Annie Dunne. Sebastian Barry

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Название Annie Dunne
Автор произведения Sebastian Barry
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958299412



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nicht oft genug hinaus. Vielleicht ist das Landleben unter seiner Würde.

      Behutsam hieve ich das schwere Geschirr auf seinen Rücken und muss, ich gebe es zu, an Billy Kerrs Hilfsangebot denken, das ich in meinem Hochmut ausgeschlagen habe.

      »Da ist ja überall Schleim auf dem Leder«, sagt das Mädchen.

      »Nein«, sage ich keuchend. Mein Rücken schmerzt. »Das ist Fett zum Schutz gegen den Regen.«

      »Es ist dreckig«, sagt sie, »und ich hab’s auf meiner Strickjacke.«

      »Willst du denn nicht mit dem Wagen fahren?«, frage ich. Ich weise sie nur deshalb zurecht, weil ich Schmerzen habe.

      »O doch«, sagt sie. »Ich möchte schon.«

      Trotz allem sieht es schön aus, wie das Geschirr auf Billy sitzt. Über die Jahre hat es sich seiner Körperform angepasst. Ich mag seinen runden Leib, wie der eines wohlgenährten Mannes. Er riecht nach trockenem Stroh und feuchtem Dung. Haar und Haut haben einen ganz eigenen fremdartigen Geruch. Er hat etwas von einem Löwen. Jedenfalls hat er mehr Klasse als Shep. Abgesehen davon, dass er aussieht, als wollte er einen umbringen, muss man ihn bewundern.

      Dann sind wir auf dem Feldweg. Die beiden Kinder sitzen einander gegenüber auf den Bänken hinter mir, und wir rollen durch das sanfte Auf und Ab der Felder und Wälder. Billys Hufe schleudern kleine Dreckbatzen hoch. Was ihn so richtig antreibt, ist das Schnalzgeräusch, das ich mit den Zähnen und der Zunge mache. Wir stürzen den grünen Fluss aus Gras hinab, und die Kinder klammern sich an ihren Sitzen fest.

      Ich winke Mrs Kitty Doyle zu, die gerade über ihren Hof geht und den Schweinen eine Schürze voller Futter bringt. Ich kann sie in ihrem steinernen Koben quieken hören. In einer der Scheunen hält sich ein aufgegebener Pferdewagen versteckt. Ich kann ihn gerade noch ausmachen, als wir vorüberrumpeln, ein hohes Ding zwischen den Strohballen. Dort verrottet er, und die Lampen verlieren allmählich ihren Glanz. Wieder so eine von den Familien, die sich in den letzten Jahren ein Auto gekauft haben.

      Aber der Weizen der Hannigans steht gut, wie ich sehe, die kräftigen Keimlinge überziehen die dunkle Erde wie eine schöne Häkelarbeit.

      Wir kommen zu der Kreuzung, wo unser Feldweg der neuen Teertrasse weicht. Ich muss Billy zügeln. An dieser Stelle tänzelt er immer nervös, denn von der Aufregung, den Berg hinunterzurasen, ist er noch ganz aufgewühlt.

      In der Ferne sehe ich Billy Kerr, der die letzten paar Meter zu den Kuhställen neben dem Haus meiner Cousinen entlangschlendert. Ihre Farm liegt hinter wuchernden Hecken verborgen. Das Haus sieht seltsam aus, so mitten auf der Weide, die die Kühe zu Schlamm zertrampelt haben. Die Wände ganz aufgeraut von Feuchtigkeit und Regen.

      Trotzdem, in den moosbewachsenen Gräben drängen sich Schlüsselblumen und die grünen Fontänen des Fingerhuts. Das gelbe Feuer des Stechginsters auf dem Hügel dahinter ist gerade erst erloschen. Doch Billy das Pony hat keine Geduld für solche Wunder, mit einem Ruck ist er auf der Straße, die Räder folgen der neuen Melodie des härteren Straßenbelags, und unsere Wangen schwabbeln, so heftig werden wir durchgeschüttelt.

      »Mach langsam, du wildes, verrücktes Pony, du«, sage ich und versuche, ihn zu bremsen. Zuinnerst weiß ich, dass er jetzt am liebsten in leichten, dann in wilden Galopp fallen würde, um uns alle davonzutragen, sich selbst und die unzulänglichen Menschen in dem Gefährt, in einem so irren Tempo, dass die Steinchen wegspritzen, und um die Welt in Gefahr und Ängste zu stürzen. Das kann ich nicht zulassen, und so stehe ich auf, lehne mich zurück und zwinge ihn zu einem unruhigen Schritt.

      »Sche-ritt, du alter Halunke, du«, rufe ich und bearbeite die Trense mit den Zügeln herzlos mal von links, mal von rechts. Aber der niederträchtige Kerl veranstaltet noch mehr Theater als sonst und bockt. Das Gefüge aus Wagen und Pony biegt sich in der Mitte, und plötzlich habe ich Angst, dass wir im Graben landen. Die Kinder hinter mir schnappen nach Luft bei dem widrigen Schlingern und Ächzen der Scherbäume, die wie eine riesige Stimmgabel in Schwingung geraten sind.

      »Weiter, geh weiter«, sage ich und würde ihn gern verfluchen, was ich mir jedoch verkneife, der Kinder wegen, für deren Erziehung ich verantwortlich bin. Und jetzt geht Billy weiter, nur um wieder einen Schritt rückwärts zu machen. Er ist fest entschlossen, mir übel mitzuspielen. Ich könnte ihm eins mit der Peitsche überziehen, müsste ich nicht die Wirkung fürchten, die ein Peitschenhieb bei seiner momentanen Gemütsverfassung hätte. Ich hüpfe auf dem hölzernen Sitz auf und ab und bin selbst schon ganz verrückt im Kopf vor lauter Sorge und Wut.

      »Steh, steh, du Teufelsbraten«, rufe ich. »Steh! Kinder, macht den Wagenschlag auf und springt von den Metallstufen ab. Ich glaub, ich kann ihn nicht halten.«

      Und das kleine Mädchen, das schon mehr von der Welt versteht, kümmert sich um den Jungen, öffnet die kleine Klappe aus Sperrholz und lässt sich und den Kleinen hinabgleiten, eine beachtliche Höhe für ein Kind. Doch dem Herrgott sei Dank, im Nu finden sich die beiden zu ihrer eigenen Verblüffung auf dem grasbewachsenen Straßenrand. Und die große Maschine, so muss es ihnen scheinen, des Pferdewagens, mit mir obenauf, buckelt und bäumt sich von neuem.

      »Kinder, bleibt ganz ruhig stehen«, sage ich. »Gott im Himmel!«

      Billy hat die Trense fest zwischen die Zähne genommen. Jetzt hat er mich.

      Das ist die Katastrophe. Zum Fürchten. Sarah wird mir nie verzeihen, wenn ich ihn nicht wieder zur Vernunft bringe. Denn sie schätzt dieses törichte, gefährliche Tier. Der Schrecken hat von mir Besitz ergriffen, weil ich fast vorhersehen kann, was Billy als Nächstes tun wird. Ich kann’s vorhersehen, vielleicht noch bevor er es denkt, denn er ist ein Tier, das ganz in der Gegenwart lebt, im flüchtigen Augenblick. Oder er hat es schon vor Jahren ausgeheckt, immer wenn er mich mit diesen bösen Augen ansah. Und nun geschieht’s, der Sprung, die Raserei, die wie eine Feder gespannte Energie, das lodernde Feuer in seinem runden Bauch – und er ist auf und davon, in Richtung Kiltegan, und nur ich, diese Närrin, kann ihn daran hindern.

      Wir preschen ein paar hundert Meter dahin, wobei er fröhlich ein Hufeisen verliert. Der harte Straßenbelag reißt es ihm vom Huf. Es fliegt über die Hecke von Humewood, dem alten Gutshof, der im Leben meiner Vorfahren eine so wichtige Rolle gespielt hat. Billy beachtet es nicht. Dann bricht, wie ein Feuerwerkskörper, aus dem Dickicht der niedrigen Bäume zu meiner Linken etwas hervor, das ich zunächst für einen Keiler halte, für einen Keiler mit stoßbereiten Hauern. Es ist wie eine Erscheinung – erst ist da nur die ungepflegte friedliche Hecke, und auf einmal ist ein Loch hineingesprengt, und das wilde Geschöpf landet vor mir auf der Straße.

      Aber in Irland gibt es keine Keiler, außerdem ruft und lärmt dieses Geschöpf und wedelt mit den Armen. Es erhebt sich, offenbart rätselhafte Gliedmaßen und verwandelt sich zu meinem dankbaren Erstaunen in Billy Kerr.

      Da steht er nun mitten auf der Straße nach Kiltegan, wirft die Arme in die Höhe, springt auf und ab und ruft dem wütenden Pferd »Ho! Ho!« zu. Das Pony reagiert auf seine typische Art, bleibt abrupt stehen, bäumt sich auf und zeigt die Vorderhufe, lässt sich dann wegen des Gewichts des Wagens schwer nach unten fallen, schlägt ein-, zweimal nach hinten aus, steigt wieder hoch und wiehert, die angespannten Kiefer so weit aufgerissen, wie es einem Pferd möglich ist. Der Wagen kippt nach links weg, neigt sich so weit, dass ich aus meinem gefährdeten Nest falle und im Ampfer lande oder was sonst noch im Straßengraben wächst.

      »Steh auf, Annie Dunne, wenn du kannst«, brüllt Billy Kerr, »und versperr ihm den Weg nach hinten. Dann haben wir ihn.«

      Zwar weiß ich nicht, ob ich noch lebe oder schon tot bin, aber ich rappele meine alten Knochen auf, pflanze meine Füße auf den Asphalt und hebe die Arme. Vor lauter Angst und Schrecken zittere ich am ganzen Leib. Meine blau-weiße Kittelschürze ist schlammverschmiert. Mir klopft das Blut im Kopf. Billy Kerr greift nach der wehenden Mähne des Ponys und packt mit düster grollenden Lauten das Halfter, dann wird seine Stimme plötzlich ganz besänftigend und weich.

      »Schon gut, schon gut, ganz ruhig, ganz ruhig, bist ein guter Junge«, sagt er.

      Er streichelt das Pony, als wäre es ein kleines Kind, das gerade etwas Schreckliches erlebt