Autopsie. Viktor Paskow

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Название Autopsie
Автор произведения Viktor Paskow
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941555



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      Viktor Paskow

      Autopsie

      Viktor Paskow

      Autopsie

      Roman

      Aus dem Bulgarischen übersetzt von

      Alexander Sitzmann

      Herausgegeben von

      Nellie und Roumen Evert

      Die editionBalkan im Dittrich Verlag

      ist eine Gemeinschaftsproduktion mit

      CULTURCONmedien

      Bibliografische Information der Deutschen

      Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

      Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

      detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

      über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

      ISBN 978-3-937717-49-4

      © Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010

      Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

      »Ayтопсия на една любов« im Verlag Biblioteka 48,

      Sofia, 2005

      Lektorat: Cordula Scheil

      Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

      unter Verwendung eines Bildausschnittes von

      »Jazz« von Matey Mateev

      www.dittrich-verlag.de / www.culturcon.de

      Inhalt

       Inhalt

      Aufwachen um fünf.

      Schon seit Wochen wache ich um fünf auf.

      Das bedeutet, ich habe ungefähr vier Stunden den unruhigen Schlaf eines Tresorknackers geschlafen.

      Ich stehe auf, stoße gegen den Stuhl, dann gegen den Schreibtisch.

      Zu meinen Füßen kullert mit leisem Klirren eine fast leere Flasche herum. Ich sage »fast«, weil in ihr eine bräunliche Flüssigkeit schwappt, ungefähr eineinhalb Schlucke. Kurz darauf ist die Flasche ganz leer, und ich habe Rochen im Bauch.

      Ich gehe in Unterhosen hinaus auf den Balkon.

      Draußen ist es finster, warm und klebrig. Von der Baustelle des »Philip Johnson House« dringt Lärm herüber. Kleine Gestalten, türkische, griechische und bulgarische Gastarbeiter in gelben Overalls, mit Schutzmasken vor dem Gesicht, laufen hin und her, übergossen von orangem Licht, wie unter dem Deckel eines riesigen Aquariums irgendwo auf dem Mars.

      Sie arbeiten Tag und Nacht.

      Sie arbeiten samstags und sonntags. Sie wühlen in einem riesigen Loch herum, das von eisernen Konstruktionen durchzogen ist, und unter ihren Händen leuchten die Flammen von Schweißgeräten auf: weiß, bläulich und grün.

      Mister Johnson ist ein amerikanischer Architekt, ein Bastard von zweiundneunzig Jahren.

      Zwischen die Zähne seines grinsenden Porträts gegenüber hat jemand mit roter Sprühfarbe einen fetten Penis gemalt: ein Gruß der Arbeiterklasse.

      Der Alte, oder genauer seine Mannschaft, hat beschlossen, seinen idiotischen Wolkenkratzer direkt vor meiner Nase in die Höhe zu ziehen, hier, wo sich früher ebenes Feld erstreckte und ich eine Aussicht bis zum Checkpoint Charlie hatte.

      Ich gehe zurück ins Bett.

      Vergebliche Versuche, erneut einzuschlafen.

      Am Ende halte ich es nicht mehr aus. Ich stehe auf. Ich gehe in die Küche. Ich mache mir Tee. Ich toaste ein paar Scheiben Brot. Ich bestreiche sie mit Diätmargarine, die das Cholesterin senkt (ha, ha!). Ich schneide eine spanische Tomate auf, belege die Brotscheiben mit französischem Hartkäse und dänischer Wurst, koche ein deutsches Ei weich. Ein kurzes, qualvolles Frühstück, das mit zwei Löffeln Natron und zwei Aspirin von Bayer endet.

      Ich nehme einen nassen Lappen und wische damit peinlich genau das Linoleum der ganzen Küche.

      Mit einem anderen befreie ich den Tisch, Schränke und Fenster von Krümeln und Staub. Ich spüle die beiden Teller und die Tasse, eine Gabel, ein Löffelchen und ein Messer und lege sie an ihren Platz.

      Inzwischen ist es sechs Uhr.

      Das Husten und Zittern beginnt. Herzklopfen.

      Ich gehe ins Bad, zünde mir eine Zigarette an und putze mir die Zähne. Die Tiere in meinem Magen lassen sich nicht mehr bändigen. Das Frühstück landet in der Toilette. Ich stütze mich einige Zeit mit der Hand an der Wand ab. Mein Herz rast. Arrhythmie. Ich knie mich hin und versuche, es in eins meiner Hosenbeine auszukotzen. Aber es will sich nicht durch die Speiseröhre zwängen und in das Hosenbein hinein.

      Ich drücke die Zigarette aus. Schweiß rinnt über meine Schläfen.

      Mir ist schlecht.

      Mir ist furchtbar schlecht. Mir ist schwindlig. Ich vibriere. Ich zünde mir eine neue Zigarette an. Ich bekomme keine Luft. Wenn ich will, dass die Krise vorbeigeht, muss ich ins Wohnzimmer gehen und einen Schluck aus der Flasche nehmen. Nein, das werde ich nicht tun, das werde ich nicht tun. Ich werde es nicht tun! Natürlich werde ich es tun. Mein Herz macht einen Satz. Es bleibt stehen. Ich drücke die Zigarette aus. Ich werde es nicht tun. Mein Gott! Ich kann nicht atmen.

      So ... jetzt ist es gut ... Jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe den Fusel von letztem Jahr ausgetrunken, den man mir in Sozopol geschenkt hatte. Eine Widerwärtigkeit mit Feigengeschmack.

      Nimm den Rasierer und schau dich nicht an!

      Rasier dich vorsichtig, stütz die rechte Hand mit der linken ab, damit du dich nicht abschlachtest!

      Dieses Gesicht ist nicht meines. Es ist ausgetauscht worden. Höchstwahrscheinlich hat man es in einem dieser geheimnisvoll anmutenden Antiquitätenläden ausgegraben, im Halbdunkel, unter dem schweren Geruch von verrottendem Papier und bedeutungslosen Gegenständen. Meine Mutter würde dieses Gesicht nicht wiedererkennen. Ebenso wenig mein Vater. Aber sie sind nicht mehr am Leben, und es gibt keinen Grund, warum sie mich wiedererkennen sollten.

      Ich steige in die Wanne: Strafduschen. Heiß-kalt, kalt-heiß. Heiß, bis man schier wahnsinnig wird. Kalt, bis man schreit. Ich bringe das Bad mit Reinigungsmitteln auf Hochglanz und ordne Rasierzeug, Cremes, Eau de Cologne und Zahnbürsten unter dem Spiegel an.

      Ich habe keine Zigaretten. Ich habe schon wieder keine Zigaretten! Zum wievielten Male wohl habe ich morgens keine Zigaretten?

      Ich gehe in die Unterführung der U-Bahn, kaufe zwei Schachteln Marlboro, es ist ungefähr acht Uhr morgens.

      Ich mache einen Abstecher ins Theater. Der Portier sieht von seiner Zeitung auf und nickt mir träge zu. Er ist meine morgendlichen Besuche gewohnt. Wir kennen einander schon seit zwanzig Jahren. Eigentlich dürfte er mich nicht reinlassen, weil dieses Theater seit einem halben Jahr nicht mehr existiert. Das Gebäude ja, aber das Orchester, der Chor, das Ballett, die Sänger und die Technik wurden von der Berliner Stadtverwaltung aufgelöst, es sind keine Mittel für den Luxusartikel Kultur mehr übrig. Sie zahlten uns eine Abfindung und jagten uns zum Teufel.

      Morgens schleifen mich meine Beine wie von selbst hierher, obwohl es mühsam ist und schmerzlich. (Oder vielleicht gerade deshalb.)