, auf dem nur Gesang und Gitarre zu hören waren, einen neuen Song. Das zweite, »Learning the Game«, war eine Version von einem von Hollys größten Liebesliedern, hier in einer radikalen Neufassung von Andrew Gold. Während diese beiden Songs liefen, saß Cale im Studio hinter mir und wartete. Um ihn vorzustellen, spielte ich ein Stück aus seinem Album »Music For A New Society«, ein Stück, das unter den gegebenen Umständen (und vor allem im Rückblick) nicht nur angebracht, sondern auch geradezu prophetisch schien: »Taking Your Life In Your Hands«. Danach ging ich rüber zu ihm ins Studio One, ein Raum, der vor allem für Live-Aufnahmen benutzt wird. Hier gibt es weder Plattenspieler noch ein Mischpult. In einer Ecke steht ein Flügel und auf der gegenüberliegenden Seite ein Tisch mit vier Kopfhöreranschlüssen. Als ich reinkam, saß John am Flügel, ich ging zum Tisch und setzte mich hin. Wir waren etwa drei Meter voneinander entfernt.
Selbst jetzt, nur wenige Stunden nach der Sendung, fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, worüber wir