SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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Ärzte logen wie gedruckt. Es ging ihr doch viel besser, als sie sagten. Wieso sollte sie ihnen glauben? Menschen ihres Alters überlebten Corona immer, das hatte sie aus den Nachrichten schon mitbekommen.

      Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass es ihr gut ginge, sie viel zu jung sei, um daran zu sterben. Sie lachte fast, fühlte sie sich, umringt von diesen Leuten in futuristischen Katastrophenanzügen, doch wie in einem Film, in irgendeiner lächerlichen Szene gefangen. Aber ihr Lachen verwandelte sich bloß in Husten.

      Die Ärztin, die Psychologin und die Krankenschwester, die nun zwischen ihnen herumwuselte und Jennys Tropf überprüfte, tippelten mit hilflosen Mienen von einem Fuß auf den anderen. Bis die Ärztin, brünett wie Jenny, an ihr Bett herantrat, um erneut mit ihr zu sprechen.

      Allein liegend im Bett ein Gespräch zu führen, empfand Jenny als Niederlage. Ihr Inneres wehrte sich dagegen, im Liegen zu der Ärztin oder wem auch immer aufzusehen. Das war zu viel, eine Zumutung, wenn sie schon hier sein musste. Wegen der Augenhöhe grinste sie nicht ohne einen gewissen Sarkasmus in sich hinein, als sie sogleich ihre Position im Bett veränderte und ihren Oberkörper aufrichtete. Ihr wurde schwindelig dabei. Doch so sah sie die Ärztin ein wenig genauer. Die Frau hatte ein faltiges Gesicht. Das konnte Jenny trotz ihres Mundschutzes und des Schutzanzuges erkennen – diese Krähenfüße um die Augen. Da fühlte sie sich nicht mehr so unterlegen und Jenny lächelte zaghaft.

      »Ihre Coronainfektion an sich ist tatsächlich nicht das entscheidende Problem«, erläuterte die Ärztin, als ob Jenny nicht schon wüsste, dass diese Fake-News-Krankheit aus dem Radio nicht schlimm wäre. Ihr Blick klebte in diesem Moment auf Jennys Augen wie Pattex. »Die Coronainfektion hat nur zutage gefördert, was in Kürze evident, also offensichtlich, geworden wäre. Ihre eigentliche Erkrankung.«

      Sie räusperte sich, die Krankenschwester räusperte sich und die Psychologin dann auch, die verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Das musste ansteckend sein. Ein Räusper-Virus, der sich auf Stimmbänder legte und verlegen machte. ›Ein gesellschaftlicher Virus‹, dachte Jenny ironisch. ›Corona pack ich‹, war sie sich sicher nach dem, was sie im Radio gehört hatte. Das war das nur so ein Ausrutscher wie die höchstwahrscheinlich missglückte Matheklausur. Sie straffte ihren Rücken und lächelte die Mediziner siegesgewiss an.

      Die Ärztin fasste sich mit Worten kurz, die bei Jenny wie ein Stakkato der Tatsachen ankam, als es um das Wesentliche ging: die Covid-19, also die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit, begünstigende Vorerkrankung. Es war ein Tumor hinter ihrem Auge. Der sei genetisch bedingt, erblich. Sie habe nichts falsch gemacht, könne gar nichts dafür, erklärte die Ärztin vorsorglich.

      ›Vorhersehung‹, knallte es Jenny daraufhin aus dem Geschichtsunterricht in das beschädigte Hirn. Adolf in ihrer Birne, dachte sie, sich an den Geschichtsunterricht erinnernd, dass das eines seiner Lieblingswörter gewesen war, und zog ihre dünne Bettdecke schützend über ihr Gesicht. Sie lachte innerlich hässlich und ihr fiel ein Lieblingslied ihrer Mutter ein, alt, Neue Deutsche Welle, aber sie hörte es oft, weil es ihr irgendwie ihre Mutter beschrieb: ›hässlich, ich bin so hässlich, so grässlich hässlich‹. So war nun Jenny wie ihr Vater. ›Ich bin der Hass, hassen, ganz hässlich hassen‹, genau das würde ihre Mutter empfinden, denn sie, Jenny, die Hoffnung für die ganze Familie, aus Marzahn wegzukommen, war nun genauso nutzlos wie ihr Vater! ›Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt und bring’ die Liebe mit, von meinem Himmelsritt‹ würde nicht mehr gelingen, wenn sie stürbe. Sie brächte nur Elend mit. ›Denn die Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, die macht viel Spaß, viel mehr Spaß, als irgendwas.‹ Hatte ihre Mutter den Spaß und die Liebe vermisst? Liebe war kein Spaß, sie war viel mehr, auch das fühlte Jenny, denn sie hatte ihren Vater geliebt. War sie, Jenny, deshalb hier, nicht wegen des Spaßes, aber wegen der Liebe? Ein unerwünschtes Resultat von Liebe? Ein genetischer Defekt? Sie war der Kollateralschaden ihrer Familie. Das war sie.

      Jenny schloss die Augen und zog sich zurück in ihr inneres Gehäuse; an sich nützlich, aber nun war sie ansteckend krank und dem Tod geweiht und damit umso mehr unanfassbar eklig wie eine schleimige Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzog.

      »Wenn Sie Ängste empfinden, vielleicht Fragen haben, die Sie noch beantwortet wissen wollen, wenn Sie sich nach empathischer Begleitung sehnen«, hob die Psychologin nach wie vor unruhig hin und her tretend an, »können Sie mich jederzeit dienstags bis donnerstags in der Zeit zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr hier über das Haustelefon anrufen. Ich habe die Einhundertzwölf!« Jenny wünschte sich einen der Eimer ihrer Mutter neben ihrem Bett, wünschte sich, die Psychologin zu sich hinabzuziehen, den Eimer zu nehmen und ihr das Wasser über dem Kopf auszuschütten. Jenny sagte nichts, aber sie sah die Psychologin mit einem durchdringend vernichtenden Blick an. Was für eine Farce. Die Ärztin, die Psychologin, das Sterben. Alles war nur noch lächerlich. Sie wollte nach Hause.

      Die Ärztin spürte die Spannung im Krankenzimmer. Sie hielt den sachlichen Vortrag für den besten Weg, mit Jenny umzugehen. Wehtun würde der Tumor nicht, fuhr sie fort, während Jenny sich verkroch. Sie wollte hören, wie es um sie stand, gleichwohl wissend, dass ihr dieses Wissen zu viel sein würde. Denn palliativ würden sie die Schmerzen in den Griff kriegen. Keine Frage. Es war eine besonders aggressive Variante. Er würde sie nur sterben lassen. Jenny wusste nicht, was mit ›palliativ‹ gemeint war. Sie kannte das Wort nur in Zusammenhang mit alten Leuten. Und sie hörte gar nicht mehr richtig hin.

      ›Psycho-Kanaken‹, erfand Jenny für sich einen Begriff für die fähige Ärztin, die ihr so sachlich das Todesurteil verkündet hatte, und die Psychologin, die größtenteils geschwiegen und sich dann in Allgemeinplätzen ergangen hatte. Schwarzverfärbter Zynismus, wusste sie, war eine Leidenschaft im Verborgenen in ihr.

      Die Psychologin war eine ›HP‹, wie ihr Namensschild verriet, eine Heilpraktikerin. Also nichts, was ernstzunehmen war. Sie tat ja nichts, um ihr, Jenny, wirklich zu helfen, außer ihr Ende kommunikativ vorweg zu nehmen, zu dem Jenny noch gar nicht bereit war. Die Psychologin war bezahltes Beiwerk, wie Jenny lakonisch feststellte.

      Vielleicht zehn Wochen hatte sie noch, wenn sie die Covid-19-Erkrankung in den Griff bekämen, sagte die Ärztin. Sie riet zu einer Wohngruppe in einem Hospiz – noch so ein Wort, das Jenny nur von alten Menschen her kannte, die bald stürben. War sie nun wie solche Menschen?

      Sie schlug die Bettdecke zurück. »Ich möchte nach Hause.«

      Doch sie kam nie wieder nach Hause. Die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit klang binnen zwei Wochen ab. Jenny war eine starke junge Frau, zumindest stärker als das Virus. Doch der Tumor übernahm danach die Kontrolle über sie. Sie durfte nicht mehr heim, wurde gepflegt in einer Einrichtung. Sie blieb allein dort. Allein mit ihrer Angst. Denn dieser Tumor ängstigte sie, die Aussicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Nie verlor sie die Kontrolle – nie! Wer aus Marzahn raus wollte, konnte dies nur planvoll kontrolliert schaffen. Doch nachdem sie von Covid-19 genesen war und danach noch wegen der Quarantäne im Krankenhaus, fand sie ihr Gleichgewicht nicht mehr wieder, wenn sie aufstand, obwohl sie in diesen Momenten tief in ihrem Inneren zweifelte, je ihr Gleichgewicht gehabt zu haben. Das aber konnte gar nicht sein: die Kontrolle verloren zu haben! Früher hatte ihr Körper stets gerade Gewehr bei Fuß gestanden. Jetzt wankte Jenny, kaum dass sie aufgestanden war, und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sie straffte ihr Kreuz und selbst das half nicht.

      Wenn das Tablett mit dem Mittagessen im Krankenhaus gegen zwölf Uhr zu ihr kam, sah sie das Tablett doppelt und griff häufig ins Leere. Wenn sie aufstand, schlingerte sie dem Bad entgegen wie eine Betrunkene und prallte schmerzhaft auf die Wand einen halben Meter neben der Tür. Sie rieb sich die Stirn, die ihr wieder normal warm vorkam, aber was nützte ihr das gegenüber einem übermächtigen tödlichen Feind, der in ihrem wichtigsten Körperteil, ihrem Gehirn, einen Mord – ihre Ermordung vorbereitete?

      Sie schob die öde dünne Bettdecke ganz langsam beiseite, sie hatte Zeit, die ganzen Tage hier in der Klinik dehnten die Stunden und Minuten, hatte sie vielleicht unendlich Zeit? Sie betrachtete ihren Körper. Ein schöner Körper, schlank, damit war alles okay – alles bestens – eigentlich. Ging es ihr zeitweise sehr viel besser, erschienen vor ihrem inneren Auge junge Männer, die sie kannte. Aber sie hatte keine Lust auf sie. Wobei,