Annie Dunne. Sebastian Barry

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Название Annie Dunne
Автор произведения Sebastian Barry
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958299412



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ich danke Gott für Sarah Cullen. So viele Jahre habe ich nun schon mit ihr verbracht, seit Matthew mich in Dublin aus dem Haus gejagt hat. Ein Verbrechen, das ich ihm ewig vorwerfen werde. Sich auf eine andere Frau einzulassen, wo meine Schwester Maud gerade mal zwei Jahre unter der Erde lag. Für kurze Zeit hatte ich die Hoffnung, er wäre damit zufrieden, dass ihm eine Frau den Haushalt führt, nun, da die arme Maud von uns gegangen war. Aber das war nicht der Fall. Er wollte wieder heiraten und war an seiner Schwägerin mit ihrem verkrümmten Rücken offenbar nicht interessiert. Als Maud noch lebte, sagte er immer scherzhaft: »Annie, du trägst ja den Mond auf dem Rücken«, ein netter Spruch. Aber ich glaube nicht, dass er ihm noch wie der Mond vorkam, als er sich mit dem Gedanken trug, ein zweites Mal zu heiraten. Sei’s drum. Es ist eine schlimme, vielleicht sogar eine schmutzige Geschichte. Es war eine schreckliche Zeit, und Sarah Cullen nahm mich auf.

      Was mich in den letzten Jahren gequält hat, war die Angst, meine letzte Zuflucht in dieser Welt zu verlieren, die linke Seite von Sarahs Bett und dieses kleine Gehöft. Nur ein paar von den Hennen habe ich mitgebracht, diese Rhode Island Reds, die im Hof umherstolzieren, was fast zum Lachen ist, und die Kraft meines Körpers. Mein jetziges Vermögen besteht nur aus der Kraft, die mir geblieben ist, und aus der Erfahrung, die ich mit den täglichen Verrichtungen habe, mit dem Stall, der Milchkammer, dem Misthaufen, dem Brunnen, dem Kaminfeuer. Wäre das alles nicht, ich hätte keinen Wert mehr.

      Die Anstalt ist ein grausiger Ort. Dorthin kommen die Obdachlosen und die Notleidenden, die verwelkten Mädchen und die alten Junggesellen, die der Regen am Ende um den Verstand gebracht hat. Das weiß ich, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Es ist schrecklich für mich, dass mein armer Vater dort gestorben ist, ganz allein und wirr im Kopf.

      Der Regen von Wicklow trägt den Irrsinn in sich wie eine Krankheit, wie ein Fieber.

      Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich wie festgenagelt mit dem Jungen im Hof stehe. Den Eimer habe ich in der Hand, aber ich kann mich nicht fortbewegen.

      Auf der anderen Seite unserer Grundstücksgrenze, die von einem Feldweg markiert wird, sehe ich die gebeugte Gestalt Mary Callans, die vom Brunnen zurückkehrt.

      Sie ist eine wahre Meisterin, wenn es darum geht, Schlamm und Zweige vom Boden eines Brunnens aufzuwirbeln. Es ist eine Strafe, sich einen Brunnen mit ihr teilen zu müssen, so wie wir das tun. Früher hieß es, mit dem ersten Wasser am Morgen schöpfe man das Glück des Brunnens in seinen Eimer. Mary Callan ist sicher alt genug, um daran zu glauben, denn sie muss schon in ihren Neunzigern sein. Sie hat ein Feld und eine Milchkuh und ein Haus, das nur aus einem Raum besteht, und jetzt hat sie das Glück dieses Tages in ihrem randvollen Eimer. Es wird mindestens eine Stunde dauern, bis sich der Unrat wieder gesetzt hat.

      Manchmal geht sie auch direkt mit ihrem alten geschwärzten Kessel zum Brunnen und füllt ihn. Was eine richtige Schmiere auf dem Wasser hinterlässt. Ein Gefäß, das über dem Feuer hängt, bekommt man nicht wirklich sauber, und ich bin sicher, dass sie es gar nicht erst versucht. Sie ist eine böse, altmodische Frau.

      Aber das ist nicht das Einzige, was mich aufhält. Ich fühle mich wie eine Frau, die ihre Handschuhe im Bus vergessen hat, schöne weiche Lederhandschuhe im Bus aus Dublin, und es nicht gleich merkt, ihren Verlust aber schon deutlich spürt. Was mich aufhält, ist, dass ich Sarah mit Billy Kerr allein gelassen habe.

      Der Junge sieht mich verwundert an.

      »Kind, wir müssen wieder reingehen.«

      Und so gehe ich wieder hinein, den Jungen noch an der Hand, trete aus dem angenehmen Sonnenlicht in die Küche mit ihren vielen Schatten. Das kleine Mädchen hat sich schon davongemacht.

      Sarah steht mit dem Rücken zum Torffeuer und wärmt sich die langen Knochen, Billy Kerr sitzt lässig und wie selbstverständlich auf einer der Steinbänke neben dem Kamin. Keiner von beiden spricht. Es herrscht jene Art Schweigen, wie die Leute auf dem Land es in Jahrhunderten beim Teetrinken kultiviert haben. In diesem Schweigen kann vieles zur Sprache kommen, es ist gefährlich.

      »Was gibt’s, Annie?«, fragt Sarah.

      »Ich kann gerade kein Wasser holen. Mary Callan ist mir zuvorgekommen. Das ist der Preis, den man fürs Trödeln zahlt«, sage ich mit einem Kopfnicken in Sarahs Richtung. »Und dann noch ihre Kuh«, sage ich, aber Billy Kerr unterbricht mich mit einem erstaunten Blick.

      »Was ist mit ihrer Kuh?«, fragt Sarah.

      »Was, Annie Dunne?«, fragt Billy Kerr skeptisch.

      »Blut in der Milch«, antworte ich bestimmt. »Die gehört von Rechts wegen geschlachtet.«

      »Meinst du wirklich, Annie Dunne?«, fragt er. »Das ist ein bisschen unchristlich. Die Kuh ist alles, was sie besitzt. Sie braucht sie zum Leben.«

      »Sie ist eine schmutzige alte Frau, die im Dreck haust, das ist die Wahrheit«, sage ich und ärgere mich sofort über den Zorn, der in mir aufgestiegen ist. Mein Vater sagte immer, manche Leute verwechseln Freundlichkeit mit Dummheit. Nicht, dass das bei mir zu befürchten wäre. Aber es gibt eine andere Art von Dummheit, die Dummheit einer zornigen Frau.

      »Du wunderst dich vielleicht, dass ich mich für sie einsetze«, sagt Billy Kerr. »Ich kenne sie kaum, das stimmt, auch wenn sie schon mein ganzes Leben lang auf der anderen Seite von eurem Feldweg lebt. Ihre Kuh kenne ich auch nicht besonders gut, hab sie nur aus der Ferne gesehen. Aber sie ist nun mal die Cousine meiner Mutter und eine anständige, vernünftige Frau. Bei uns nennen wir sie Nanny Callan.«

      »Blut in der Milch«, sage ich noch einmal, aber nicht weil ich Spaß daran hätte, sondern nur, weil ich so dumm gewesen war, selbst das Gespräch anzufangen. »Ich fürchte mich davor, was sie im Brunnen zurücklässt. Sie hat nur den einen Eimer, das weiß ich, zum Melken und zum Wasserholen.«

      »Ich bin mir sicher, dass Mary Callan mehr als nur den einen Eimer hat«, sagt Billy Kerr. »Verkaufen die Kesselflicker sie nicht für zwei Pence an den Haustüren? Jedenfalls ist sie meine Cousine. Das sollte Grund genug für dich sein, nicht mehr über sie herzuziehen.«

      »Hier ist doch jeder mit jedem verwandt«, sage ich aufgebracht, mehr über mich selbst als über ihn. Was geht mich seine verdammte Verwandtschaft an? Nichts.

      »Er könnte sogar mit dir verwandt sein, Annie«, sagt Sarah in einem vernünftigen, arglosen Ton, an dem nichts Gespieltes ist.

      »Hoffentlich nicht allzu eng, bei dem, was er vorhat!«

      »Was meinst du damit, Annie?«, fragt sie, und ein Schleier der Furcht legt sich über ihr offenes, unschuldsvolles Gesicht.

      »Er weiß genau, was ich meine.«

      »Tu ich nicht«, sagt er auf eine Art, die jeden Richter überzeugen würde.

      »Tut er wohl«, sage ich.

      Aber sicher bin ich mir nicht. Und Sarah sieht mich nicht an. Sie kann nichts dafür. Sie ist in eine Träumerei versunken. Das ist ein Trick von ihr, ihre Art – ich weiß auch nicht, vielleicht, mich zu ertragen. Gott steh mir bei! Typisch Billy Kerr, einen so durcheinanderzubringen. Ich muss ihn irgendwie aus dem Haus bekommen. Oh, wie er es genießt, mich auf die Palme zu bringen.

      »Mary Callan hat mit zwei Pence oder mit irgendwelchen Eimern von Kesselflickern nichts am Hut«, sprudele ich hervor wie ein undichter Wasserhahn. Die höfliche Verachtung in meiner Stimme würde selbst einer Löwin die Kraft rauben. »In ihrem Haus gab’s nie Geld, so viel steht fest. Ihre Vorfahren waren Pachthäusler. Das kleine Haus mit dem einen Raum besteht nur aus Lehmwänden. Die Hungersnöte des letzten Jahrhunderts haben ihr die Familie genommen. 1872, man erinnert sich noch gut daran, als viele hier den Hungertod starben, hat es fast ihre ganze Verwandtschaft erwischt, sieben oder acht, die hier in der Gegend wohnten. Nur sie und ihr Vater blieben übrig. Damals war sie ein kleines Ding von fünfzehn Jahren. Angeblich ist sie jetzt hundertzwei.«

      Was rede ich da? Das reinste Gänsegeschnatter.

      »Annie Dunne«, sagt Billy Kerr. »Eigentlich hast du richtig Humor.«

      »Nachher fahren wir runter nach