Название | Abengs Entscheidung |
---|---|
Автор произведения | Philomène Atyame |
Жанр | Языкознание |
Серия | Literaturen und Kulturen Afrikas |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783898968249 |
»Wieso? Welches Pech?«
»Ach! Vergiß es!«
»Ich möchte, daß du redest.«
»Ich kann es nicht.«
»Es wird dir sicherlich helfen, wenn du es versuchst. Versuch es einfach! Nicht versuchen ist schlimmer als scheitern.«
Abeng machte wieder einen verstörten Eindruck, kämpfte wieder mit den Tränen. ›Nein, nicht vor ihm weinen‹, dachte sie. Die Erinnerung an Akono Assam wurde überwältigend, war allgegenwärtig, quälte. Abeng fragte sich, ob sie jenes Unglück offenbaren konnte. Sie schüttelte dann den Kopf. Und den Kopf weiter schüttelnd, begann sie zu sprechen:
»Mein Großvater hat Pech gehabt… Hm Hm… Wer in schlechten Zeiten lebt, hat einfach Pech… Die fünfziger Jahre! Hm… Kamerun war noch eine Kolonie. Mein Opa sang stolz La Marseillaise in Sangmelima, sagte, daß seine Vorfahren die Gallier waren. Selbst mein Vater hat so was gesagt. Wie brav beide!«
»Sie hatten bestimmt keine Wahl«, meinte Manfred.
»Sie wollten nicht sterben wie die anderen, wie die Aufständischen. Viele von ihnen sind gestorben, erschossen. Soldaten, die Patrouillen, sie töteten Männer und vergewaltigten Frauen… Wenn… wenn sie nur wüßten, was sie anrichteten! Ich habe eine hellbraune Tante, sie ist die letzte Tochter meiner Großmutter… Hm… Ihr leiblicher Vater war einer von diesen Soldaten.«
»Oh!« staunte Manfred.
»Ist leider wahr. Vielleicht lebt dieser Teufel nicht mehr. Mein Großvater lebte in einem Dorf, nicht weit von Sangmelima. Er besuchte uns regelmäßig in Jaunde. Auch meine ganze Familie besuchte ihn jedesmal, wenn die längste Ferienzeit kam. Er mochte seine Enkelkinder sehr, mich am meisten, weil ich seiner Mutter ähnlich sah. Er erzählte uns oft von der Kolonialzeit. Dann gab es solche Tage, an denen er stundenlang schwieg. Eines Tages sah ich Tränen in den Augen meines Großvaters, die er mit seiner rechten Hand zu verstecken versuchte. Es war das erste Mal, daß ich meinen Opa weinen sah. Plötzlich liefen mir auch Tränen über die Wangen. Ich kannte die wahre Geschichte meines Großvaters. Alle im Dorf kannten sie. Mit der Zeit wurde sie solch ein gemeiner Witz, den die Dörfler gern erzählten. Aber im Herzen meines Opas blieb sie wie ein schwerer Stein. Eines Tages sagte ich zu ihm: ›Opa, versuche bitte, diese Geschichte zu vergessen! Du kannst sie sowieso nicht mehr ändern. Vergiß sie einfach!‹ Seine Geschichte ist nicht die einzige in diesem Land. Du hast bestimmt schon von ähnlichen Geschichten gehört.«
»Ich habe eine ähnliche Geschichte gehört. Meine Arbeitskollegen, die einheimische Freundinnen haben, haben sie mir erzählt. Meistens werden solche Geschichten verheimlicht, was sehr schlecht ist. Man sollte darüber reden. Dein Großvater hat viel gelitten. Und wo ist jetzt das Kind, die Tochter des Soldaten?«
»Sie lebt hier in Duala, sie wohnt in Ndokoti. Evina, so heißt sie, ist ein sehr lieber Mensch. Mein Opa hat sie wie seine eigene Tochter erzogen.«
»Das war gut von ihm. Aber du sagtest vorher, daß du mit ihm nichts mehr zu tun haben wolltest. Warum? Ich kann mir gut vorstellen, daß dein Großvater ein sehr lieber Mensch war.«
»Seine Erfahrung hat ihn schlecht gemacht. Er hat keinen Weißen mehr ausgehalten, ob französisch, englisch, deutsch, spanisch, libanesisch oder griechisch. Er haßte alle Weißen, die hier leben. Das war schlimm! Er wollte nicht, daß wir uns mit Weißen befreunden. Er hat all seine sechs Töchter mit Männern verheiratet, die er selbst ausgesucht hat. Er wollte es weiter mit seinen Enkelkindern machen. Letztes Jahr sagte er zu mir: ›Enkelin, ich habe schon jemanden für dich.‹ Er erzählte mir dann von einem Mann aus meinem Stamm, einem Schullehrer in Sangmelima. Dann habe ich mich gewehrt, ich habe mich gegen die Macht meines Großvaters gewehrt. Die Tradition hier schützt die Familienhierarchie, von oben nach unten. Ein Großvater zum Beispiel ist verpflichtet, seine Kinder, Neffen und Nichten zu erziehen. Außerdem hat er Einfluß auf seine Enkelkinder, solange er lebt. Leider gibt es Großeltern, die das ausnutzen und Diktatoren werden. Mein Großvater war ein echter Diktator. Aber ich habe mich richtig gewehrt, gegen ihn. Nein, das durfte er nicht, auch weil ich längst volljährig war. Hier in Kamerun sind die Mädchen ab sechzehn volljährig. Mein Opa konnte nichts gegen mich tun. Das Gericht im Dorf kann nichts gegen den Staat ausrichten. Ich habe mich durchgesetzt. Ich wollte diesen Mann nicht sehen. Als dann mein Opa mir auf die Zehen treten wollte, nahm ich Abstand von ihm. Ich besuchte ihn nicht mehr im Dorf. Und wenn er uns besuchte, sprach ich nicht mit ihm. Nun, seitdem er tot ist, habe ich Schuldgefühle. Mein Großvater starb an einem Herzinfarkt. Ich habe ihn geschwächt, ich habe ihn auf diese Weise getötet. Man kann einen Menschen auf diese Weise töten. Oder? Wie siehst du das?«
»Wie kommst du überhaupt darauf? Wenn das ein Mord ist, sind alle Menschen Mörder.«
»In der letzten Zeit habe ich viel an eine Wiedergutmachung gedacht. Ich habe zu meinem Vater gesagt, daß ich den Schullehrer kennenlernen möchte. Er soll in Sangmelima unterrichten, und ist, wie ich gehört habe, kirchlich sehr eifrig. Deswegen gefällt er meinem Vater.«
»Willst du ihn heiraten?«
»Das ist die Frage. Die Frage ist, ob ich ihn heiraten will.«
»Das mußt du aber wissen. Das würde ich auch gern wissen.«
»Ehrlich gesagt will ich ihn nicht heiraten. Aber vielleicht werde ich ihn heiraten müssen, um meinen Vater nicht zu verletzen.«
»Verzeih mir! Ich bin sehr direkt. Ich möchte mich nicht in deine Familienangelegenheit einmischen. Deswegen ist es gut, daß du von vornherein weißt, was du willst.«
»Manfred, das weiß ich seit langem.«
»Was?«
»Ich will diesen Mann nicht heiraten.«
»Aber du könntest. Das hast du eben gesagt. Und gerade deswegen erzählst du mir von ihm.«
»Entschuldige. Ich bin mit mir selbst noch nicht klar.«
Manfred war verblüfft. Ihm kam die Geschichte von Abengs Großvater wie eine Pest in der Familie der jungen Frau vor, eine Pest, die Abeng von Menschen zurückhielt, die sie gern malte, und die sie liebhatte. Die Geschichte weckte in Manfred den Wunsch, Abeng von ihren verwirrenden Schuldgefühlen zu befreien.
Dann erinnerte sich Manfred an eine Mauer: an die Berliner Mauer. 28 Jahre lang trennte sie Menschen voneinander, die sich wie er und Abeng liebten. Aber sie fiel! Drei Monate nach seiner Ausreise fiel die höchste Mauer Deutschlands. Aber jetzt in Kamerun hatte Manfred wieder das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen, vor der Mauer zwischen Schwarzen und Weißen: der Nord-Süd-Mauer.
Früher herrschten auf der schwarzen Seite dieser Mauer Haß und Rache, auf der weißen Seite Macht und Folter. Als 1960 diese Mauer bröckelte, begann die Nord-Süd-Partnerschaft. In Rio dos Cameroes arbeitete Manfred an der begonnenen Partnerschaft. Aber nun sah er Ruinen, Mauerruinen, die nicht weggeräumt wurden. Es waren Ruinen, mit denen man in der Gegenwart neue Mauern errichtete, alte Ruinen, die jede neue schwarz-weiße Liebe störten. Manfred entschied, Abeng von diesen Ruinen fernzuhalten. Er sagte:
»Weißt du? Ich brauche gar nicht zu fragen. Du weißt es.«
»Was?«
»1960.«
»Was? Meinst du die Unabhängigkeit Kameruns?«
»Ob ihr in diesem Jahr unabhängig wurdet, daran zweifle ich wohl. Ich dachte eben an etwas anderes, an eine Mauer.«
»An welche Mauer? An die Berliner Mauer?«
»Nein, sie ist schon gefallen. Ich meine..., ich sehe eine Mauer zwischen dir und mir. Sie ist wie die Berliner Mauer, sie ist nur höher, und älter. Gut, ich meine, die Geschichte hat eine Mauer zwischen Schwarzen und Weißen gebaut. Sie ist genau so blöd wie unsere Berliner Mauer! Hm. Ein Glück, daß auch sie fiel! Sie fiel fast überall in Afrika im Jahre 1960. Die Afrikaner feierten, war auch in Ordnung. Aber sie vergaßen, die Reste wegzuräumen. Damit baust du wieder vor