Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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Zentralasien und in den Iran – ein noch immer lebendiger Teil der polnischen Gegenwart war. Mein Hotel in Warschau, ein Haus der Kette Ibis, lag an einem breiten Boulevard, der nach dem General Władysław Anders benannt war – just dem Oberkommandierenden der polnischen Exilarmee, mit dem Hannan und Regina bis in den fernen Iran gezogen waren. Gleich vor dem Ibis-Hotel, dort, wo sich einmal das jüdische Ghetto der Stadt befunden hatte, stieß ich auf das „Denkmal für die Gefallenen und Ermordeten im Osten“, das der Bildhauer Maksymilian Biskupski geschaffen hat: Ein überdimensionierter Eisenbahnwaggon aus Bronze trägt Hunderte von Kreuzen, die für all jene Polinnen und Polen stehen, die im Zweiten Weltkrieg nach ihrer Flucht in die Sowjetunion zu Tode gekommen sind. Und inmitten der vielen großen Kreuze gibt es auch einen winzigen Grabstein mit Davidstern, der jene polnischen Juden repräsentieren soll, die doch in Wirklichkeit mindestens die Hälfte der damaligen Flüchtlinge ausmachten. Mein Vater war einer von ihnen.

      Dass Polen von einem spannungsreichen Netz aus Museen und Gedenkstätten überzogen war, die jeweils einen jüdisch-polnischen Doppelsinn besaßen, war schon deutlich gewesen, bevor 2015 der Regierungsantritt der rechtskonservativen und revisionistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die damit verbundenen Konflikte ans Tageslicht brachte. Ja, es gab sogar einen gedruckten Reiseführer, Festung Warschau von Elzbieta Janicka, in dem Schauplätze der jüdischen Geschichte Warschaus vorgestellt wurden, die von den zahlreichen Gedenkstätten des polnischen Opferkultes überlagert worden waren. In manchen Fällen – wie etwa bei dem „Denkmal für die Gefallenen und Ermordeten im Osten“ – stimmten ganz einfach die Proportionen nicht. In Ostrów Mazowiecka dagegen herrschte, wie ich bald selbst herausfinden sollte, finsterste Vergessenheit.

      Und doch erwies sich Polen, jenes mythische „Land vor unserer Zeit“, aus dem mein Vater einst gekommen war, als überraschend schön und freundlich. Salar, der sich um dieselbe Zeit auf der Rückreise von Teheran nach New York befand, schlug vor, in Warschau Halt zu machen und sich mit mir zu treffen. Anschließend sollte ein polnischer Fremdenführer namens Krzysztof Malczewski mit uns zusammen nach Ostrów Mazowiecka fahren. In meiner Vorstellung war Ostrów düster-schwarz, braun oder grau, jedenfalls trostlos und öde, eine heruntergekommene Stadt ohne Eigenschaften mitten im postkommunistischen Nirgendwo. Als wir dann jedoch an einem heiter-frischen Juninachmittag entlang des Flusses Bug von Warschau kommend nach Ostrów hineinfuhren, entpuppte sich die Stadt als grün und üppig und wie gemacht für das süße Nichtstun. Inmitten eines nicht allzu dichten Stroms von Autos aus den Siebzigerjahren glitten wir an vereinzelten Verkaufsbuden, Ladengeschäften und sattem grünen Gras vorbei, das ungezügelt über die Leitplanken der Schnellstraße wucherte.

      Unterwegs erzählte uns der freundliche Krzysztof („nennt mich einfach Kris“), dass er sein Geld unter anderem mit dem Import von Bewässerungssystemen aus Israel verdiente: „Die Bauern sind Antisemiten und wollen eigentlich keine Maschinen aus Israel, aber alle anderen Systeme geben schnell den Geist auf, und da haben sie keine Wahl.“ Während des Krieges hatte seine katholische Mutter seinen jüdischen Vater versteckt gehalten, wie er uns bei einer Rast erzählte. Er hatte darauf bestanden, anzuhalten, um an einer kleinen Tankstelle Piroggen und gołąbki (Kohlrouladen) zu essen. Sie waren wirklich köstlich.

      Im Jahr 1900 sorgte ein ganz alltäglicher Badeausflug zum Fluss Grzybowka dafür, dass Pesja, die älteste Schwester meines Großvaters Zindel, sich eine schwere Krankheit zuzog und rasch daran starb. Zwei Jahre darauf schlug ein Blitz in die Brauerei Teitel ein, die daraufhin vollkommen niederbrannte. Aber irgendwie konnten die Teitels sich trotzdem durchschlagen und hatten bisweilen sogar einigen Erfolg. Pesja wurde im Grab der Familie auf dem jüdischen Friedhof von Ostrów zur letzten Ruhe gebettet, in nächster Nähe ihrer zahlreichen Vorfahren, die ebenfalls dort ruhten. Die Brauerei wurde erheblich größer wieder aufgebaut, und der neue Trockenturm bekam den bereits erwähnten Blitzableiter. Im Ersten Weltkrieg wurde Ostrów – eine Stadt im Herzen der „Bloodlands“, wie der Historiker Timothy Snyder jene Gegend zwischen Zentralpolen und dem westlichen Russland genannt hat, wo der russisch-deutsche Kampf um die Vorherrschaft am blutigsten ausgefochten wurde – zuerst von den Russen, dann von den Deutschen besetzt. Die Deutschen beschlagnahmten sämtliche Nahrungsmittel, aber auch Türknäufe aus Messing und Kupferbratpfannen, Petroleum, Gerste aus der Teitel’schen Brauerei – und schließlich auch die Brauerei selbst. Also zog die Familie innerhalb der Stadt in ein anderes Haus um, das der Familie von Hannans Großmutter gehörte.

      Als Ostrów schließlich von einem endlosen Strom ausgehungerter Flüchtlinge geradezu überschwemmt wurde – Tausende von Russen, die aus den Städten entlang der Grenze vertrieben worden und in Richtung Westen geflüchtet waren –, riefen Fejge Teitel und andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde den Hilfsverein Hachnasas Orchim („Gastfreundschaft“, wörtlich „Hineinführen der Gäste“) ins Leben, um die Flüchtlinge zu speisen. Und als eine Fleckfieberepidemie ausbrach, richteten sie kurzerhand ein Hospital mit dem Namen Linas Hatzedek ein, das heißt „Herberge der Gerechtigkeit“. Dort wurden die Kranken von einem Arzt und einem Apotheker betreut, die man beide aus Warschau herbeigeholt hatte. Anschließend wurde noch ein Fonds gestiftet, aus dessen Topf Ladenbesitzer und Handwerker, deren Lebensgrundlage durch den Krieg zerstört worden war, Darlehen erhalten sollten.

      In gleich mehreren jiskor-Einträgen wird Michel Teitel als stellvertretender Bürgermeister von Ostrów während der Kriegsjahre erwähnt, der in dieser Funktion „viel getan [habe], um das Leiden der Einwohner zu lindern“. An anderer Stelle heißt es, Hersz Teitel habe „unter der deutschen Besatzung als stellvertretender Bürgermeister amtiert“. Ganz gleich, wie es sich nun genau verhalten haben mag, so waren die beiden doch bei der Versorgung der Flüchtlinge in der Stadt engagiert, unterstützten Gäste wie Fremde aus den Mitteln der bestehenden Wohlfahrtsvereine oder gründeten neue, wo sie gebraucht wurden. Die tzedaka – die Wohltätigkeit – „gilt so viel wie alle anderen Gebote zusammen“, heißt es im Talmud, und diese Überzeugung scheint den Teitels als Teil ihres Glaubens wie auch ihres praktischen Lebensvollzuges von jeher eingepflanzt gewesen zu sein. Aber erst während der Kriegsjahre begannen die jüdischen Gemeinden Polens – und auch die Gemeinde von Ostrów –, ihre wohltätigen Werke im großen Maßstab zu organisieren.

      Vier Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde in New York das Joint Distribution Committee als politisch nicht gebundene Hilfsorganisation der amerikanischen Juden gegründet. Sein ausdrücklicher Zweck sollte es sein, jüdischen Kriegsflüchtlingen finanzielle und medizinische Unterstützung zu gewähren. Schon bald darauf wurden amerikanische Ärzte und Arzneimittel nach Polen geschickt, wo sie mit lokalen Hilfsvereinen und hilfsbereiten Familien wie den Teitels zusammenarbeiteten, die überall im jüdischen Polen auf sie warteten.

      Als der Erste Weltkrieg dann endlich vorbei war, forderten die Teitels erfolgreich ihre Brauerei zurück. Hannans Onkel Icok kehrte von seinem Studienaufenthalt in Deutschland zurück und übernahm die Leitung des Familienbetriebs. Die Habsburgermonarchie brach zusammen, und in Polen riss ein Revolutionär namens Józef Piłsudski die Macht an sich. Piłsudski wollte ein unabhängiges Polen und er bekam es: Am 11. November 1918 wurde in Warschau die Zweite Polnische Republik ausgerufen. Zum ersten Mal, seitdem der erste bekannte Michel Teitel gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Stadt angekommen war, gehörte Ostrów zu einem selbstständigen polnischen Nationalstaat. Die Teitels waren leicht nervöse, aber nicht völlig unzufriedene Bürger der neuen Republik. Piłsudski galt als ein toleranter Pragmatiker, und für Geschäftsleute wie die Teitels war eine unabhängige polnische Republik einer bolschewistischen Sowjetrepublik Polen allemal vorzuziehen. Drei Monate später wurde jedoch eine neue Front eröffnet, und die Familie verschlug es weit auf die „Bloodlands“ hinaus, als Polen mit Sowjetrussland aneinandergeriet.

      Erneut wurde Ostrów besetzt, diesmal von sowjetischen Truppen, die fast zwei Jahre lang in der Stadt blieben, Bier aus den Fässern der Brauerei Teitel soffen und daran arbeiteten, die Revolution Lenins und Trotzkis auch nach Polen zu tragen. Unter ihrem Einfluss gründeten idealistische junge Mitglieder des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes“ die ersten Gewerkschaftsgruppen in der Stadt, in denen sich die Zimmerleute und Tischler, Schneider, Träger, Bäcker von Ostrów, aber auch die Angestellten des Sägewerks Teitel, das einem anderen Familienzweig gehörte, organisieren konnten. Die Bundisten gründeten ein Theater, boten Vorträge an und veranstalteten Teach-ins