Deutsche Indianer. Denise Wheeler

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Название Deutsche Indianer
Автор произведения Denise Wheeler
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082283



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Tod gegangen, mit der Gewissheit, schon bald ihrem Schöpfer gegenüberzutreten.

      Die Herrnhuter Mission in Amerika hatte so ihre Märtyrer. Die deutschen Missionare begleiteten ihre „Indianergeschwister“ weiter auf ihrem langen Leidensweg, der sie in den folgenden Jahrzehnten von Ohio und Indiana bis nach Kanada und schließlich zurück nach Ohio führte, und der letztlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Reservation in Kansas endete. Wahrscheinlich liegt hier der Anfang der Legende von der besonderen, innigen Beziehung zwischen Deutschen und Indianern, die darauf beruht, dass sie ein vermeintlich ähnliches Schicksal verbindet.

Abbildung1

      Edle oder arme Wilde? Gedanken über das Leben des Indianers im Naturzustand

      Der edle Wilde ist eine Erfindung französischer Aufklärer. Im 18. Jahrhundert diente diese Figur vor allem dazu, gegen die absolutistische Herrschaft von Sonnenkönig Louis XIV. und Louis XV. zu protestieren und dennoch der Zensur zu entgehen. Den Anfang machte 1702 das Buch eines verarmten Landadligen, des Baron de Lahontan, mit dem Titel Reisen durch das mitternächtliche Amerika. Lahontan hatte gute Gründe, mit dem Absolutismus ins Gericht zu gehen. Nach dem frühen Tod seines Vaters hatte die französische Krone die Baronie seiner Familie wegen Erbstreitigkeiten und Überschuldung eingezogen. Somit mittellos, war Lahontan in die Armee eingetreten und mit 17 Jahren als Kolonialoffizier nach Neufrankreich gekommen. Fast zwei Jahrzehnte lang hielt er sich in Kanada auf, befehligte ein Fort in der Wildnis, unternahm ausgedehnte Jagdexpeditionen, beteiligte sich an Kriegszügen gegen die Irokesen und lernte ein paar Indianersprachen. Dann überwarf er sich mit seinem Vorgesetzten und desertierte. Die restlichen Jahre seines Lebens zog er von einem europäischen Fürstenhof zum nächsten und versuchte, die Rückgabe seines Familienbesitzes zu erstreiten. In dieser Zeit verfasste er sein Buch, dessen dritter Teil Gespräche mit einem Wilden zu einer der am meisten gelesenen Geheimschriften der Aufklärung wurde.

      Hier streitet ein Häuptling der Huronen namens Adario mit dem Autor darüber, wer glücklicher ist: die Wilden in Amerika oder die Zivilisierten in Frankreich. Dem Leser wird schnell klar, dass Adario die besseren Argumente hat. Er plädiert für ein selbstbestimmtes Leben in der Natur. Das sei viel vernünftiger als das Leben im zivilisierten Frankreich, wo die Menschen unfrei sind und sich vor der Obrigkeit erniedrigen müssten. Die europäische Zivilisation ist für Adario eine unbegreifliche Verirrung und Entartung. Das Christentum, sagt er, erziehe die Menschen zu Vorurteilen. Die Monarchie stelle die gottgewollte Gleichheit aller Menschen in Frage. Und die Justiz sei von Willkür und Korruption gekennzeichnet. Die Ursache für die schädlichen Leidenschaften wie Habgier und Neid und den daraus resultierenden Verbrechen sei das Privateigentum. Und deshalb, forderte Adario, gehöre es abgeschafft. Und Adel, Klerus und Händler dann gleich mit. Als Gegenmodell schlägt er eine Art primitiven Kommunismus vor: eine Gütergemeinschaft ohne Privateigentum, ohne soziale Hierarchie und ohne Arbeitsteilung, in der es brüderliche Hilfe aber keine Abhängigkeit gibt. Nur so könne man ein glückliches, weil selbstbestimmtes Leben führen. Geld, Macht und Abhängigkeit hingegen würden den Charakter verderben. Der edle Wilde ist ein sittlicher Mensch, weil er den Gesetzen der Natur folgt, und die sind nach Gottes Plan geordnet und vernünftig.

      Lahontans Attacken auf das Ancient Regime waren immens populär. Über zwanzig Editionen seines Buches wurden zwischen 1703 und 1741 herausgegeben, auf Französisch, Holländisch, Englisch und Deutsch. Kein Thema wurde im 18. Jahrhundert so heftig, leidenschaftlich und oft diskutiert wie das angeblich glückliche Leben der Wilden.

      Dass der edle Wilde in Frankreich ausgerechnet ein Hurone war, hat eine lange Vorgeschichte. So versuchten seit dem 17. Jahrhundert die Jesuiten die Huronen zu missionieren und schrieben in den Berichten an ihre Geldgeber in Rom und Paris viel Gutes über sie. Die Huronen schienen der christlichen Botschaft gegenüber aufgeschlossener zu sein als die wilden Irokesen, bei denen die Missionierung keine nennenswerten Fortschritte machte. Die Huronen erinnerten die Jesuiten, die in der Regel eine klassische Bildung genossen hatten, an antike Verhältnisse.7 Sie verglichen ihre Staatsform gern mit der frühen Kaiserzeit des Augustus. Die Huronen, so hieß es, bewegten sich mit der Gelassenheit und der Würde römischer Senatoren und die Reden, die sie bei ihren Beratungen hielten, standen den Reden Ciceros in nichts nach. Sie waren gastfreundlich und hielten sich gewissenhaft an einmal getroffene Abmachungen und an geschlossene Verträge. Obwohl es auch gewichtige Gegenstimmen gab, wie die des Jesuitenpaters Francois Lafitau, der 1724 versuchte, die von Lahontan aufgestellten Behauptungen über die Wilden in Amerikas Wäldern Punkt für Punkt zu widerlegen, so blieb der Hurone über ein Jahrhundert lang das Synonym für den edlen Wilden.

      Der bekannteste Hurone der deutschen Literatur findet sich in Gottfried Seumes Gedicht Der Wilde aus dem Jahr 1793. Es beginnt mit den Worten: „Ein Kanadier, der noch Europens/ Übertünchte Höflichkeit nicht kannte,/ Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,/ Von Kultur noch frey, im Busen fühlte“.8 Seumes Hurone kehrt eines Tages vom Markt zurück, wo er seine Jagdbeute verkauft hat, und wird von einem Unwetter überrascht. Er bittet am Haus eines weißen Pflanzers um Obdach, doch der herzlose Mann jagt ihn weg. Kurz darauf verirrt sich der Pflanzer auf der Jagd im Wald und findet schließlich die Hütte des Indianers. Dieser vergilt jedoch nicht Gleiches mit Gleichem, sondern er nimmt den Weißen als Gast für eine Nacht auf und bewirtet ihn reichlich. Am nächsten Morgen führt er ihn auf den rechten Weg zurück und gibt sich am Schluss zu erkennen: „Ruhig lächelnd sagte der Hurone:/ Seht, ihr fremden, klugen, weißen Leute/ Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen!/ Und schlug sich seitwärts in die Büsche“.9 Solch edle Indianer tauchen auch in Anekdoten als Vorbilder für tugendhaftes Verhalten in deutschen Familienzeitschriften wie Die Gartenlaube noch bis in die 1860er-Jahre auf.

      In Deutschland war der edle Wilde längst nicht so populär wie in Frankreich. Hier war man mehrheitlich der Ansicht, dass der Wilde gefährlich und grausam lebe und eher Mitleid verdiene als Bewunderung. Diese Ansicht äußerte zum Beispiel Friedrich Schiller 1789 in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Universalgeschichte an der Universität Jena. Die Wilden, so erklärte er, kennen weder Eisen noch Pflug. Sie hätten keine Ehegesetze, kein Eigentumsrecht und kein Bewusstsein für Tradition. Vor allem hätten sie keinen Sinn für das Höhere und Schöne. Überall bei den Randvölkern der Erde gebe es Krieg, Sklaverei, Dummheit und Aberglauben. Es sei geradezu die Pflicht der Zivilisierten, also der Europäer, die „armen Wilden“, die sich gewissermaßen noch auf der Kindheitsstufe der Menschheitsentwicklung befänden, zu sich hinaufzuziehen und sie auf ihrem Weg in die Zivilisation zu geleiten.10

      Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts konnte man leicht mit dem edlen Wilden argumentieren, denn er war ja nur eine Figur in einem philosophischen Disput gewesen. Über das wirkliche Leben der Eingeborenen wusste man nur sehr wenig und man interessierte sich auch nicht sonderlich dafür. Nun aber, im Rahmen der schnell voranschreitenden „Vermessung der Welt“, kamen mehr und mehr Reiseberichte auf den Markt, die den Leser mit handfesten Informationen versorgten. Und diese wiederum schienen die Ansicht Schillers zu stützen. 1789, im Jahr der Französischen Revolution, in dem Schiller seine Antrittsvorlesung gehalten hatte, erschien neben Loskiels Buch über die Delawaren auch die deutsche Übersetzung eines Berichtes, den der Amerikaner Jonathan Carver verfasst hatte. Er trug den Titel Reisen durch die inneren Gegenden von Nord-Amerika in den Jahren 1766, 1767 und 1768. Carver stammte aus Massachusetts und hatte in den Franzosen- und Indianerkriegen, wie der Siebenjährige Krieg in Amerika hieß, in der britischen Armee gekämpft. Drei Jahre nach Kriegsende nahm er als Kartenzeichner an einer Expedition teil, um die Regionen am Oberen Missouri und am Lake Superior zu erkunden, die Frankreich an das siegreiche England abtreten musste. Dort traf er auf Ojibwa-, Winnebago-, Sauk- und Fox-Indianer. Mit den Dakota verbrachte Carver fünf Monate im Winter 1767, während er darauf wartete, dass die Flüsse wieder auftauten und er weiterreisen konnte. Die Franzosen nannten die Dakota Naudowessioux, wovon sich die kürzere Bezeichnung Sioux ableitet. Carver beschrieb ihr Äußeres, ihre Lebensweise und ihre Kultur.

      Sein Bericht, den er zehn Jahre nach seiner Reise in London verfasste, und in den Texte anderer Autoren, unter anderem von Lahontan, eingeflossen sind, war in den nächsten hundert Jahren eines der