Mudlake - Willkommen in der Hölle. M.H. Steinmetz

Читать онлайн.
Название Mudlake - Willkommen in der Hölle
Автор произведения M.H. Steinmetz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961881437



Скачать книгу

mit einem verschmitzten Lächeln wissen.

      Vivian nickte. »Klar.«

      Jason deutete zum Hawkeye, dass zwischen dem Laden und der Werkstatt auf der linken Straßenseite lag. Aus einem bestimmten Grund schien er sich nicht von ihr lösen zu können. »Und dort bekomme ich auch was zu essen?«

      »Besser, du holst dir ’n Sandwich bei uns.« Sie rang sich zu einem Lächeln durch. »Dir würd’s als Fremder im Hawkeye nicht gefallen … sag ich jetzt mal so.«

       Außer du willst im Hinterzimmer enden …

      Jason sah sie einen Augenblick nachdenklich an, nickte schließlich. »Okay, wenn du das sagst, schau ich später bei dir vorbei.«

      »Was ist das überhaupt für ein Bus?«, kam Vivian auf den eigentlichen Grund des Gesprächs zurück. »Schulausflug?«

      »Hm, soweit ich weiß, sind die von ’nem Waisenhaus und auf dem Weg nach South Dakota … Sommercamp oder so was in der Art …«

      »South Dakota liegt aber in der anderen Richtung«, sinnierte Vivian und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

      Jason hob desinteressiert die breiten Schultern. »Glaub, die sind über Sioux City gefahren, da ist es nur ein kleiner Abstecher hierher. Wen juckt’s?«

      Vivian war über Jasons Verhalten verwundert. Der sogenannte Abstecher verlängerte die Fahrt um viele Stunden. Sie fing an, über Dinge nachzudenken, über die sie besser nicht nachdenken sollte. Und dennoch …

      Ich weiß, dass es kein Zufall ist, dass die hier gelandet sind.

      »Und wo, sagtest du, wolltest du hin, Jason?«

      »Ich sagte noch gar nichts«, antwortete der Motorradfahrer und lachte. »Wer weiß, womöglich genau hierher …«

      Vivian sah scheu zum Laden und zuckte zusammen, weil sich im Obergeschoss ein Vorhang bewegte.

       Verdammt, Mum …

      Vivian stellte sich vor, wie sie sich zum Fenster geschleppt hatte. Laufen konnte sie längst nicht mehr. Jedenfalls nicht wie ein normaler Mensch. Aber was war schon normal in Purgatory? Nicht auszudenken, wenn sie das Gespräch beobachtet hatte. »Ich geh besser rein … werd nicht fürs Schwätzen auf der Straße bezahlt.« Sie drehte sich um, lief los, doch Jason ergriff ihren Arm.

      »Weil im Moment viel los ist …« Überrascht von seinem Übergriff, zog er die Hand zurück. »Sorry, ich wollte das nicht …« Er lächelte sie verlegen an. »Es ist nur, wie soll ich’s sagen … Würd mir wünschen, später mit dir im Laden weiterzureden.«

      Vivians Hand berührte kurz die seine. »Mach, das du aus der Stadt verschwindest«, stieß sie leise, aber nachdrücklich hervor. »Halt dich von den Einheimischen fern, von denen im Bus … und … vor allem … von mir!« Vivian ließ ihn stehen, überquerte die Straße und ging zur Ladentür. Dort sah sie über die Schulter zurück. »Viel Glück mit dem Motorrad, Jason!«

      »War nett, mit dir zu plaudern, Vivian«, rief er ihr verwirrt hinterher, aber da hatte sie bereits die Ladentür erreicht und schlüpfte ins sichere Innere.

       Hätte besser ihm Glück wünschen sollen anstatt dem Motorrad … denn du hast das bitternötig …

      Vivian sah auf die Uhr. Sie hoffte, dass er ihren Rat befolgen und verschwinden würde. Er war nett und süß, aber ein Fremder. Es war besser, ihn zu vergessen, denn die von außerhalb waren nicht von langer Dauer.

      Sie versuchte, auf angenehmere Gedanken zu kommen. Zum Beispiel auf ihren bevorstehenden Feierabend. In einer Stunde würde sie endlich den Laden schließen, nach oben in ihr Zimmer gehen und sich dem Brief von Mary-Ann widmen. Sie würde die Shirts anprobieren, Musik hören und dieses verdammte Kaff für einen Moment vergessen. Einfach Mädchen sein. Das hörte sich nach einem ziemlich guten Plan an.

      »Viviaaaaan!« Das Gekreische ihrer Mutter machte all ihre Pläne zunichte. Es dröhnte durch das Haus, das Vivian für einen Moment dachte, die Hölle hätte sich geöffnet.

      »Ich hab zu arbeiten!«, blaffte sie nach oben, wusste aber, dass sich eine Martha McCall nicht damit zufriedengeben würde.

      »Viviaaaaan!«

      Vivian traten Tränen in die Augen. Ihr Magen krampfte, weil es ihr aufs Äußerste widerstrebte, nach oben zu steigen und das Zimmer ihrer Mutter zu betreten. Mit unsicheren Schritten ging sie zur Ladentür, um das Schild auf »Geschlossen« zu drehen. Auch wenn sie Angst hatte, sie musste es tun. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie musste es tun.

      Vivian ließ sich mit dem Hinaufsteigen Zeit, die sie nutzte, um sich auf den Anblick vorzubereiten, der sie dort oben erwartete. Ihre Mutter war ein Beispiel dafür, was es bedeutete, den Zorn des Predigers auf sich zu ziehen.

       Alles dreht sich in Purgatory um diesen Mann. Selbst die Uhren richten sich nach ihm. Er ist der Geist …

       Mein Gott, ich denke wie Dad …

       Ich sollte besser überhaupt nichts denken …

       Ich muss funktionieren …

       Aber ich will’s nicht!

      Ihre Mutter bewohnte das Zimmer am Ende des Flurs, das sie nur in besonderen Ausnahmefällen verließ. Vivian fragte sich, warum sie es ausgerechnet heute getan hatte.

       Sie weiß von dem Bus und wollte es mit eigenen Augen sehen …

       Sie weiß es, weil sie mit dem Prediger verbunden ist …

      Je näher sie der Tür kam, desto intensiver roch sie den beißenden Gestank, der aus dem Raum dahinter strömte. Dad versorgte sie, wie er dazu in der Lage war. Er hielt sie sauber, wusch ihren Körper, salbte ihre wunde Haut. Anfangs aus Liebe, doch inzwischen tat er es nur, weil er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlte.

       Diesem Monster? Dass ich nicht lache! Wohl eher dem Prediger …

      Sie achtete darauf, nicht auf die Schleimspur zu treten, die kurz vor der Tür begann, wo sie in dem Raum dahinter am Fenster die Bewegung gesehen hatte. Sie führte bis zu dem Zimmer ihrer Mutter. Ein Geschmier aus schlechtem Blut und eitrigem Ausfluss. Das Zeug lief ihr aus den Löchern, vor allem aber aus denen zwischen ihren Beinen. Vivian stöhnte auf. Es würde Stunden dauern, das klebrige Zeug von den Holzdielen des Flurs zu putzen. Sie verabschiedete sich von den Gedanken, sich ihrem Paket widmen zu können.

       Niemand kann von mir verlangen, dass ich diese … Kreatur … liebe …

      »Viviaaaaan!«

      So nah an der Tür hörte es sich bedrohlich an. Dumpf und hohl klang ihre Stimme, durchsetzt von grenzenlosem Hass. Aber wenigstens schien sie sich nicht direkt hinter der Tür aufzuhalten.

       Auf dem Bett …

      Dad hatte mit Reißzwecken ein Bild von ihr an das Türblatt gepinnt, damit er nie vergaß, was für ein Mensch sie gewesen war. Vivian wischte mit ihrem Shirt den fetttriefenden Schleim von der Fotografie.

       Mutters schmierige Spuren …

      Das vergilbte Papier zeigte ihre Mutter vor einem strahlend blauen Himmel. Sie hatte den Mund zu einem Lächeln geöffnet, sodass man ihre gebleichten Zähne sehen konnte, trug eine leichte, helle Bluse und fasste sich mit einer Hand in ihr rotbraunes, gelocktes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel.

      Grüne Augen, dachte Vivian. Ein leuchtendes, freundliches Grün.

      Es war das erste Mal, dass sie ihr strahlendes Lächeln bewusst wahrnahm. Die grünen Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt, auch wenn ihre viel dunkler und tiefgründiger waren.