Название | Medizin und Gesellschaft |
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Автор произведения | Andreas Kögel |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170372962 |
1.3.5 Organisierte Krankenbehandlung
Vogd nennt seine systemtheoretische Analyse des Medizinsystems »Soziologie der organisierten Krankenbehandlung«. Mit dieser sperrigen Bezeichnung tut er einen Schritt neben die Medizin und vermeidet die Übernahme ihrer eigenen Ansprüche und Selbstdeutungen. Medizin ist bei Vogd eine kulturelle Praxis zum Umgang mit Krankheit. Krankheit ist eine unberechenbare Störung der gesellschaftlichen Verhältnisse und dank der Medizin kann die Gesellschaft darauf »in einer vertrauten, sich selbst bestätigenden und plausibilisierenden Weise antworten«.53 Medizin ist gleichzeitig Kommunikation, Handlungspraxis; sie begründet Traditionen bzw. schließt an vorhandene an. Sie vergleicht das Eigene mit dem Anderen, folgt aber einer eigenen Logik und hat damit eine Eigendynamik. Vogd orientiert sich dabei an der Systemtheorie Luhmanns und an der Wissenssoziologie.
»Im Sinne eines originär soziologischen Blickes lohnt es sich, zunächst von den allzu offensichtlichen Aspekten der Krankenbehandlung abzusehen. Aus analytischen Gründen ist hier zunächst einzuklammern, dass es kranke Körper, Keime, Organversagen, chirurgische Eingriffe, Spritzen, Pillen, Bestrahlungen, Röntgenbilder etc. gibt. Dieser Schritt ist notwendig, um sich von den vertrauten Kausalitätsvorstellungen des Common Sense zu lösen, und damit brauchen wir weder davon auszugehen noch infrage zu stellen, dass Medizin selbst dann attraktiv ist, wenn die Heilungschancen fraglich sind, wenn die Evidenz und Effizienz ihrer Organisationsweisen nicht nachgewiesen ist und wenn ihre Veranstaltungen eine solche Zumutung darstellen, dass man sich eigentlich wundern müsste, warum die Beteiligten so selten die Behandlungen verweigern.«54
Es geht Vogd also nicht um eine pauschale Medizinkritik, wie sie Ivan Illich 1977 formuliert hatte,55 sondern um die Herstellung einer größeren Distanz zum Medizinsystem und dessen Selbstbeschreibung. Die Konzentration auf den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit und Kranken lässt damit die heutige Betonung der Gesundheit außer Acht, ebenso die Grenzbereiche der Medizin. Diese werden im folgenden Abschnitt angerissen.
1.3.6 Jenseits von Krankheit – Enhancement und Kosmetik
Medizinische Wissenschaft und medizinisches Handeln hat nicht immer das Behandeln von Kranken bzw. die Sicherstellung von Gesundheit als Gegenstand. Die folgende Abbildung steckt ein weiteres Feld mit Tätigkeiten ab, die medizinischem Handeln ähnlich sind und/oder von Medizinern und Medizinerinnen bzw. medizinischem Personal durchgeführt werden (
Abb. 7b: Medizinische Grenzbereiche
Zwei wichtige biomedizinische Bereiche sind Kosmetik/Ästhetik und Enhancement.
Kosmetik/Ästhetik
Kosmetik/Ästhetik umfasst Eingriffe in den menschlichen Organismus, die allein oder vorrangig ästhetische Ziele verfolgen. Das kann medizinisch indiziert sein, im Nachgang von Unfällen oder zur Milderung von genetischen Schäden. Aber es kann auch allein der ästhetischen Optimierung des eigenen Aussehens dienen – wie Schönheitsoperationen, die Veränderung von Körperteilen oder die Beseitigung von als unschön empfundenen Abweichungen von aktuellen Normen oder Moden.
Eine scharfe Grenze wird sich hier nicht ziehen lassen und die Grauzonen dürften aus konkreten Streitfällen um Kostenübernahmen durch die Krankenkassen geläufig sein: Nasenbegradigungen, Brustverkleinerungen oder -vergrößerungen, Haar- und Hautverpflanzungen, Faltenglättung und Lifting, Kieferorthopädie, Tattoo-Entfernung u. v. m. Geht es nicht um unstrittige Restaurationen, kann eine medizinische Notwendigkeit mit einer psychosozialen Belastung durch den Ist-Zustand oder mit möglichen zukünftigen Gesundheitsschäden begründet werden. Gerade ein biopsychosoziales Krankheitsmodell unterstützt die Ausweitung medizinischer Indikationen in diese Grauzonen; aus rein biomedizinscher Sicht darf die Nase groß oder klein, gebogen oder gerade sein, solange sie ihre biologischen Funktionen erfüllt. Diese Grenze medizinischer Zuständigkeit fällt bei der Mitberücksichtigung einer psychosozialen Belastung weg: Das Subjekt S findet seine Nase unansehnlich und hat das Gefühl, deshalb angestarrt zu werden, ggf. wurde es als Kind gehänselt oder es befürchtet Einschränkungen für seine Karriere, da schöne Menschen nachgewiesenermaßen mehr Erfolg im Leben haben. Und dies gilt noch stärker für Frauen als für Männer, augenfällig in Bezug auf repräsentative Tätigkeiten wie z. B. Nachrichtensprecherin oder Musikerin. Aktuell wird diese Debatte in Deutschland wieder für kieferorthopädische Behandlungen bei Heranwachsenden geführt, nachdem der Bundesrechnungshof eine fehlende wissenschaftliche Evidenz bemängelt hatte für das medizinische Narrativ, wonach nicht korrekt stehende Zähne später anfälliger für Schäden seien.57 Zu klären ist, ab wann schiefe Zähne als Gesundheitsproblem und nicht mehr als kosmetisches Problem kategorisiert werden können; und wie bzw. ob der psychosoziale Aspekt berücksichtigt wird.
Enhancement
Neben ästhetisch-kosmetischen Behandlungen steht der Bereich des Enhancement. Enhancement ist die Verbesserung bzw. Erweiterung der Fähigkeiten des menschlichen Körpers. Enhancement kann selbstverständlich wiederum ästhetische Aspekte haben, der Schwerpunkt liegt aber in der Sport- und Arbeitsmedizin bzw. im militärischen Bereich. Auch hier ist der medizinische Charakter in einer kurativen bzw. restaurativen Anwendung begründet, reicht aber weit darüber hinaus. Kurativ bzw. restaurativ wäre die Vermeidung und Behandlung von Sportverletzungen oder chronischen Trainingsfolgen wie Gelenkverschleiß. Eine Erweiterung ist bereits die Begleitung des Leistungssports, der an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit und damit auch an die Grenzen eines gesunden Körpereinsatzes geht. Die nächste Stufe liegt in der gezielten Leistungssteigerung, für die ab einem gewissen Punkt der sportliche Erfolg höher gewichtet wird als die Gesundheit des Sportlers oder der Sportlerin.58 Eine Nachfrage nach Leistungssteigerung, um im Wettbewerb bestehen zu können, findet sich ebenso in der Arbeitswelt, im Bildungsbereich und im Militär.
Aus soziologischer Sicht sind hier zwei Aspekte besonders wichtig: Erstens gibt es keine klare Grenze zwischen Gesundheitserhaltung, Fitnesssteigerung und Enhancement bis hin zu moralisch und oder rechtlich sanktioniertem Doping. Grenzziehungen müssen daher gesellschaftlich ausgehandelt oder verschleiert werden. Zweitens ist keine nachweisbare Wirksamkeit der jeweiligen Verfahren erforderlich, manchmal ist sie auch gar nicht möglich. Es kann genügen, wenn man z. B. durch die Einnahme einer Tablette das Gefühl hat, sich besser konzentrieren zu können. Das einzelne Subjekt hat keine Möglichkeit, einen etwaigen pharmazeutischen Effekt vom Placeboeffekt zu unterscheiden. Viele medizinische Handlungen greifen in den Bereich der Techno-Esoterik und wirken (vermutlich oder belegt) alleine oder überwiegend durch ihre technisch-wissenschaftlich-operative Anmutung