Название | Autopsie |
---|---|
Автор произведения | Viktor Paskow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941555 |
Jetzt gibt es keine Elsa mehr, keine verrückten Dirigenten, der Herr möge sie bestrafen, keine Jamsessions, kein Koks, keinen Christoph, nichts.
Auch keine Ina. Schon zwei Monate und fünf Tage.
Ich kehre zurück in die leere, riesige Wohnung.
Kaffee, Zigarette.
Ein Appell zum Erbrechen. Erneut das Klo: Galle.
Ich würge noch ein wenig, mein Puls überschreitet die Hundertzwanzig. Ich gehe hinaus auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Woher frische Luft? Ich starre auf den Schriftzug am benachbarten Gebäude an: AENGEVELT IMMOBILIEN.
Nachts blinkt diese Aufschrift unrhythmisch und rötlich, und das mittlere »I« von IMMOBILIEN leuchtet nicht. Auf dem Dach des Gebäudes flattert eine ausgebleichte, rote Flagge. Ich habe in all den Jahren nicht herausgefunden, was sie bedeuten soll.
Nonstop Gedanken an Ina, zwei Monate und fünf Tage Gedanken an Ina, ein und dasselbe, immer wieder ein und dasselbe, das wird mir den Rest geben.
Was sie wohl jetzt im Augenblick in Sofia macht?
Geht sie arbeiten?
Wo arbeitet sie?
Mit wem schläft sie?
Warum hat sie mich verlassen?
Warum hat sie mich die ganze Zeit über belogen? Warum habe ich all diese Monate mit der größten Irren von Sofia zusammengelebt? Warum ich? Womit habe ich das verdient?
Warum ich?
... Vor zwei Jahren, nach einer mörderischen Tour mit Freunden durch alle Pianobars der Hauptstadt, landeten wir im Jazzclub in der Rakovski-Straße. Damals war die Welt noch in Ordnung. Ich hatte Urlaub. Von einem Griechen in Kreuzberg hatte ich einen klapprigen Audi aus dritter Hand gekauft, mit dem ich nach Sofia zuckelte. Zusammengepfercht wie Würmer in der Dose eines Anglers fuhren wir kreuz und quer durch die nächtlichen Straßen.
Im Club spielte Harry die Buchtel.
Wir hatten einander seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit damals, als er sich mit Krummbein und Kolo Leberfleck nach Dänemark absetzte. Die drei hatten ein halbes Jahr in einer Kneipe in Kopenhagen zugebracht, und als der Vertrag auslief und die Zeit gekommen war, nach Bulgarien zurückzukehren, hatte Harry eine schmutzige Nummer abgezogen. Danach kamen Krummbein und Kolo lange Zeit auf keinen grünen Zweig mehr und spielten nur am Schwarzen Meer, aber sie verziehen es ihm bald. So ist das bei Musikern.
Jetzt war die Buchtel aus seinem Zuckerbäcker-Kopenhagen für einige Wochen zurückgekommen und spielte in diesem kleinen Club zu seinem eigenen Vergnügen und zum Vergnügen seiner Freunde. Alle waren da: Papst Stefan und Vanjo die Harmonika, Edi, Christian, Svetljo Vox, Svetla und Toni sowie ein Haufen unverschämter Jungspunde, deren Visagen ich nicht kannte.
Die Buchtel vollbrachte wahre Wunder an der Hammondorgel und entlockte ihr unglaubliche Effekte. In diesen gut zehn Jahren hatte er sich weiterentwickelt und steckte voller Energie wie eine gespannte Feder. Mit einem Wort: ein Klassemusiker.
Jemand drückte mir ein Saxophon in die Hand. Ich glaube, es war Papst Stefan. Ich denke, es war sein eigenes.
Ich stellte mich neben Harry auf, er drehte sich zu mir, grinste und reckte für einen Augenblick den Daumen in die Höhe.
Er hatte mindestens zwanzig Kilo zugenommen und einen Kropf wie ein Pelikan, aber seine Augen waren immer noch so rund und listig wie früher, und seine Finger lang, dünn und schnell.
Ich wusste, dass er eine Variation über »Honky Tonk« spielen würde, à la Coltrane. Damals im Konservatorium machten wir uns einen Spaß daraus, dieses Stück stundenlang zu spielen, voller Stolpersteine und Harmonien, die sich ineinander verstricken wie Spinnen im Liebesclinch.
»Ist alles eine Frage der Ekstase, Kurde!«, schrie Harry zwischen zwei wahnsinnigen Modulationen. Der Spruch stammte ebenfalls aus der Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Ich musste antworten, dass die Ekstase in der Phrase selbst liegt und alles andere eine Metastase ist.
Solche Sprüche klopften wir im Paläolithikum, als uns alles ein Kinderspiel zu sein schien, als der Jazz direkt ins Blut ging wie das Gift einer Klapperschlange und uns in sein schwarzes Loch saugte, und wir waren glücklich wie diese Affen, wie hießen sie doch gleich, die mit den roten Hintern.
Am Anfang spielten wir uns die Themen leicht und locker zu, wie zwei Tennisprofis beim Aufwärmen. Allmählich biss sich die Buchtel fest und begann, mich die Tonleitern und Harmonien rauf und runter zu scheuchen; ich meinerseits bemühte mich, schon einen Takt im Voraus zu erraten, in welche Hölle der Improvisation er mich im nächsten Augenblick zwingen würde, und ich erriet es; ich scheuchte ihn auch, ich blies ins Rohr und zerlegte die Melodie chromatisch in ihre Bestandteile, wir fanden zusammen und trennten uns wieder, wir machten musikalische Scherze und stellten uns Fallen, die all die alten Fratzen, die bis unter die Hutkrempe voll waren und wie die Ölsardinen in den Séparées hockten, verstanden und schätzten, während die Jungspunde verdutzt aus der Wäsche schauten, weil sie ihre eigenen Tricks und Späße hatten. Er machte einen auf Jimmy Smith, hatte die einfachen Akkorde hinter sich gelassen und spielte schnelle und atemlose Bebop lines, verstärkt durch einen glasklaren und schneidigen Sound, wie ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr von einem lebenden Organisten gehört hatte. Zum Finale schlug Harry abrupt einen Septakkord mit erhöhter Quint an und überließ mir die Kadenz, die ich beinahe drei Minuten lang auskostete, wobei ich modulierte und mich um jeweils einen Halbton immer höher hinaufschwang, und als ich die Modulationen ausgeschöpft hatte, riss ich die Melodie mit einem Abschiedskiekser in der vierten Oktave, der einem durch Mark und Bein geht wie ein Überschalldüsenjäger durch eine Wolke, in der Mitte auseinander wie ein Blatt Papier.
»Heil Hitler, Kurde! Du spielst wie Goebbels. Du hast mir ganz schön zugesetzt«, schnaufte Harry, während er sich Hals und Stirn mit einem Handtuch abwischte.
»Deine Linke weiß immer noch nicht, was deine Rechte tut«, antwortete ich im selben Stil. »Genug von dieser Litanei. Lies Andersen. Der hat ein Wahnsinnslehrbuch für Akkordeon geschrieben.«
In diesem Augenblick, während die Buchtel und ich uralte Nettigkeiten austauschten, sah ich sie. Sie saß mit Svetljo Vox an der Bar und nahm einen Schluck von ihrem Getränk.
Svetljo flüsterte ihr etwas ins Ohr. Was ein Musiker einem langbeinigen, überirdischen Wesen mit feuerrotem wallendem Haar bis zur Taille, Lippen wie bei einer Posaunistin und grünen Augen wie zwei Fleischerbeilen zuzuflüstern hat, ist natürlich klar. Ich würde nicht sagen, dass mich der indianische Blitz traf, aber die Fleischerbeile spalteten mein Gehirn wie einen Kürbis.
... Sie fehlt mir schrecklich. Ich bin unglaublich einsam. Ich habe Angst vor dem Tod. Wenn ich durch die Straßen gehe, halte ich mich dicht bei den Gebäuden; wenn ich einen plötzlichen Infarkt bekomme, soll mein Körper langsam an der Wand zu Boden gleiten und nicht wie ein Sack umfallen, damit ich mir nicht die Visage verbeule.
Depressionen, Stress, Alkohol und drei Schachteln Zigaretten am Tag. Zu nichts habe ich Lust.