Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

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Название Herbst der Vergeltung
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895546



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fragte Birgitta.

      »Beide«, antwortete Leila und lachte.

      Sie tranken, Birgitta öffnete das Küchenfenster einen Spalt, sie zündeten sich jede eine Zigarette an und versuchten, den Rauch zum Fenster zu blasen.

      »Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?«, fragte Leila.

      »Ich hatte meine Kopfschmerzen«, antwortete Birgitta, »und da ist mir so schwindelig geworden, dass ich im Bad über die Badematte gestolpert und gegen das Waschbecken gefallen bin.«

      »Genau wie mit der Küchentür«, sagte Leila.

      »Wie?«

      »Sonst ist es immer die Küchentür, gegen die sie laufen. Oder die Treppe, die sie runterfallen.«

      »Wer?«

      »Die Mädels, die verprügelt werden.«

      »Aber ich bin ja gestürzt.«

      »Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich weiß Bescheid, und ich hab‘ schließlich früher schon mal gefragt. Erinnerst du dich?«

      »Ja, ich kann mich erinnern.«

      »Ich hab‘ es selbst schon mal erlebt, ich weiß, wovon ich rede.«

      Birgitta saß stumm da, zündete sich noch eine Zigarette an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

      »Sprich endlich darüber«, sagte Leila, »es ist viel besser, wenn du darüber sprichst, mir kannst du vertrauen, ich erzähle nichts weiter.«

      »Es ist ... es ist«, versuchte Birgitta, »es ist ... oder ...«

      Weiter kam sie nicht. Es fühlte sich an, als würde sie anfangen zu weinen, aber es kamen keine Tränen. Stattdessen wurde der Schmerz im Bauch stärker und auch in der Brust tat es weh. Sie konnte nicht ausmachen, ob der Bauch am meisten schmerzte oder ob es ihre Trauer war, die jetzt hervorbrach. Alles floss zusammen, es war wie ein Krampf im Körper. Sie starrte vor sich hin.

      »Erzähl es mir«, sagte Leila, »jetzt oder ein anderes Mal, aber du musst es erzählen, sonst gehst du kaputt.«

      Da fing Birgitta an zu weinen. Erst langsam und leise, aber dann immer heftiger. Sie versuchte, die Hände vor Augen und Mund zu pressen, um die Schluchzer zurückzuhalten, aber die Tränen flossen zwischen ihren Fingern hindurch, und ihre Nase schniefte, die Trauer wurde übermächtig. Das Weinen steigerte sich und wurde zu einem gedämpften und langgezogenen Schrei lang unterdrückter Verzweiflung.

      Ihre Söhne wachten auf. Sie lagen still in ihren Betten, sagten nichts zueinander. Sie versuchten, die Laute zu dämpfen, indem sie ihre Kissen auf die Ohren drückten. Das hatten sie vorher schon gemacht, aber da waren es Schläge gewesen, die sie gehört hatten, Poltern auf dem Boden und der Zorn des Vaters. Das hier war etwas anderes.

      Langsam erstarb das Weinen. Die Jungen lagen trotzdem noch eine Weile wach, bevor sie wieder einschliefen.

      Leila hielt die Hand ihrer Freundin. Jetzt lockerte sie langsam ihren Griff, goss Wein nach, schob Birgitta das Glas herüber.

      »Ich habe das alles schon lange gewusst«, sagte sie.

      »Wie lange?«, schniefte Birgitta.

      »Lange.«

      »Wie hast du es herausgefunden?«

      »Ich sagte ja schon, dass ich es wusste, weil ich so etwas selbst kenne.«

      »Hat dich auch jemand geschlagen?«

      »Ja, davon reden wir ja schließlich, oder?«

      »Kannst du mir davon erzählen? Also, ich meine, natürlich nur, wenn du willst.«

      »Ich habe für einige Jahre mit einem Typen zusammen gelebt, erst war er nett, ein echt netter Kerl, aber er veränderte sich und fing an mich zu kontrollieren, ließ mich nirgends mehr allein hingehen, denn er war absolut eifersüchtig. Dann schlug er mich einige Male, bis ich schließlich Schluss machen wollte. Das akzeptierte er nicht und wurde dann erst richtig gewalttätig. Ich zog aus, wir waren schließlich nicht verheiratet und hatten keine Kinder. Aber er suchte nach mir. Ich zog wieder um, aber er bekam immer heraus, wo ich wohnte. Und er schlug mich wieder, auf die übelste Weise. Ich musste mich verstecken, er nahm mir praktisch mein Leben weg, ich saß nur herum und zitterte hinter zugezogenen Vorhängen in irgendeinem Versteck.«

      »Du brauchst nicht weiterzuerzählen.«

      »Doch, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen. Zu guter Letzt verschwand er, er hat wohl eine andere gefunden, die er terrorisieren konnte, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich schon eine Menge Hass auf dieses verdammte Arschloch entwickelt, ich lief herum und malte mir unterschiedliche Methoden aus, wie ich ihn wohl töten konnte. Und obwohl ich eigentlich froh war, dass er verschwunden war, konnte ich nicht aufhören, ihn zu hassen. Er war LKW-Fahrer, und noch immer hoffe ich jedesmal, wenn ich in der Zeitung etwas von einem Autounfall lese, dass er es war, der dort gestorben ist. Besonders wenn es ein richtig schlimmer Unfall war, ein Brand zum Beispiel, wo jemand langsam gestorben ist, hoffe ich darauf. LKW-Unfälle lese ich immer mit dem größten Vergnügen. Und als die Estonia sank, dachte ich, dass er vielleicht an Bord war, man weiß ja nie, LKWs fahren ja oft ins Ausland. Manchmal sind Unfälle das einzige, was mich interessiert. Es ist sogar schon vorgekommen, dass ich in die Stadtbücherei gegangen bin und Massen von Tageszeitungen durchgeblättert habe, nur um alle schlimmen Unfälle mitzubekommen. Und immer denke ich dasselbe, hoffentlich ist es dieser verfluchte Mistkerl, ich hoffe, dass er verbrannt ist, in Stücke gerissen, langsam gestorben ist. Ich ergötze mich an Unfällen, kann kaum genug davon kriegen. Er hat mich kaputt gemacht.«

      »Himmel, Leila.«

      »Hm, es ist furchtbar, aber ich weiß, wie es dir ergeht, und ich habe es die ganze Zeit über mitgekriegt, von Anfang an, seit ich eingezogen bin. Warum verlässt du den Kerl nicht?«

      »Ich kann nicht, nicht jetzt, wir haben ja schließlich die Jungs, und er ist ja schließlich nicht immer so, ich hoffe, dass er sich ändern wird, dass er wieder so wird wie in der ersten Zeit, als wir zusammen waren.«

      »Aber er ändert sich nicht.«

      »Wie kannst du das wissen?«

      »Ich weiß es, weil es so ist.«

      »Aber ich hoffe es trotzdem.«

      »Das tun all die, die ausgenutzt werden, das sage ich dir.« Sie tranken ihren Wein aus, rauchten weiter, trennten sich gegen halb zwölf. Birgitta schaute bei den Jungen hinein, lauschte eine Weile, hörte, dass sie schliefen und hoffte, dass sie sie nicht gestört hatten. Als sie unter ihre Decke kroch, kamen die Bauchschmerzen wieder.

      11.

      Donnerstagnachmittag in der dritten Augustwoche änderte sich das Wetter innerhalb einer Stunde. Am Morgen hatte es geregnet, es war kühl und windig gewesen. Der Regen hörte zwar um die Mittagszeit auf, aber die Kälte und der Wind blieben. Als die Turmglocke der Hedvig-Eleonora-Kirche drei schlug, waren es elf Grad und der Himmel dunkelgrau.

      Um viertel vor vier schien die Sonne, um halb fünf waren es dann fünfzehn Grad in Stockholm.

      Der Mann, der mit einer Einkaufstüte in der rechten Hand aus der Östermalmshalle kam, hatte gerade den halben Marktplatz überquert, als er stehen blieb. Er stellte die Tüte ab und sah zur Kirche hinüber. Dann knöpfte er den Mantel auf, steckte seine Kappe in die Manteltasche und öffnete den obersten Hemdknopf, bevor er weiterging. Sein Mantel war dunkelgrau, die Mütze, die er in die Tasche gestopft hatte, war dezent gemustert. Jetzt, da er keine Kopfbedeckung mehr aufhatte, sah man seine kahle Stirn. Über den Ohren und im Nacken hatte der Mann kurzgeschnittenes, blondes Haar.

      Auf dem Platz waren viele Leute in Bewegung. Der glatzköpfige Mann mit der Einkaufstüte ging an einigen Verkaufsständen vorbei, ohne stehenzubleiben. Er ging zur Sibyllegata, um die Straßenecke, wo der Eingang zur U-Bahn liegt.

      Gerade als er um die Ecke gebogen und die ersten Treppenstufen nach unten gegangen war, trat ein anderer