Название | Die Abenteuer der Missis Jö |
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Автор произведения | Friedhelm Kändler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870929 |
Die Frau war wieder zu sehen. Sie wuchtete einen Korb über die Fensterbank, ließ ihn an einem Seil herunter. »Alles wird gut«, rief sie. Pierre vermutete, dass er die Post, die er nicht besaß, in den Korb legen sollte. »Sie bekommt so gut wie nie Post«, erinnerte er die Worte Sonnenbeins, »aber sie ist ganz wild darauf.«
Vorsichtig näherte sich Pierre. Der Korb erreichte seine Augenhöhe. Lucky knurrte. Im Korb lag eine dicke Fleischwurst, sie dampfte. Daneben eine Semmel, ein Ei, eine kleine Flasche Saft und... Es roch nach Kaffee! Ein Pappbecher, geschlossen, aufgestellt im Korb, in der Mitte, zentral, bedeutend und verführerisch. Dazu eingepackter Zucker, Kondensmilch und – richtige Milch! Vollmilch, halbfett, die Frau war eine Wissende, ja!
»Huhu!«, winkte es erneut von oben.
Jetzt wusste Pierre, warum ihn die Sonnenbeins derart gefüttert hatten. Damit er Widerstandskräfte besaß! Auch die Sonnenbeins waren Wissende, würdige Gegner, nun war es klar! Er, Pierre, war das Opfer im Kampf zweier Parteien, einer noch unbekannten Missis Jö, jener Frau, die oben aus dem Fenster hing, und eines Postboten mit Gattin, die von Anfang an Pierres Schwächen erkannt hatten: Wurstsemmel und Kaffee!
Wobei Missis Jö präziser war, bei den Sonnenbeins hatte es Gebäck, dann Schnittchen und Suppe gegeben, zweite Wahl. Doch darum hatten sie ihn abgefüllt! Damit er seinen Widerstand zeigen konnte, damit er satt und gewappnet war!
»Nehmen Sie den Korb ruhig mit«, schrie es von oben, »und bringen Sie ihn später hoch, keine Sorge!«
Pierre nahm alle Kraft zusammen. »Danke«, rief er zurück, »vielen Dank, aber jetzt nicht.« Dann drehte er, als gäbe es weder den Korb noch Luckys Entsetzen, und ging, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, die Straße zurück, ohne Eile, ohne Wurstsemmel und Kaffee, scheinbar unbekümmert. Es verlangte alle Kraft. Aber es wäre schlimmer gewesen, hätte Pierre zugegriffen. Oder...?
Nein, kein Zögern. Weiter gehen.
Ein Mann benötigt Stolz, auch wenn er ihn längst aufgegeben hat, aus Gründen, die nur eine Uschi kennt und vielleicht noch dieser und jener Dozent, egal. Große Aufforderungen gebären große Taten! So absurd es auch sein mochte, Pierre behielt den Plan des Sonnenbein bei, es gab ihm das Gefühl, zumindest ein wenig mehr als ein Niemand zu sein, ein Niemand mit Diplom und pleite, aber mit Stolz! Pierre ging seinen Weg, den des Sonnenbein, und es erfüllte ihn, gab ihm zurück, was er meinte schon lange nicht mehr zu besitzen:
Freiheit, Eigensinn, Größe!
Er bog um die Ecke und als sei nichts geschehen, begann er die letzten Briefe in Postkästen einzuwerfen, Rechnungen, böse Zahlungsaufforderungen, Werbung, sogar eine Postkarte war dabei, ein Urlaubsgruß!
Dann ging es zurück in die Besenstraße. Nun von der anderen Seite.
Vorsichtig trat er an den Rand des Bürgersteigs, um zum Fenster der Missis Jö hoch zu schauen. Niemand zu sehen, gut. Nur noch wenige Häuser. Keine Zwischenfälle. Dann das vorletzte Haus... Pierre verteilte die Post in die Briefkästen, wenige Briefe blieben über, die letzten Briefe für die 13, nur noch sie einwerfen, dann hoch zu Missis Jö, zum Schluss...
Warum...?
Es war eine Anweisung des Sonnenbein, aber es gab keinen Grund, kein Brief, keine Rechnung oder Ähnliches. Pierre kontrollierte die Post, ein weiteres Mal. Keine Post für Missis Jö – so wie es der Sonnenbein vorausgesagt hatte. Und er, Pierre, war eine Aushilfe, nicht mehr. Die Arbeit war erledigt.
Pierre überkam das Elend. Ohne Ankündigung. Ein mächtiges Elend, mit schwarzem Bart und Löchern in den Strümpfen. Seine Knie wurden weich. Pierres Kraft hatte gereicht, den Korb zu verweigern, die Briefe weiter auszuteilen, einmal um den Block herum...
Ihm wurde schwindelig. Er griff nach dem Treppengeländer, kleine Funken tanzten vor seinen Augen. »Einen Moment Ruhe, ich bin völlig überdreht, ich brauche Ruhe.« Er atmete schwer, kämpfte sich vor, sank auf die Stufen der Haustreppe. »Verdammt«, murmelte er, »was ist das?« Auch Lucky war schlecht. Pierre spürte den Reiz sich zu übergeben, es kam aber nur ein Aufstoßen dabei heraus. »Psychisch«, befand er, »es ist psychisch. Wir sind am Ende. Wir haben gesiegt, aber nur ein Gefecht, nicht den Krieg, ja – es ist nur aufgeschoben. Der nächste Korb, der haut uns um.«
Pierre entschied, noch etwas sitzen zu bleiben.
»Weißt du, Lucky«, flüsterte er, »wir zwei sind ziemlich allein. Und weißt du, wann man das merkt? Wenn man mal nicht allein ist, dann.« Lucky schwieg. »Wir waren einfach zu lange nicht mehr im Leben drin«, erklärte Pierre, »das ist es. Das ist wie ein großer, schwarzer Bart. Du versteckst dich dahinter, aber mach ihn mal ab und guck, wie du aussiehst! Das kann dann noch schlimmer sein.«
Stille.
»Ja, du hast recht. Ich drehe durch. Und ich hätte den Korb nehmen sollen. Das war bestimmt ein Kaffee, so wie er sein muss! Die Frau ist eine Wissende, also kann sie Kaffee aufbrühen, oder? Ich mach ziemlich viel verkehrt, besonders wenn ich denke, dass ich grad mal großartig bin.«
Wieder Stille.
»Wie hältst du das aus mit mir?«
Keine Antwort.
»Komm, wir gehen, Wir lernen sie mal kennen, diese Missis Jö. Ich bin völlig kaputt, aber...« Pierre erhob sich. »Ich habe keine Lust, dass wir nach Hause gehen und ich habe es nicht getan.« Er ging zur Tür, trat auf die Straße. Dann, stolz und müde, näherte er sich dem Hauseingang, dem letzten an seinem ersten Vertretungstag.
Besenstraße 13. »Sie ist also eine Hexe?«, murmelte Pierre. »Na, mal sehen.«
* * *
Missis Jö
Die Haustür war nur angelehnt. Pierre trat in einen geräumigen Flur mit hoher Decke, das Haus war alt, stammte aus einer Zeit, in der Menschen noch größer waren. Und sei es nur innen.
Ein Kinderwagen und ein Rollator parkten hintereinander, in der richtigen Reihenfolge. Der Rollator besaß eine Hupe. Sie lockte, doch Pierre hielt sich zurück. Neben den Briefkästen stand eine einsame Topfpflanze, raumgreifender Farn. Pierre musste die Blätter zur Seite streifen. Er verteilte die letzten Briefe in die Postkästen, dann überlegte er, zurück vor die Tür zu gehen und zu klingeln.
Er entschied sich dagegen, begann den Aufstieg. Eine kurze Treppe führte zum Erdgeschoss, zwei Wohnungstüren, neben der rechten Tür stand ein bunter Marterpfahl in Kindergröße. Auf halber Treppe darüber wachte ein Gipsengel, die Art, die auf Friedhöfen trauert. Er schaute aus dem Flurfenster, in den Hof. Pierre hielt an, folgte seinem Blick, sah gewöhnliche Welt hinter den Häusern, mit abgestellten Fahrrädern, Mülltonnen, ein kleiner Sandkasten ohne Kind.
Er stieg weiter, vorbei an einer Rembrandt-Kopie im aufwändigen Rahmen. Der Mann mit dem Goldhelm, und mit aufgemalter Sonnenbrille. Daneben klebte ein Starschnitt mit fehlendem Bein, irgendein junger Sänger.
Erster Stock, nun gab es drei Wohnungstüren statt der zwei im Erdgeschoss, neben der mittleren prangte eine Messingtafel mit eingestanzten Großbuchstaben: LIEBE – darunter stand: »Mittwoch, 14.00 bis 16.00 h«.
Kleine Stoffpuppen mit starren Knopfaugen säumten die Treppe zum nächsten Geschoss, eine diente wohl als Nadelkissen. Vor dem Fenster auf halber Höhe stand ein Aquarium, mit unsterblichen Fischen darin, bunte Plastikfische. Eine Katze, schneeweiß und groß, hockte davor, betrachtete die Ewigkeit. Sie drehte den Kopf, schaute zu Pierre, beschwerte sich mit einem lauten, klagenden Ton. Pierre näherte sich. Die Katze zeigte einen Buckel, sie fauchte, floh die Treppe hoch.
Zweiter Stock, der Geruch von Bohnerwachs wurde stärker, dazu... Das Bohnerwachs war angemischt mit Sauerkraut. Hinter einer der Türen wurde gekocht.
Und weiter...
Es wurde dunkler, das Fenster auf dem Sockel zum dritten Stock war verhängt. Ein Plakat forderte