Название | Die Stimme |
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Автор произведения | Bernhard Richter |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783894878207 |
Das Hören sollte so geschult werden, dass es analytisch die drei Ebenen des Instruments Stimme, nämlich Tonanregung (Atmung), Ton-/Klangproduktion (Kehlkopf) sowie Ton-/Klangformung (Resonanzräume) (vgl. Kap. 2, S. 27), so differenziert wie möglich unterscheiden kann. Dieses analytische Hören ist für alle wichtig, die sich mit Stimmen beschäftigen – unabhängig davon, ob sie künstlerisch, pädagogisch, diagnostisch oder therapeutisch ausgerichtet sind. Wesentlich bei diesem analytischen Hören ist zunächst, dass wir lernen die einzelnen Elemente wahrzunehmen. Gerade bei Stimmen, die uns beim ersten Hören nicht gefallen oder die stilistisch in einer Weise produziert werden, die uns fremd ist oder nicht zusagt, ist dieses differenzierte Wahrnehmen nicht einfach und erfordert ein hohes Maß an Disziplin. Man darf sich nicht gleich abwenden und die sprichwörtliche »Flinte ins Korn werfen«, sondern muss analytisch »am Ball bleiben«.
Die Fragen der hörenden Stimmbeurteilung sollten immer hierarchisch in folgender Reihenfolge ablaufen: Erstens, was hören wir? Und, zweitens, wie wird dieser Klang vermutlich erzeugt und modifiziert? Erst dann sollte die Frage gestellt werden: Wie sind die einzelnen Elemente zu bewerten im Sinne von stilistisch passend/nicht passend oder richtig/falsch oder unschädlich/schädlich oder auch gesund/krank.
Schon während der eigenen stimmlichen Ausbildung ist es von großer Wichtigkeit, anhand von Live-Konzerten, aber auch von Aufnahmen berühmter Künstler, die heute leicht zugänglich sind, das Gehör darin zu trainieren, vergleichend zu hören, wie in Kapitel 5, S. 95, anhand des Goethe-Gedichtes PROMETHEUS exemplarisch vorgeschlagen. Die Hörschulung sollte immer Sprech- und Singstimmen gleichermaßen umfassen. Sie sollte zudem möglichst umfassend sein und verschiedene Gesangsstile und -schulen berücksichtigen. Dies geht am leichtesten, wenn man es sich zu eigen macht, systematisch bei jeder Stimme dieselben Parameter einzuschätzen. In diesem Höreindruck sollten – in Anlehnung an den Vorschlag von Seidner und Wendler – Aspekte der Tonbildung (Stimmeinsatz und -absatz), der Tonqualität, des Stimmklangs (z. B. Timbre), der Tragfähigkeit, der Intonationsfähigkeit, der Registerreinheit und auch des Vibratos erfasst werden (Seidner u. Wendler 1997) (vgl. Kap. 9, S. 177). Dadurch kann man sich ein Bild über die technische Beherrschung der Stimme, die Atem- und Stimmökonomie, den Grad der stimmlichen Anstrengung und Belastbarkeit sowie möglicher unerwünschter Geräuschanteile verschaffen. In Tab. 3 werden »sieben Kriterien« vorgeschlagen, die beim Hören in jedem Fall beurteilt werden sollten.
Ein Vorsingen bzw. Vorsprechen in der ärztlichen Sprechstunde – insbesondere auch der problematischen Stellen einer Partie – ist aus diesem Grunde zur stimmärztlichen Beurteilung sehr hilfreich. Zudem besteht in der Sprechstunde dann die Möglichkeit, Stimmen interaktiv zu testen, indem auch kritische Bereiche der Stimmproduktion wie Pianofähigkeit, Steigerungsfähigkeit, Registerübergänge o.ä. anhand von spezifischen Übungen physiologisch überprüft werden. Neben dem Erkennen von Stimmpathologien unter diagnostisch/therapeutischen Gesichtspunkten, ist dies auch unter dem Gesichtspunkt der Vertrauensbildung zwischen Ratsuchendem und Stimmexperten sehr wichtig.
Kriterium | Funktionszusammenhang |
Tonbildung | Atmung und Kehlkopf |
Tonqualität | Kehlkopf und Resonanzräume |
Stimmklang | Kehlkopf und Resonanzräume |
Tragfähigkeit | Atmung und Resonanzräume |
Intonationsfähigkeit | Atmung und Kehlkopf, Kinästhetik/Hören |
Register | Gesangstechnik |
Vibrato | Atmung, Kehlkopf und Resonanzräume |
Tab. 3: »Sieben Kriterien« und die ihnen vornehmlich zugeordneten Funktionseinheiten
Der scharfzüngige New Yorker Kritiker William James Henderson (1855–1937) stellte schon vor über hundert Jahren in The Sun klare Richtlinien auf, welche die Beurteilung einer Stimme rein auf den Höreindruck stützt. Er billigte dem analytischen Hören ein hohes Maß an Objektivität zu:
»Wenn jemand falsch singt, spielt es keine Rolle, wer zu hören meint, es sei richtig. Die einzige Frage ist: ›Kann man es hören oder nicht?‹ […] Ob eine Sängerin eine durchweg ausgeglichene Stimme hat, ob ihre tiefen Töne weiß oder kehlig klingen […], ob ihre Koloratur brüchig, verkrampft oder schwerfällig ist, ob ihre Melodielinie durch eine unkünstlerische Phrasierung ruiniert wird, ob sie sauber singt oder nicht, ob sie die Musik so ausführt wie sie in den Noten steht oder wie es ihr selbst in den Sinn kommt – dies sind keine Fragen der Meinung dies sind Tatsachen. Kurz gesagt, nichts ist offensichtlicher, als das Resultat, welches in einer künstlerischen Aufführung technisch erreicht werden kann und die einzige Frage die überhaupt bezüglich einer Kritik gestellt werden kann, ist: ›Hat der Kritiker richtig gehört?‹ Wenn er nachweislich die Eigenart hat, nicht genau hinzuhören, dann ist er so ungeeignet für den Beruf des Musikkritikers wie ein Farbenblinder für die Anforderungen eines Kritikers in der Bildenden Kunst.«1
Hörende Fremd- und Eigenbeurteilung der Stimme
Obschon der Fokus des vorliegenden Abschnitts auf der Betrachtung und Beschreibung einer ungestörten, gesunden Stimmfunktion liegt, soll an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die auditive, d. h. »hörende«, Beurteilung von gestörten Stimmen eingeschoben werden.
Exkurs: Rauigkeit / Behauchtheit / Heiserkeit (RBH-Index)
Wenn bei einer gestörten Stimme das Symptom Heiserkeit zu hören ist, dann kann man diese Heiserkeit akustisch vor allem durch eine Behauchung oder eine Rauigkeit des Stimmklanges beschreiben. Nach dem Schweregrad der Rauigkeit und Behauchtheit lässt sich die Gesamtausprägung einer Heiserkeit im sogenannten RBH-Index einschätzen (Nawka et al. 1994). Die Zahl 0 steht dabei jeweils für eine ungestörte Funktion, die Zahl 3 für die schwerste Ausprägung der Störung. Auch wenn dieses System nicht unerheblich von der Erfahrung des Untersuchers abhängig ist, hat es sich im klinischen Alltag bewährt und sollte als einfache Möglichkeit der Einschätzung auf jeden Fall angewendet werden. Über dieses sehr einfache System hinaus kann die »hörende« Stimmbeurteilung mit Bestimmung z. B. der mittleren Sprechstimmlage und weiterer auditiv zu bestimmender Parameter noch wesentlich differenzierter erfolgen. Den an diesen Fragestellungen Interessierten sei der Abschnitt »Auditive Beurteilung der Stimme« im Buch »Stimmstörungen« von Nawka und Wirth, S. 157 ff., empfohlen (Nawka u. Wirth 2007).
Exkurs: Voice Handicap Index (VHI)
Neben der Einschätzung der Stimme durch eine fremde Person kann man natürlich auch den Menschen, dessen Stimme beeinträchtigt ist, befragen, wie er selbst seine Stimme einschätzt. Damit dies einigermaßen zuverlässig und nachvollziehbar möglich ist, wurden Fragebögen zur Selbsteinschätzung des Patienten entwickelt, wie z. B. der Voice Handicap Index, kurz VHI (Jacobson et al. 1997). Der ursprünglich auf Englisch verfasste Fragebogen liegt in einer deutschen Übersetzung vor (Nawka et al. 2003). Der VHI ist ein hinsichtlich der Eigeneinschätzung der Stimme normiertes Fragebogeninstrument. Hohe Werte (Range 0–120) repräsentieren eine subjektiv stark ausgeprägte stimmliche Beeinträchtigung. Der VHI kommt häufig als standardisierter Fragebogen im Rahmen des ELS-Protokolls (s. S. 75) zum Einsatz.
Es wurde auch eine sängerspezifische Version des VHI in englischer Sprache entwickelt (Cohen et al. 2007), welche aktuell von der Arbeitsgruppe um Nawka in einer deutschen Version evaluiert wird.
Tasten, Fühlen
Untersuchung mit den Händen
Zur Untersuchung und Beurteilung der Stimmproduktionsmechanismen