Название | Die 55 beliebtesten Krankheiten der Deutschen |
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Автор произведения | Hans Zippert |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870721 |
Ich antwortete: »Einen Polgar.«
Für einen Moment herrschte Schweigen, dann fragte meine Tochter: »Und was macht man mit dem Polgar?«
Ich griff nach dem Polgar und befühlte ihn von allen Seiten, dann öffnete ich ihn vorsichtig, schaute hinein und sagte: »Lesen.«
Wie bereits erwähnt, war es wirklich das erste Mal, dass ich im Supermarkt einen Polgar gekauft habe, aber ein alter Polgar ist qualitativ eine derartig hochwertige Ware, dass er selbst neben einem Stapel Melonen aus Spanien oder Kiwis aus Ungarn taufrisch wirkt. Ein Polgar gilt unter Kennern als ein vortreffliches Stärkungsmittel. Sie können Ihren Polgar natürlich auch in einer Buchhandlung kaufen. Allerdings gibt es da keinen frischen Lauch.
Tourette-Syndrom
Bevor ich als unamerikanischer Flugpassagier die Vereinigten Staaten betreten darf, muss ich die »Nonimmigrant Visa Waiver Arrival/Departure Form« in Großbuchstaben ausfüllen. Es ist ein sehr schmaler, engbedruckter Zettel, der einem schon optisch suggeriert, die USA seien eigentlich voll. Sie haben keinen Platz für größere Zettel, deshalb quetschen sie die kompliziertesten Fragen auf ein flugticketgroßes Papier. Als erstes möchte das amerikanische Justizministerium wissen, ob ich an einem meldepflichtigen körperlichen oder geistigen Gebrechen leide oder Drogen missbrauche. Gerne würde ich jetzt hinschreiben: »Kommt darauf an, wie Sie Drogenmissbrauch definieren«, doch man darf nur »YES« oder »NO« ankreuzen. Kein Mensch könnte diese Fragen so knapp beantworten. Die nächste Passage ist lang und kompliziert und es kommt das beunruhigende Wort »Trafficker« darin vor, über das ich lieber nicht nachdenken will, jedenfalls nicht, bevor ich die passenden Drogen dafür missbraucht habe. Es geht irgendwie darum, ob man jemals angehalten, ausgefragt oder verurteilt wurde oder die Absicht hätte, sich verhaften zu lassen. Am Ende steht nämlich die Frage: »Wollen Sie einreisen, um sich kriminell oder unmoralisch zu betätigen?«
Hat man mir etwa versehentlich das Formular für Michael Jackson ausgehändigt? Woher soll ich denn jetzt schon wissen, ob ich mich kriminell betätigen will? Sowas ergibt sich meistens im Laufe des Aufenthalts. Aber wenn man jetzt nur eine Frage mit »Ja« beantwortet, kann man sofort wieder zurückfliegen. Zum Glück ist die dritte Frage ganz einfach und verständlich formuliert, »Waren oder sind Sie beteiligt an Spionage- oder Sabotageakten; oder terroristischen Aktivitäten oder Massenmorden; oder waren Sie zwischen 1933 und 45 an Verbrechen beteiligt, die mit Nazi-Deutschland oder seinen Verbündeten zu tun hatten?« Was würde Günter Grass jetzt tun? Würde er lügen, nur um einmal das Empire State Building zu sehen? Wie kann ich sichergehen, dass ich nicht doch als Stasi-Spitzel gearbeitet habe, ohne es zu wissen? Und sind meine Texte möglicherweise nichts als ein einziger Sabotageakt gegen eine bessere Welt? An Nazi-Verbrechen war ich meines Wissens nicht beteiligt, aber woher soll ich wissen, ob ich nicht in einem früheren Leben Propagandaminister war. Zählt das auch? Ich lüge und antworte mit »No«.
Dann wollen die Behörden noch erfahren, ob ich mir jemals auf betrügerische Weise Zutritt zu den Vereinigten Staaten verschaffen wollte oder dabei erwischt wurde. Naja, genau genommen, bin ich ja gerade dabei, mir auf betrügerische Weise Zutritt zu den Vereinigten Staaten zu verschaffen und ich hoffe natürlich, dass ich dabei nicht erwischt werde. Dieser Fragebogen zwingt einen harmlosen Touristen ja regelrecht, zum Verbrecher zu werden. Allerdings hat er auch etwas Rührendes und zeigt, dass die Amerikaner ziemlich kindlichen Vorstellungen von Gut und Böse nachhängen. Sie gehen einerseits davon aus, dass hauptsächlich Kriminelle, Spione und ehemalige Nazis in die USA einreisen wollen, gleichzeitig scheint das Justizministerium aber fest an eine Welt zu glauben, in der alle Menschen immer die Wahrheit sagen, jedenfalls alle Nichtamerikaner. Denn wenn man etwas Falsches ankreuzt und ein Verbrechen nicht gesteht, macht man sich doppelt strafbar. Funktioniert bestimmt, denn das Problem bei Mohammed Atta, dem Attentäter vom 11. September, und seinen Komplizen war ja, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, ihre Fragebögen abzugeben.
Man sollte diese Befragungen auch bei uns und am besten sogar auf jedem Inlandflug durchführen, dann wäre Deutschland bald ein Land ohne jedes Verbrechen – wie die USA. Natürlich müssten unsere Fragen etwas anders lauten: »Waren oder sind Sie als Hassprediger tätig? Haben Sie vor, dem Finanzamt falsche Angaben zu machen?« Und vor allem: »Planen Sie bei Ihrer Ankunft, den Müll nicht zu trennen oder waren Sie jemals in Aktivitäten verwickelt, in deren Verlauf eine Mülltrennung sabotiert wurde?«
Passivität
Kürzlich hielt ich im Supermarkt eine Packung in der Hand, die mir sehr zu denken gab. Ich brauchte den Inhalt, um eine Sauce zu verlängern, eine Sauce, für die ich Zwiebeln, Tomaten, Paprika und frischen Basilikum vermischt hatte. Ich betrachtete verwirrt die Aufschrift der rechteckigen Packung und da stand »Passierte Tomaten«. Nicht besonders groß, nicht unglaublich auffällig, aber eben doch deutlich lesbar: »Passierte Tomaten«. Erstaunlich, dass solche Dinge im Supermarkt verkauft werden. Gehört eigentlich eher in einen Buchladen: »Passierte Tomaten« von Walter Kempowski. Vielleicht auch von Peter Handke. Am ehesten ein Gedichtband von Sarah Kirsch. Oder ein Familienroman von Jonathan Franzen. Originatitel »Tomatoes that had happened«. Könnte man aber auch in einem Museum für moderne Kunst finden: »Passierte Tomaten«, Installation von Klaus M. Schwerkenbäumer, Bronze auf Eisendraht, 2007. Ich hatte jedoch weder in der Buchhandlung noch im Museum eingekauft, sondern im Plus-Markt. Da gab es diese »Passierte Tomaten« in der BioBio-Edition. Aber wie können Tomaten passieren? Unglücke passieren, Unfälle, Malheure. Oft, sehr oft, passiert ES. Oder man passiert Hildesheim auf der Fahrt nach Braunschweig. Aber Tomaten? Ist das möglich? Gibt es Tomaten in der Leidensform?
Vielleicht handelt es sich um einen neuen Trend und man findet bald eine richtig große Passivabteilung in jedem Verbrauchermarkt. Da kann man dann »Geknackte Haselnüsse«, »Geriebenen Käse«, »Verflüssigte Orangen« kaufen. Nicht unbedingt empfehlenswert sind »Gebrauchte Paprika«. Für Diätwillige gibt es dann noch »Gewesene Nougatschokolade« in der leeren 100gr. Packung. Kein Produkt ist aber so lyrisch, strahlt einen solchen rätselhaften Zauber aus wie die passierten Tomaten. Und das beste: Obwohl sie schon passiert waren, konnte ich sie ohne weiteres für die Sauce verwenden. Die Tomaten waren also sogar wiederpassierbar.
Die vergleichende Beobachtung passierter Tomaten zählt zu den Königsdisziplinen der Linguistik, kann aber auch zu Schlafstörungen führen.
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