Название | Die Abenteuer der Missis Jö |
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Автор произведения | Friedhelm Kändler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870929 |
Der Putz um den Türbogen war weg geschlagen, rotes Mauerwerk rahmte die Tür. Schwere Leuchter standen an den Seiten, mit schwarzen Kerzen darin, die müde flackerten, elektrisch. Zur Linken reihte sich eine Galerie Hausschuhe in allen Größen, es war auch ein Paar dabei, das Pierre gepasst hätte. Das Schild neben der Tür war nicht lesbar, zumindest nicht für Pierre. Kyrillische Schrift, vermutete er.
Die Wohnungstür der Missis Jö? Eine Tür, geeignet in die Halle eines Schlosses zu führen, statt in eine Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses.
Pierre entschied, die Treppe weiter hoch zu steigen. Sie mochte zum Dachboden führen, er wollte nachsehen. Die Frau hatte aus dem obersten Fenster gewunken.
Nun wurde es wirklich unheimlich. Es gab einen vierten Stock, er war tapeziert, mit einer Rosentapete!
Allerdings nur zum Teil. Weil die Tapete nicht gereicht hatte? Oder die Arbeit wurde abgebrochen, als auf halber Strecke sichtbar wurde, wohin sie führte.
Abgebrochen aus Gründen ästhetischer Vernunft. Vor Jahren, die Tapete war alt, sie hatte ihre guten Tage hinter sich. Weiße Flecken zeugten von ehemaligen Bildern, einzig eine Kuckucksuhr hatte überlebt, hing an der Wand, nein... Kein Ticken, keine Zeiger. Sie hatte nicht überlebt. Aber der Kuckuck war draußen, ein Glück! Wer möchte in einer Uhr wohnen, die sich niemals öffnet, weil die volle Stunde gekommen ist?
Aber so, befand Pierre, so war es gnädig.
Er nahm die letzten Stufen. Zwei Türen, die linke besaß eine Katzenklappe. Die rechte Tür stand halboffen. Es gab kein Namensschild, aber eine Klingel. Pierre überlegte sie zu nutzen, dann aber wollte er erst einmal sehen, worauf er sich einließ. Vorsichtig schob er den Kopf vor, lugte in die Wohnung, erblickte am Ende des Flurs einen Kopf, der so wie er um die Ecke lugte.
»Das ist wunderbar, dass Sie nicht klingeln«, sagte der Kopf, »ich bin doch so furchtbar schreckhaft.«
Es war eine Frau, geschätzte fünfzig Jahre alt, mit lebhaften Augen und einem Lockenkopf. Nun trat sie in den Flur, klein und schlank, gekleidet in einem schrecklichen Jogging Anzug, helles Grau, die Sorte, die von Bequemlichkeit erzählt, ohne Rücksicht auf mögliche Betrachter. An den Händen trug sie dicke Handschuhe, zwei Krokodile, die wohl als Topflappen dienten. Sie winkte Pierre mit dem einen Krokodil, freute sich: »Kommen Sie in die Küche, ich hab gerade frei.«
»Guten Tag«, antwortete Pierre.
»Kommen Sie!« Die Frau ging Pierre entgegen, dann drehte sie um, es sah aus wie ein fröhlicher Tanz, lief zurück. »Das ist, weil ich Ahnungen habe«, plauderte sie ohne Rücksicht, ob Pierre folgte, »deswegen hasse ich es, wenn es klingelt. Ich tue alles, um zu vermeiden, dass es dazu kommt. Wissen Sie, ich ahne das vorher, und dass ich mich erschrecke, das ist, weil ich wieder recht hatte, es ist wirklich ein Fluch. Möchten Sie Ahnungen haben, die immer funktionieren? Aber ich wusste gleich, heute kommt einer, der klingelt nicht!«
Pierre betrat den Flur, vorsichtig schaute er sich um. »Nur zu«, rief die Frau, »wir haben keinen Hund. Und das mit meinem sogenannten Sohn, das ist ein Gerücht.«
»Nun gut«, murmelte Pierre, mehr zu sich selbst. Er steuerte den Flur entlang zur Küche. »Natürlich ist da auch was dran«, redete die Frau, »aber es ist völliger Quatsch, dass er beißt!«
Pierre mochte die Küche. Sie bot viel Platz, zeigte Eigenwillen, besaß einen alten Herd, der von Zeit und Wärme erzählte, daneben Regale, eine Spüle, ebenfalls aus vergangener Zeit, Hängeschränke, jeder anders, in der Ecke stand ein Spiegel mit Goldrahmen, mannsgroß, dass sogar Pierre sich hätte vollständig sehen können, wäre die Spiegelfläche geputzt. So aber zeigte sie nur einen Rest Pierre, eine Ahnung Mensch hinter Staub. Es gab einen großen Holztisch mit drei Stühlen, ein Puzzle lag auf dem Tisch, erste Stücke hatten zueinander gefunden, die meisten lagen noch in ihrer Schachtel. Ein riesiger, reich verzierter Kleiderschrank bedeckte fast die gesamte Wand auf der anderen Seite der Küchenfront. Auf ihm lagen Papierrollen und Bücher, in einer Höhe, unerreichbar für die kleine Frau, die nun mit blitzenden Augen vor Pierre stand und sich freute.
»Sie haben gut Platz hier«, bemerkte Pierre.
»Ja«, nickte Missis Jö. »Und wer hätte gedacht, dass Sie so groß sind. Das ist ja wunderbar, da haben Sie ja auch viel Platz.«
»Ich?«
»Na ja, wer ist hier groß?«
»Wofür hab ich Platz?«
»Was für eine Frage!« lachte Missis Jö. »Wozu sind die Menschen groß? Damit sie mehr essen können, sie können viel länger genießen. Und für Veränderung, dafür. Alle Veränderung benötigt Platz, das wird zu häufig vergessen.«
»Aber es ist schwieriger, Schuhe in meiner Größe zu finden«, bemerkte Pierre.
Missis Jö war einverstanden. »Natürlich. Es geht ja auch nicht, dass alles nur von Vorteil ist. Ich zum Beispiel bin klein. Also kann ich besser ausweichen. Aber das macht auch nicht immer glücklich.«
Pierre nickte. »Jeder nach seiner Art«, sagte er.
Missis Jö zog die Topflappen aus. »Dann höre ich mal mit dem Puzzle auf«, beschloss sie. Sie strahlte zum Postboten. »Ohne Behinderung kann das jeder, deswegen mache ich es mir gern etwas schwerer.« Sie wischte die wenigen, bereits zueinander gefügten Puzzleteile zu den anderen in der Schachtel, räumte sie fort. »Aber jetzt setzen Sie sich, dann können wir reden. Was bin ich froh, dass Sie nicht geklingelt haben! Das macht der Sonnenbein nämlich, jedes Mal. Als ob ich etwas gegen ihn habe.«
Pierre stellte fest, dass er in der Küche der Missis Jö stand. Ohne Grund. Es gab keinen Brief, keine Rechnung, nur die Mahnung des Sonnenbein, dass niemand Missis Jö entkommen könne. Darum war er also zu ihr hochgestiegen, erschöpft, vom Leben gebeutelt und todmüde wie er war?
Er setzte sich, sagte: »Aber ich habe keine Post.«
»Natürlich nicht, wer soll mir auch schreiben? Es ist doch alles in Ordnung.« Sie setzte sich ebenfalls. »Sie sind die Post, das muss reichen. Und es ist besser als ich gedacht habe.«
»Wie meinen sie das?«
»Na ja, wenn jetzt einer gekommen wäre wie das letzte Mal, als der Sonnenbein in Urlaub war, mit dem war ja gar nichts anzufangen. Der wollte immer nur erzählen, der konnte reden, also, dagegen bin ich ein Wasserfall.«
»Hä?«
Missis Jö grinste. »Er hat es versucht, aber ich habe gewonnen.«
Pierre riss sich zusammen. Er fühlte sich wohl, aber am falschen Ort. Er hätte ohne Schwierigkeiten umfallen können und schlafen.
Missis Jö lächelte. Sie legte den Kopf schief, schaute Pierre an wie ein kleines Wunder, dann sagte sie mit sanfter Stimme: »Es ist gut, dass du nach Hause gekommen bist.«
»Was?«
»Ach, ich bin aber auch immer so plötzlich.« Missis Jö stand auf, ging zum Herd. »Frühstück?«, fragte sie.
Pierre hing noch ihren Worten nach. Hatte die Frau wirklich gesagt, dass es gut sei, dass er, Pierre, nach Hause gekommen sei? Er beschloss, auf sich acht zu geben. In verrückter Gesellschaft ist es wichtig, normal zu bleiben. Man soll nicht mit Kindern in Kindersprache reden, mit Zugereisten in gebrochenem Deutsch, man soll bei sich bleiben. Besonders wenn man ein Diplom hat, das niemand braucht.
»Einen Kaffee würde ich nehmen«, sagte er. »Das ist prima«, freute sich Missis Jö, »ich mag es nicht, wenn die Leute nein sagen, aber in Wirklichkeit würden sie gerne.«
Pierre verstand. Es war eine Anspielung. Die Frau war verrückt, aber nicht dumm.
»Ach, Herr Je!« Missis Jö sah sich um, als suche sie etwas. »Jetzt ist die Milch bei Mutter, ich bin aber auch unaufmerksam.« Sie ging zum Kleiderschrank, klopfte an, rief: »Kann ich die Milch wieder haben?« Der Schank antwortete nicht. Missis Jö schüttelte