Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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bestens vorbereitet und werde im Ernstfall die Deutschen binnen drei Monaten schlagen, lasen sie mit Skepsis. Und doch kam auch weiterhin jede Woche die gewohnte Gerstenlieferung in der Brauerei Teitel an, wurde in der Mälzerei im Untergeschoss weiterverarbeitet und im Trockenturm getrocknet. Die Arbeiter – gut die Hälfte der Brauereiangestellten waren katholische Polen – rührten so wie eh und je die in den Bottichen gärende Maische und die Bierwürze in den Sudkesseln. Noch immer wurden auf dem Hof der Brauerei Kisten mit Bierflaschen auf Chevrolet-Lastwagen verladen, um sie zu Abnehmern in ganz Polen zu befördern. Die Teitel-Kinder, Hannan und Regina mit ihren Cousinen – zwei von Icoks vier Kindern, die dreizehnjährige Szulamit und die siebzehnjährige Pesja, lebten ebenfalls auf dem Gelände; eine weitere Cousine, die siebenjährige Emma Perelgric aus Warschau, war über den Sommer zu Besuch –, spielten wie gewohnt im Vorhof sowie in dem Gemüsegarten hinter dem Haus. Aber wenn die Erwachsenen des Abends zusammensaßen, dann debattierten sie über Chancen und Risiken und fragten sich, was sie tun sollten.

      Am 6. September 1939, sechs Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, flohen die Teitels mit zweien der 133 Chevrolet HS-Motorlastwagen, die sich im Fuhrpark der Brauerei befanden, aus der Stadt – Wagen desselben Modells, das mein Vater fast drei Jahre später im Iran wiederfinden sollte. Bis unter die Decke des Laderaums packten sie die Wagen voll: mit Brot und Käse, Obst und Gemüse, Kartons mit Eiern und so viel haltbaren Lebensmitteln, wie sie bekommen konnten. Dazu noch schwere Wintermäntel, Decken, Kissen, etwas Kleidung. Seife und Handtücher. Bargeld, Schmuck, Uhren, überhaupt alles an Gold und Silber. Sie packten ihre cancartas ein – ihre polnischen Personalausweise – und ihre Abschlusszeugnisse des örtlichen Gymnasiums, dazu die Grundbuchauszüge über ihre Grundstücke und Häuser in Ostrów – einschließlich der Brauerei und fünf Wohnungen – sowie ihre Heirats- und Geburtsurkunden und ein Fotoalbum.

      Meine Tante Regina hat mir die Szene in dem ersten der vielen Gespräche geschildert, bei denen ich sie während meiner Sommerbesuche in Israel interviewt habe. Anfangs war sie zurückhaltend, wollte nicht reden – „izvi“, sagte sie zuerst, „lass doch!“, „lass gut sein!“ und „lass uns über dich reden“ –, aber je mehr ich selbst in Erfahrung gebracht hatte und je präziser meine Fragen wurden, desto reicher sprudelten die Details aus ihr hervor. Wir trafen uns in ihrer großzügigen Wohnung in einem Hochhausneubau in Ramat ha’Scharon, einem Vorort von Tel Aviv, wo sie mir Hühnersuppe, Obst und Kekse auftischte, um sich dann zu mir zu setzen und – hoch konzentriert und ernst – meine Fragen so umfassend und genau wie möglich zu beantworten. Wenn sie doch einmal zögerte, dann sagte sie etwa: „Ich glaube, das war so und so“ oder „Ich bin mir nicht sicher, dass das an diesem oder jenem Tag geschah.“ Was sie aber aussagte, hatte Bestand; nie zog sie es im Nachhinein in Zweifel. Auch vermied sie es, die Lücken durch Spekulationen aufzufüllen, wenn sie etwas beim besten Willen nicht wusste, sondern sagte: „Ich war ein kleines Mädchen, das weiß ich nicht mehr“ oder „Dein Vater hätte das gewusst!“ Wenn sie sich bei einem bestimmten Detail ganz sicher war, dann hielt sie daran fest, und jedes Mal, wenn ich später Gelegenheit hatte, ihre Aussagen anhand von unabhängigen Quellen zu überprüfen, stellte sich heraus, dass sie recht gehabt hatte.

      Während ihr Vater und ihr Onkel die Lastwagen beluden, sagte meine Tante, seien Dutzende von jüdischen Stadtbewohnern nach und nach zur Brauerei gekommen und hätten große Bündel Bargeld angeboten, wenn man sie nur mitnähme. Aber auf den Lieferwagen waren keine Plätze mehr frei. Der zwölfjährige Hannan, die achtjährige Regina und ihre Eltern nahmen den kleineren der beiden Wagen. In den größeren zwängten sich alle anderen: die Großmutter Fejge Teitel, 77 Jahre alt; die siebenjährige Emma (später Noemi) Perelgric; zwei weitere Verwandte, Berek Teitel und seine Frau Chaja; und ihr Onkel Icok mit seiner Frau Leja und ihren zwei jüngsten Töchtern. (Icoks ältestes Kind, der 24-jährige Ze’ev [mit dem Geburtsnamen Wolf], befand sich bereits für drei Jahre zum Ingenieursstudium am Technikum in Haifa, und die Zweitälteste, Ruchela, 21 Jahre alt, wohnte mit ihrem Verlobten in Warschau.) Die jüngeren Kinder saßen auf Decken, die im Laderaum der Lastwagen über große Kisten gelegt worden waren. Chaja und Berek waren auf der mittleren Sitzbank zwischen Kartons mit Eiern eingeklemmt. Als Chaja sich über die Unbequemlichkeit der Lage beschwerte, warf ihr Fejge einen scharfen Blick aus ihren blauen, hervortretenden Augen zu und sagte kühl: „Jetzt ist Krieg, da ist alles anders.“ Lebhaft erinnerte sich Regina an diese Worte und an den starren Blick ihrer Großmutter.

      Die Lastwagen rollten durch das große Metalltor mit der Aufschrift BROWAR PAROWY BRACI TEITEL („Dampfbrauerei Gebrüder Teitel“). Dann bogen sie links auf die Borkowska-Straße ab, dann nach rechts, dann wieder nach links in Richtung Białystok. Ihr Zuhause sollten sie niemals wiedersehen.

      Obwohl Regina (inzwischen Riwka) und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Cousine Emma (inzwischen Noemi) sich als hervorragende Informationsquellen erwiesen, suchte ich doch weiterhin verzweifelt nach der Zeugenaussage, die mein Vater dem polnischen „Informationszentrum Ost“ in Jerusalem gegeben hatte und die in Henryk Grynbergs Buch Kinder Zions fehlt. Ich ging davon aus, dass man einen Fünfzehnjährigen – denn so alt war Hannan, als er in Palästina ankam – beinahe sicher interviewt haben würde. Aber seine Aussage ließ sich nirgends aufspüren. Mehrmals habe ich intensiv danach gesucht, aber ich fand sie nicht – zuerst im Archiv der Hoover Institution an der Stanford University, wo ich dafür auf Hunderte andere Zeugenaussagen in polnischer Sprache und Tausende Dokumente zur polnischen Exilregierung stieß, darunter auch auf eine Aktenmappe, die einen kleineren, blauen Ordner mit Davidstern in der rechten oberen Ecke enthielt, dessen Bedeutung mir nicht klar war. Auch im Sikorski-Archiv in London fand ich die Aussage meines Vaters nicht, und auch nicht im United States Holocaust Memorial Museum in Washington oder in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

      Und dann fand ich sie doch – oder vielmehr fand sie mich – an einem verschneiten Winternachmittag in Boston. Ich war auf einer Konferenz und hörte mir gerade eine Reihe von Beiträgen zu dem Thema „Kinderberichte über Kriegserlebnisse“ an, als eine der Vortragenden begann, aus der Aussage eines fünfzehnjährigen Jungen namens „Chananja Teitel“ vorzulesen, der seine Mutter als „eine Frau von paarundvierzig Jahren“ beschrieben hatte, „die an der Universität in Jekaterinoslaw ihren Abschluss gemacht“ hatte. Die zitierte Aussage war das hauptsächliche Textbeispiel in ihrem Vortrag, der sich mit „Beschreibungen der Eltern in Kinderkriegsberichten“ befasste. An die folgenden Referate in diesem Konferenzteil kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern.

      Die Referentin, der ich diese unglaubliche Überraschung verdankte, die Historikerin Eliyana Adler von der University of Maryland, erklärte mir hinterher, dass sie die Zeugenaussage meines Vaters im Ginsach Kiddusch Haschem gefunden hatte, dem „Archiv ‚Heiligung des Namens‘“, einer winzigen, chaotischen, aber irgendwie auch faszinierenden Sammlung von Urkunden und Dokumenten, die das Herzstück der chassidischen Gemeinschaft der „Gerer“ im israelischen Bnei Berak bildet. Betrieben werde das Archiv von „Jeschiwa-Bochers“, wie sie sich ausdrückte, von jungen orthodoxen Gelehrten also, „die einer Frau nicht in die Augen sehen“. Die Zeugenaussage meines Vaters, sagte sie mir, sei eine von nur ganz wenigen dort vorhandenen gewesen, die nicht auf Polnisch, sondern auf Jiddisch gemacht worden waren. Auch sie hatte allerdings keine vollständige Fassung der Aussage, sondern nur eine Zusammenfassung, da das Archiv kein Kopiergerät hatte und seine Bestände auch nicht an Forscher, sondern nur an Familienangehörige aushändigte. Gleich am selben Abend schrieb ich eine E-Mail in hebräischer Sprache an das Ginsach Kiddusch Haschem in Bnei Berak, in der ich mich als Chananja Teitels Tochter vorstellte. Und schon am nächsten Morgen fand ich eine Antwort in meinem Postfach, im Anhang ein Foto von acht vergilbten Textseiten. Die Überschrift war mit einer Schreibmaschine in hebräischen Buchstaben geschrieben, aber ich sah gleich, dass es Jiddisch war: „PROTOKOL NUM. 26: fon [sic] Khanina Taytel“.1

      Wie ich herausfand, als ich bei meinem nächsten Besuch in Israel das anheimelnde kleine Archiv besuchte, das in einer Jeschiwa der Gerer Chassidim untergebracht ist, war die Zeugenaussage meines Vaters aus dem Besitz von David Flincker dorthin gelangt – jenes polnisch-jüdischen Journalisten, der ihn befragt hatte. Ich wusste weder weshalb noch wie Flincker, Sprössling einer Gerer Chassidenfamilie und vormaliger Herausgeber der Warschauer jüdischen Tageszeitung