Annie Dunne. Sebastian Barry

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Название Annie Dunne
Автор произведения Sebastian Barry
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958299412



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gibt ein paar Leute, die sich auf ihre Weise an diese Dinge erinnern. Ihnen gefällt, dass ich auf Sarahs Barmherzigkeit angewiesen bin, wenn es denn so ist. Ihnen gefällt es, eine Frau zu sehen, die nur die Freundlichkeit einer Cousine vor der Anstalt der Grafschaft bewahrt, eine Frau, deren Vorfahren einstmals die Könige von Kelsha waren. Arme Annie Dunne, sagen sie vermutlich, wenn sie freundlich gesinnt sind. Sind sie es nicht, wird ihnen etwas anderes einfallen. Nun ja, damals waren wir wer, heute bin ich ein Nichts, als würde solche Herrlichkeit von einer Handvoll Asche aufgewogen. Unsere glorreiche Zeit, bevor diese verrückten Banditen, de Valera und seine Truppe, beschlossen, in einem einzigen finsteren Rausch von Blut und Mord alles umzustürzen. Vor all den Kriegen, Umbrüchen, Aufständen und Unruhen, vor dreißig langen Jahren, vor all diesen Dingen, die meinem Vater den Verstand raubten. Denn mein Vater war ein einfacher Polizist in aufrührerischer Zeit, und das hat ihm eindeutig den Rest gegeben.

      Ach, Billy Kerr weiß das alles, wenn er auch sonst nichts weiß, wie er so inmitten des hellen Lichts, das die Tür einlässt, gekonnt herumlungert.

      »Was gibt’s, Billy Kerr?«, fragt Sarah, als sie hinter ihm in die Tür tritt, so dass er sich von der Schwelle wegbewegen muss. Zu meiner Überraschung ändert sich sein Verhalten. Zu ihr ist er überaus freundlich, fast schon unterwürfig.

      »Wie geht’s dir, Sarah?«, fragt er.

      »Wie den meisten Leuten beim ersten Tageslicht, ich raffe mich auf und mache mich an die Arbeit.«

      »Natürlich.«

      »Dein Waschwasser ist im Schlafzimmer, Sarah«, sage ich.

      »Danke, Annie«, sagt sie in betont freundlichem Ton. »Mach die untere Tür zu, Billy Kerr, sonst lässt du die Hühner rein.«

      Wie er vor ihr kriecht. Ich bin beunruhigt. Ich glaube, ich war schon immer beunruhigt, wenn ein Mann zu uns ins Haus kam. Vielleicht liegt’s an meinem Charakter, oder an meiner Geschichte. Im Dublin Castle klopfte ständig das halbe Regiment an die Tür meines Vaters, um meine kleine Schwester Dolly zu sehen, und bei Gott, ich konnte nie genug davon bekommen, sie wegzuschicken. Mit einem Soldaten hätte ich sie niemals ausgehen lassen. Und was die jungen Polizisten betraf, die dem gleichen Glück nachjagten, mit denen machte ich noch kürzeren Prozess, denn ich hatte meinem Vater gut zwanzig Jahre zugehört und wusste, was sie im Monat nach Hause brachten. Ihnen öffnete ich nicht mal richtig die Tür. Und Dolly warf mir Eifersucht vor, doch selbst wenn es Eifersucht war, machte das keinen wirklichen Unterschied. Sie musste beschützt werden. Maud war fast verrückt vor Sorge – als würde bloße Sorge ausreichen, um ein solches Problem aus der Welt zu schaffen.

      »Wozu bist du raufgekommen?«, frage ich ihn, während sein Blick sich an Sarah heftet, die in unserem Schlafzimmer verschwindet und dabei die vom Hühnerfutter verschmutzten Blusenärmel aufrollt. An diesen Ärmeln werden wir am Waschtag ordentlich herumrubbeln müssen, dann wird sie ihre Gleichgültigkeit bereuen.

      »Häh?«, sagt er, als wäre das genug Englisch für mich.

      »Bist du mit irgendeiner Arbeit nicht fertig geworden, oder was? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich herbestellt zu haben, wenn ich das so sagen darf, ohne dich zu kränken.«

      »Mich herbestellt zu haben?«, wiederholt er lächelnd, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Hohn auszuformulieren.

      »Nun, wir haben Unmengen Arbeit«, sage ich.

      »Unten hab ich selbst genug Arbeit«, sagt er. »Aber ich hatte Lust, raufzukommen und euch zu besuchen.«

      »Uns zu besuchen? Das soll ein Besuch sein? Morgens um sieben an einem ganz gewöhnlichen Wochentag? Wenn wir die Ställe ausmisten, die Kühe melken und Wasser holen müssen?«

      »Winnie Dunne unten hat gemeint, das wär schon in Ordnung. Dass ihr mich vielleicht gebrauchen könnt. Einen Zaun reparieren oder was Schweres schleppen. So was in der Art.«

      »Bist du auf Schillinge aus? Ich hab nicht mal ’n halben Penny im Haus, solange ich nicht in Kiltegan meine Eier verkauft habe.«

      »Ich brauche deine Schillinge nicht, Annie Dunne«, sagt er und lacht.

      Jetzt bin ich leicht verwirrt, verstört. Es ist ungehörig, einem Tagelöhner gegenüber von Geld zu sprechen. Ich weiß auch nicht, warum ich mich zu einer so törichten Bemerkung habe hinreißen lassen. Ich bin wütend auf mich selbst. Aber ich weiß nicht, was der Mann will. Seine Unverfrorenheit ist irritierend.

      Jetzt kommt Sarah wieder aus dem Zimmer, blitzsauber und wie aus dem Ei gepellt. Ihre schönen weißen Haare hat sie zu einem Knoten aufgesteckt. Normalerweise hängen sie an ihren Wangen herab wie rankender Efeu. Sie hat die alte braune Haarnadel benutzt, die meine Mutter zurückgelassen hat. Während ihrer letzten Krankheit hatte meine Mutter damit ihr kraftloses Haar zusammengehalten. Als sie starb, fand ich die Nadel auf ihrem Nachttisch, und zur Erinnerung habe ich sie behalten.

      Sarah geht zu dem brodelnden Kessel und erlöst ihn aus seiner Aufregung, indem sie den Schwenkarm wegdreht. Sie spült die Teekanne mit einem Schwapp heißen Wassers aus, gibt dann vier Löffelvoll Tee hinein und gießt ihn, so schnell sie kann, mit überreichlich Wasser auf. Vier Löffelvoll verheißen nichts Gutes. Ein Löffel für jede von uns und einer für die Kanne. Die Kinder sind an Tee nicht interessiert. Normalerweise würde sie also nur drei Löffelvoll hineintun.

      All das ermutigt Billy Kerr, näher heranzutreten und Sarah ein breites Lächeln zu schenken, was diese wahrscheinlich nicht weiter beachtet. Er kann so gut zählen wie ich, in unserer Kindheit sind wir alle auf dieselbe Schule gegangen, er allerdings bestimmt zehn Jahre nach uns, vermutlich noch länger. Er nickt, als habe jemand etwas gesagt, dem er zustimmt. Aber es hat niemand gesprochen. Sarah stellt drei blau-weiße Tassen auf den Tisch und daneben die Teekanne, die Schale mit den Zuckerstücken und den Krug Milch. Das diffuse Licht weidet sich an den Brüchen in der Glasur dieser armseligen Gegenstände. Sarah hebt das Gesicht und fragt ohne jeden Anflug von Freude oder Traurigkeit oder irgendetwas dazwischen:

      »Einen Tee gegen den Durst?«

      »Gern«, sagt Billy Kerr und tritt näher.

      Ich gehe hinüber, nehme den kleinen Jungen beim Arm und führe ihn vom Tisch weg. Solange ich zu verwirrt bin, um klar zu denken, kann ich keinen Tee trinken.

      »Ich geh den Eimer auffüllen«, sage ich so neutral wie ein Diplomat.

      »Oh, willst du deinen Tee nicht trinken?«, fragt Sarah aufrichtig erstaunt.

      »Stülp den Teewärmer drüber, Sarah, Liebes.«

      »Gut, Annie«, sagt sie.

      Ich ertappe mich dabei, wie ich Billy Kerr zunicke. Es ist schwer, einen Raum ohne wenigstens ein Kopfnicken zu verlassen, aber lieber hätte ich es vermieden.

      »Gut«, sagt er, was immer er damit meint. Vielleicht ist es ja nur ein Echo auf das, was Sarah gesagt hat. »Auf Wiedersehen, kleiner Fratz«, sagt er zu dem Jungen, als der an ihm vorübergeht oder vielmehr von mir mitgezerrt wird. Meine Niederlage ist mir dank der Röte, die in meine Wangen steigt, nur zu deutlich anzusehen.

      Ich gehe hinaus auf den Hof und ziehe den Zweifel hinter mir her wie ein Komet seinen feurigen Schweif.

       Drittes Kapitel

      Ich stehe so reglos im Hof wie eine Kuh mit ihrem Kalb bei drückender Sommerhitze. Der Eimer in meiner Hand gibt leise quietschende Geräusche von sich.

      Was ist das für ein Altwerden, wenn selbst der Motor, der unsere Verzweiflung und unsere Hoffnung im Gleichgewicht hält, anfängt, uns im Stich zu lassen?

      Sie ist alt, Sarah Cullen, o ja, genau wie ich. Geboren in den letzten Zuckungen des vergangenen Jahrhunderts, im Winter 1898. Ich kam zwei Jahre später zur Welt, zufälligerweise der gleiche Altersunterschied wie bei den Kindern.

      Sie war ein wunderschönes kleines Mädchen, mit zerzaustem weizenblondem Haar. Nichts bekümmerte sie, stets war sie guter Dinge.

      Zwischen