Die Hexen von Kamen. Roswitha Koert

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Название Die Hexen von Kamen
Автор произведения Roswitha Koert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672313



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liefen die Tränen über’s Gesicht, als er sich von Wilma verabschiedete. Wilma schien das nicht sonderlich zu beeindrucken, eher schon der Silbertaler, den Anton ihr für ihre Hilfe gab.

      Maria wachte erst mitten in der Nacht wieder auf. Anton saß seit Stunden an ihrem Bett und betrachtete das weiße, schmale Gesicht seiner schlafenden Frau.

      „Es ist tot, Anton. Unser Kind ist tot. Es war ein Mädchen.“

      Anton streichelte seine weinende Frau sacht.

      „Du kannst noch viele Kinder haben, Maria. Wilma hat es mir gesagt. Du brauchst nur etwas Ruhe und Schonung.“

      Bei Antons Worten war das Wimmern von Maria wieder lauter geworden.

      „Die Hexe“, stammelte sie jetzt. „Sie hat mich verhext. Sie ist vorbeigekommen, als ich die Tür abgeschrubbt habe. Ihr böser Blick hat mich getroffen. Deshalb bin ich über den Eimer gestürzt.“

      „Du fantasierst Maria. Da war niemand, als ich dich gefunden habe. Du warst ganz allein.“

      „Nein, Anton, sie war da. Du musst mir glauben. Agnes war da, sie hat mich verhext.“

      „Wir gehen weg von hier, Maria. Sobald du wieder kräftig bist, gehen wir weg von Kamen.“

      Anton schüttelte resigniert den Kopf, als seine Frau seine Hand drückte, den Kopf zur Seite legte und gleich darauf wieder eingeschlafen war.

      Kapitel 8

      Gibt es Menschen, die über ihre fünf Sinne hinaus noch etwas anderes wahrnehmen können?

      Die Gedanken lesen oder in die Zukunft blicken können, die Zugang zu anderen Zeiten oder anderen Welten haben?

      Ich habe mich oft mit solchen Fragen beschäftigt. Vielleicht deshalb, weil ich etwas in mir spürte, das mit den uns bekannten Sinnen nicht zu erklären war.

      Ich wusste häufig, was als Nächstes passieren würde. Ich wusste, wer anrief, noch bevor ich den Hörer in die Hand nahm. Nicht immer. Aber oft.

      Manchmal hatte ich Déjà-vu-Erlebnisse. Da waren diese Momente, die ich schon einmal erlebt hatte. Ein altes Haus, seit Jahren unbewohnt. Ich bin niemals darin gewesen, aber ich wusste, wie die Zimmer aufgeteilt waren. Aus einer anderen Zeit? Aus der Vergangenheit?

      Ich betrat das Haus mit meinem Vater, der Polier bei einer Baufirma war. Es sollte abgerissen werden, mein Vater sollte den Zustand begutachten. Er nahm mich nur widerwillig mit, aber ich bettelte so lange, bis er ja sagte. „Das ist nicht ungefährlich“, brummte er. „Vielleicht stürzt die Decke ein, da ist jahrelang nichts mehr gemacht worden.“

      Stirn runzelnd betrachtete er das rote Backsteingebäude, das auf mich eher anziehend als Furcht einflößend wirkte. Ein Geisterhaus, über dessen Eingangsstufen jahrzehntelang kein Mensch mehr gegangen war – gab es ein größeres Abenteuer?

      Die Fenster im Untergeschoss waren mit grünen Rollläden verschlossen, im Obergeschoss waren alle mit Holztafeln zugenagelt worden. Unterhalb der Eingangstreppe entdeckte ich eine kleine Tür, die keine Klinke besaß. Der Steinplattenweg, der rund um das Haus verlief, war uneben und buckelig geworden. Baumwurzeln drückten die Platten hoch, Löwenzahn wuchs aus den Ritzen hervor und Efeu schlängelte sich überall entlang bis zur Eingangstreppe.

      Eine alte Dame übergab uns die Schlüssel. Sie war verwandt mit den Erben, die weder für eine Renovierung noch für den Abbruch Geld locker machen wollten. Wir gingen die Moos bewachsene Steintreppe zur Eingangstür hinauf. Das rostige Eisengeländer an beiden Seiten der Treppe hinterließ eine braune Spur in meinen Handflächen.

      Das Schloss klemmte und mein Vater musste seine ganze Kraft einsetzen, bis die Tür krachend nachgab.

      Der muffige Geruch, der uns entgegen schlug, nahm uns fast den Atem. Wir standen in einer alten Diele, dicke Spinnweben waberten durch die Luft, alte Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden. Der Holzfußboden war völlig morsch und knirschte bei jedem Schritt.

      „Um Gottes Willen, geh nur ganz außen“, schrie mein Vater und grabschte nach meiner Hand.

      „Rechts geht es zur Küche, dahinter liegt die Speisekammer, geradeaus ist das Wohnzimmer, die Schlaf- und Kinderzimmer sind oben“, erklärte ich monoton, ohne zu wissen, woher ich diese Erkenntnisse hatte. Mein Vater geriet in Wut.

      „Lass diesen Blödsinn“, schrie er mich an, packte mich und stürmte aus dem Haus heraus.

      Die alte Dame erwartete uns an der Straße und nahm den Schlüssel wieder entgegen.

      „Ich habe ihre Tochter gehört“, flüsterte sie. „Es ist alles so, wie sie es sagt. Woher kennt das Kind das alte Haus?“

      Mein Vater ließ die Frage unbeantwortet. Später erfuhr ich, dass er sich geweigert hat, das Haus noch einmal zu betreten. Der Abrissauftrag ging dann an eine andere Baufirma. Doch die Erben konnten sich nicht einigen, so steht das Geisterhaus heute noch.

      Auch Menschen, denen ich zum ersten Mal in meinem Leben begegnete, kamen mir seltsam bekannt vor. Woher wusste ich, dass der beleibte Mann, den mein Vater mir als seinen Kollegen vorstellte, am Bein eine Narbe hatte, bevor er sie mir zeigte?

      „Wilddieb“, beschimpfte ich ihn. Ich wusste, dass er in seine eigene Falle geraten war, auch wenn er eine ganz andere Geschichte über sein entstelltes Bein erzählte.

      Waren er und ich uns in einer anderen Welt begegnet, einer Parallelwelt?

      Als Kind lebte ich in vielen Welten. Und alles vermischte sich irgendwie in meinem Kopf.

      „Du lügst!“, schrie meine Mutter mich an. Doch ich konnte nicht unterscheiden zwischen Wahrheit und Lüge, Fantasie und Realität, Traum und Wirklichkeit.

      „Aber ich habe es doch erlebt“, jammerte ich, wenn man mir meine Geschichten nicht glauben wollte. Ich hatte es ja wirklich erlebt, aber vielleicht nicht in diesem Leben, vielleicht nicht in dieser Welt, wer konnte das schon wissen.

      Mit zunehmendem Alter gelang es mir besser, meine Welten zu ordnen.

      „Im Mittelalter wärst du als Hexe verbrannt worden“. Mit ihren Warnungen erreichte meine Mutter, dass ich vorsichtig wurde mit Äußerungen und Erzählungen über meine Fähigkeiten, die mir manchmal Angst einjagten.

      „Du kannst bestimmt hellsehen“, glaubte meine beste Freundin. Sie verlor aber schnell das Interesse an meinen übernatürlichen Kräften, als es mir nicht gelang, das Thema der nächsten Klassenarbeit vorauszusagen.

      Also fing ich an, meinen Mund zu halten über all die Dinge, die ich spürte und erlebte und die anderen Menschen offensichtlich nicht zugänglich waren.

      Ich begann, meine Kräfte zu ordnen, zu steuern, für meine Zwecke einzusetzen.

      Nicht immer gelang es mir. Fast nie konnte ich konkret vorhersehen, wie mein Einfluss sich auswirken würde. Es war mir, als gäbe es eine höhere Instanz, die über mein Anliegen zu entscheiden hatte. Ich stellte den Antrag, ein hohes Gericht entschied.

      Die Exekutive wurde dann in Form des „normalen“ und „natürlichen“ Schicksals auf Erden tätig. Ich entwickelte selten ein Schuldgefühl. Schließlich hatte ich nur den Antrag gestellt, jemanden auszuschalten oder zu bestrafen. Das Urteil hatte ein anderer gefällt.

      Doch dann hatte ich Mitte der neunziger Jahre plötzlich den Eindruck, dass alles Übernatürliche aus meinem Leben verschwunden war. Ich lebte allein, mein Sohn war nach dem Abitur ausgezogen und ich hatte meine Arbeit als Sekretärin wieder aufgenommen.

      Mein Leben lief in geordneten Bahnen, für Übernatürliches gab es irgendwie keinen Platz, auch keinen Anlass mehr.

      Eine Zeit lang genoss ich diese Ruhe, war glücklich und zufrieden. Doch Einsamkeit und Langeweile sind Feinde von Glück und Zufriedenheit. Und nach einiger Zeit siegten sie über die positiven Gefühle.

      Ich spürte, dass ich etwas ändern