Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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veränderte sich unter sowjetischer Besatzung sogar noch dramatischer als Siemiatycze oder Kowel. Binnen weniger Monate war seine jahrhundertealte Textil- und Lederindustrie vollständig zerlegt und in Richtung Osten abtransportiert worden. Überall in der Stadt lagen große Haufen von Schutt und Abfall, für den sich niemand mehr verantwortlich fühlte, während unzählige Flüchtlinge so lange in die Stadt strömten, bis sie nur noch hineingeschmuggelt werden konnten:

      „Als wir in Białystok einfuhren, war die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt, und wir bekamen gerade noch einen Winkel in der Schule.

      In Białystok war es nicht einfach, ins Bethaus zu kommen, das mit Flüchtlingen überfüllt war, die keine Neuen mehr hineinlassen wollten. Zum Glück trafen wir dort ein paar Bekannte.

      In Białystok vagabundierten wir auf den Straßen herum, ehe wir einen Winkel im überfüllten Bethaus in der Jerozolimska-Straße [„Jerusalemer Straße“] bekamen.

      In Białystok gab es eine Menge Flüchtlinge, und wir konnten keine Wohnung finden, und der Säugling schrie immerzu. Meiner Stiefmutter brachen fast die Arme ab von dem ständigen Herumgetrage, und sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wir gingen von Haus zu Haus, bis sich schließlich eine Frau unser erbarmte, die mit vier Personen in einer winzigen Stube wohnte, und nun waren es acht. In der Nacht schrie das Kleine, aber meine Stiefmutter hatte keine Milch.“6

      Bis Anfang 1940 war Białystok zur Stadt mit dem größten Flüchtlingsaufkommen im ganzen sowjetisch besetzten Teil Polens geworden. Im Frühjahr desselben Jahres wurden die allermeisten Flüchtlinge aus der Stadt in die umliegenden Dörfer getrieben, wo die Sowjets den Landbesitz umverteilten. Man wies sie an, sich auch künftig auf mindestens hundert Kilometer von der Grenze zum deutschen Generalgouvernement fernzuhalten. Icok gelang es, in Białystok zu bleiben, aber an eine Rückkehr nach Ostrów wagte er nicht zu denken.

      Vielleicht war es sein stärker ausgeprägter Geschäftssinn, der meinen Großonkel Icok sehr viel schneller als meinen Großvater Zindel zu der Einsicht brachte – unter dem Eindruck der neuen Musik, die durch die Straßen schallte; der Propagandasendungen im Rundfunk; der aufgerissenen Rasenflächen und Bürgersteige und der toten Blumenbeete, die wieder üppig blühten, als Salar und ich durch Białystok spazierten –, dass ihre Welt sich unwiderruflich gewandelt hatte. Und je eher sie sich nun anpassten, desto besser. Oder vielleicht hatte Icok sich auch nur durch den ständigen Zustrom neuer Flüchtlinge nach Białystok ein genaueres Bild von den verheerenden Lebensbedingungen im deutsch besetzten Generalgouvernement machen können. Vielleicht hatten ihm ja sogar entkommene Ostrówer Mitbürger unter Tränen von den Massenerschießungen am 11. November 1939 berichtet, bei denen fast 500 jüdische Einwohner der Stadt – Männer, Frauen und Kinder – getötet wurden? Was immer sein Beweggrund gewesen sein mag: Icok traf eine Entscheidung, die der seines Bruders Zindel genau entgegengesetzt war. Er beschloss, nicht nach Ostrów zurückzukehren. Stattdessen gab er, zusammen mit dem Rest seiner Familie, die polnische Staatsbürgerschaft auf und nahm die sowjetische an. Binnen weniger Monate wurde er zum Oberinspektor für das Brauereiwesen in der Woiwodschaft Białystok ernannt.

      *

      „Als ich dir erzählt habe, Hannan hätte später nie vom Krieg erzählt, war das nicht ganz richtig“, sagte ich zu Salar, als wir zum Zug gingen, der uns von Białystok zurück nach Warschau bringen sollte. (Am Bahnhof warteten auch noch ein paar israelische Punkmusiker, die uns bekannt vorkamen.) Tatsächlich hatte es eine Geschichte gegeben, die mein Vater immer und immer wieder wiederholt hatte: die Geschichte von zwei Brüdern, die während des Krieges zwei unterschiedliche Entscheidungen getroffen hatten. Der eine hatte die „falsche“ Entscheidung getroffen – nämlich in das von den Nazis besetzte Polen zurückzukehren – und hatte dennoch überlebt; der andere hatte die „richtige“ Entscheidung getroffen – in der Sowjetunion zu bleiben nämlich – und war gestorben. Mir und meinen Geschwistern erzählte unser Vater diese Geschichte nicht etwa, weil er Zeugnis ablegen oder uns eine Geschichtsstunde geben wollte, sondern es ging ihm um eine harte moralische Lektion: dass unser Leben von bitterer Ironie bestimmt war, menschliches Handeln weitgehend vergeblich und rationale Entscheidungen schlicht bedeutungslos, wenn man mit den beherrschenden Mächten des Universums konfrontiert wurde. Es war eine gleichermaßen stoische wie pessimistische Philosophie, die unser Vater uns da vermittelte, und es war nicht so, dass er sie bewusst gelebt hätte – aber unbewusst hatte sie vielleicht seine Karriere gebremst oder ihn zumindest über die diversen nachteiligen (wenn auch nicht lebensgefährlichen) Entscheidungen hinweggetröstet, die er selbst in beruflicher und privater Hinsicht über die Jahre getroffen hatte.

      Salar erzählte mir von den Mitgliedern seiner Familie, die den Iran rechtzeitig genug verlassen oder schon Teile ihres Vermögens ins Ausland gebracht hatten, während sein Vater geblieben war. Im Februar 1979 bemächtigten sich die Revolutionäre des Fußballclubs „Persepolis“, den Ali Abdoh in Teheran aufgebaut hatte; auch den Sport- und Fitnessclub nach amerikanischem Vorbild, den er betrieb, konfiszierten sie, zusammen mit seinem restlichen Besitz an Immobilien. Kurz darauf wurde sein Name auf eine schwarze Liste potenzieller Verhaftungskandidaten gesetzt. Im Mai stand Ali plötzlich vor den Toren des Internats im englischen Wellington, wo Salar und seine Brüder Sardar und Reza zur Schule gingen: Die Jungen sollten ihre Sachen packen, um mit ihm nach Los Angeles zu fliegen. Doch der Stress der letzten Zeit hatte ihm bereits schwer zugesetzt, und binnen Monaten erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Die Abdoh-Brüder blieben allein zurück, ohne Zuhause und ohne Geld, als illegale Einwanderer, die durch die Vereinigten Staaten zogen. „Man gewöhnt sich schnell daran“, sagte Salar, als wir durch die menschenleeren, hübschen Straßen von Białystok spazierten. „Man denkt irgendwann gar nicht mehr darüber nach. Man schaut sich einfach um, schätzt die neue Lage ein und tut das Nötige, um zu überleben.“ Gab es so etwas wie den typischen „Kinderflüchtling“, fragte ich mich, der zu allen Zeiten und in allen Ländern letztlich derselbe blieb? Oder konnte man das doch nicht vergleichen – ein Überleben im Krieg, ohne Nahrung, im Land der Gestapo, mit dem Überleben im Überfluss, im Los Angeles der 80er-Jahre?

      „Essen gab es genug in Amerika“, meine Salar, „aber eine ganze Zeit lang hatten wir keine Ahnung, wie wir davon etwas abbekommen sollten.“ Salar war damals ein Junge, ein Teenager. Teenager – wie mein Vater in den Kriegsjahren einer gewesen war, wie mein eigener Sohn nun einer war – sind knurrende Mägen auf zwei Beinen. Teenager sind immer hungrig. Salar und seine Brüder schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch, bekamen so auch etwas zu essen ab (allerdings nie genug), aber sie bekamen auf den Straßen von L. A. auch immer wieder Ärger: „Das war hart“, erinnerte Salar sich, „aber mit der Situation deines Vaters kann man es wirklich nicht vergleichen.“ Dabei war uns beiden noch gar nicht bewusst, wie viel schlimmer die „Situation“ meines Vaters im weiteren Verlauf noch werden sollte.

      „Wie hat sich das anfangs angefühlt? War dir sofort klar, dass dein altes Leben, wie du es kanntest, jetzt für immer vorbei war?“, löcherte ich Salar mit Blick auf den abrupten Übergang von seinem privilegierten – wenn auch nicht gänzlich glücklichen – Dasein als reiches Perserbürschchen an einer britischen Privatschule zu einem Leben als obdachloser Teenager im Amerika der Reagan-Ära. Ich versuchte mir vorzustellen, wie lange mein Vater wohl gebraucht hatte, um die Gewohnheiten und den Habitus eines verwöhnten, standesbewussten Sprösslings aus reichem Hause abzulegen, als der er mir auf den Fotos aus Ostrów entgegenblickte. „Ich hab’s sofort begriffen“, antwortete Salar. „Wenn du mittendrin steckst, denkst du nicht darüber nach, wie mies die Lage gerade ist. Also, schon irgendwann. Aber zunächst mal musst du sehen, wie du von einem Tag zum nächsten über die Runden kommst. Ein Dach über dem Kopf brauchst du, die allernötigsten Dinge für den Alltag, solche Sachen. Aber man setzt sich nicht hin und heult, weil man alles verloren hat. Dafür hast du gar keine Zeit. Oder vielleicht ist man auch nur zu jung, um wirklich verstehen zu können, was einem da Ungeheures zugestoßen ist.“

      *

      Als im April 1940 eine Kampagne gestartet wurde, um den Menschen in den von der Roten Armee besetzten Gebieten sowjetische Pässe aufzunötigen und sie damit zu Sowjetbürgern zu machen, zogen es Hunderttausende von Juden und anderen polnischen Staatsbürgern vor, aus dem sowjetisch besetzten in den von der Wehrmacht besetzten Teil Polens zu ziehen.