Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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diese Sichtweise irgendwann beiseiteschob und mich mit den Arbeiten nicht-zionistischer (zumeist deutscher) Osteuropahistoriker vertraut machte, las ich wiederum durch die Brille von deren Vorurteilen und verinnerlichte das Bild, das sie zeichneten: das Bild einer traditionalistischen, rückwärtsgewandten polnisch-jüdischen Gemeinde, „die nur darauf wartete, von den Vertretern der westlichen Aufklärung und Moderne aus ihrem erbärmlichen Urzustand befreit zu werden“.1 Als Bewohnerin der westlichen Welt bin auch ich mit solchen Vorurteilen über Polen aufgewachsen, ohne jemals dort gewesen zu sein.

      Hannans Flüchtlingsjahre haben ihn zweifellos geprägt, aber ich besitze nur wenige fotografische Belege dafür, wie dies im Einzelnen abgelaufen ist: Zwischen Polen und Palästina, zwischen den Familienfotos aus Ostrów und denen aus Haifa, klafft eine gewaltige Lücke. Tatsächlich habe ich außer dem Gruppenfoto aus Teheran, auf dem mein Vater zu sehen ist, überhaupt keine Fotos von ihm, von Regina oder irgendeinem anderen Mitglied der Familie Teitel aus deren Fluchtjahren. Auch öffentliche, allgemein bekannte Bildquellen, die ich hätte heranziehen können, gab es keine – Bilder, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind wie etwa das ikonische „Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto“, der mit zur Kapitulation erhobenen Händen auf die Kamera zutritt, oder jenes Foto einer Gruppe befreiter Buchenwald-Häftlinge, das Art Spiegelman in seiner Graphic Novel Maus als Bild in einem Familienalbum aufgreift.

      Von den über eine Million Flüchtlingen jener Zeit gab es keine ikonischen Bilder.

      Den Jungen, der mein Vater war, bevor er weder Flüchtling noch Israeli geworden war, konnte ich wohl nur anhand des Ortes kennenlernen, aus dem er stammte: einer Kleinstadt von etwa zehntausend Einwohnern im Osten Polens. Noch im Jahr 1857 verzeichneten die polnischen Statistiken für Ostrów eine Einwohnerzahl von 3972, von denen 2412 Juden waren – 62 Prozent aller Einwohner. Für das Jahr 1897 wurden dann schon 7914 Einwohner gezählt, darunter 5910 – oder 75 Prozent – Juden. Eine solche Wachstumsrate war in den Ortschaften im polnischen Nordosten keineswegs außergewöhnlich.2 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war beinahe die Hälfte der städtischen Bevölkerung Polens jüdisch. Die Essenz des städtischen Lebens – die Läden und Geschäfte und Wirtshäuser, vor allem in kleineren Städten wie Ostrów – war jüdisch. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Ostrów eine jener Gemeinden gewesen, von denen der Historiker Gershon Hundert geschrieben hat, dass sie „groß genug waren, um die Alltäglichkeit des Alltagslebens in einem jüdischen Kosmos gestalten zu können“.3 Es ist ein wenig irreführend, wenn man die jüdische Bevölkerung von Ostrów im 19. Jahrhundert (oder auch die von vielen anderen polnischen Städten) eine „Minderheit“ nennt. Aber genau so erinnert man sich heute in Polen, in Israel und in den Vereinigten Staaten an jene Gemeinden.

      An Büchern und Fotos zu Ostrów vor dem Zweiten Weltkrieg herrscht kein Mangel, sogar die Brauerei Teitel und andere Mitglieder der Familie sind dort zu sehen. Es gibt Bevölkerungsstatistiken, Geburts- und Todesurkunden, Schulabschlusszeugnisse und Memor- oder Seelengedächtnisbücher (auf Hebräisch auch jiskor genannt). Der Band zu Ostrów Mazowiecka in der Reihe Kehilot Jisrael („Gemeinden Israels“) nennt meinen Urgroßvater Michel Teitel als eine der „Personen aus Ober-Ostrów“: „wohlhabend und aus wohlhabendem Hause“; „ein feiner, edler Mann“; „eine echte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“; „ein gebildeter Mann, der viele Sprachen beherrschte, aber dennoch der Tora und den Geboten treu blieb“; „ein vollkommener Familienmensch“; „ein Demokrat“; „ein Mann, der sich durch seine Großzügigkeit hervortat, Einzelnen wie auch der Gemeinschaft gegenüber“.4

      Freilich, in einem Memorbuch kommt jeder gut weg – aber die Art, auf die das Lob der Toten angestimmt wird, unterscheidet sich dann doch. Das jiskor-Buch von Ostrów Mazowiecka erinnert an Michel als „eine Person von sanftmütigem Charakter“: „Einerseits ein vollkommener Familienmensch, der zu seiner … Familie eine tiefe Bindung empfand, andererseits ein Mann, der sich unermüdlich für die Gemeinschaft einsetzte, der all seine Zeit und Energie für die Bedürfnisse der anderen einzusetzen bereit war, ob im Privatleben oder in der Öffentlichkeit.“ Gelobt werden auch seine umfassende Bildung („bewandert in moderner Literatur und dem Zeitgeschehen“) und das „überaus angenehme Zusammenspiel seiner Vorzüge“ sowie – noch einmal – seine Neigung zum Dienst an der Öffentlichkeit („wenn er an irgendeiner öffentlichen Aktivität beteiligt war, war der Erfolg schon sicher“).5

      Auf einem Foto, das meinen Urgroßvater Michel Teitel mit seiner Frau Fejge zeigt, schaut er von der Kamera weg. Er trägt einen langen, geknöpften Gehrock und hat seine Hosenbeine in die Stiefel gestopft. Auf dem Kopf hat er eine militärisch wirkende „Russenmütze“, wie sie von orthodoxen Juden gern getragen wurde, weil sie nicht unter das 1850 erlassene Verbot traditionell-jüdischer Kleidung fiel.6 Eine Kippa oder Jarmulke trägt er anscheinend nicht, auch wenn eine kleine solche Scheitelkappe sich unter seiner Mütze verbergen könnte.

      Hannans Großmutter Fejge trägt eine Perücke (was gesetzlich verboten war) und blickt direkt in die Kamera. Mit ihrem blassen, aber vollen Gesicht, den großen, aufgeweckten blauen Augen, wirkt sie unerschrocken und nicht gerade zurückhaltend, ganz anders als die orthodoxen Frauen, die man heute in New York oder Tel Aviv auf der Straße sieht. Ihre Kinder Pesja, Icok, Zindel und Sura wurden fromm erzogen, aber auf ihren Fotos sieht man sie nach „deutscher Art“ gekleidet, mehr oder weniger nach den Maßstäben der westlichen Mode also, glatt rasiert die Söhne und in kürzeren, modischeren Mänteln als der Vater, die Töchter in aufreizenderen Kleidern als die Mutter.

      Ein Mann, der sich für den „deutschen Stil“ entschieden hatte – und damit gegen den russischen –, durfte sich von Rechts wegen keinen Bart stehen lassen. Ein solcher Mann signalisierte seiner Umgebung, dass er zu jenen zunehmend assimilierten Juden aus der oberen Mittelschicht gehörte, die von ihren polnischen Standesgenossen kaum noch zu unterscheiden waren. Sieht man sich die Fotos von Icok und Zindel jedoch genauer an, dann erscheint ihre Kleidung dennoch ein wenig zu altmodisch, ein kleines bisschen schlechter geschnitten, als man es sich von einem perfekt sitzenden Anzug wünschen würde. Wie Angehörige einer Provinzaristokratie wirken sie, weder fromm und abgesondert noch wahrhaft assimilierte „Polen mosaischen Glaubens“, wie sich die großstädtisch-jüdische Elite von Warschau und Krakau gern nennen ließ. Ihre Schwester Sura, die Ostrów im Alter von zwanzig Jahren in Richtung Warschau verlassen sollte – anders als ihre Brüder war sie nicht für die Arbeit in einer Brauerei gemacht –, sieht auf ihren Fotos schon eleganter aus. In Warschau heiratete sie dann einen Buchhalter namens Adam (Abram) Perelgric, mit dem sie zwei Kinder hatte: Danek (Daniel) und Emma. Auf den Fotos, die Emma mir bei unserem Treffen in Tel Aviv überließ, lässt ihre Mutter keine Spur ihrer frommen Erziehung erkennen: Prächtig hat sie sich in Schale geworfen mit ihrem kräftigen, dunklen Haar, ihren dunkelbraunen Augen, mit knallrotem Lippenstift und Stöckelschuhen. Sie wohnte in der richtigen Gegend – Ulica Sienna 72 –, besaß die richtigen Möbel und die richtigen Kleider und kam nur selten noch nach Ostrów zurück, sondern schickte ihre junge Tochter allein in die Provinz, um dort den Sommer bei ihrer Verwandtschaft aus dem Teitel-Clan zu verbringen.

      Einige Jahre später sagte mir Magda Gawin, eine polnische Historikerin, die selbst aus Ostrów stammt, dass die Familie Teitel bekanntermaßen sehr tief in Ostrów verwurzelt war. Tatsächlich zählten die Teitels, wie ich feststellte, zu den drei wohlhabendsten und angesehensten Familien der Stadt, zusammen mit den Nutkiewiczs und den Frejmowiczs. Mein Vorkriegsvater war viel reicher gewesen, als ich es jemals wurde.

      *

      Fast dreieinhalb Millionen Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen, es war die größte und die sowohl politisch als auch gesellschaftlich am stärksten selbstbestimmte jüdische Gemeinde in ganz Europa: 9,5 Prozent der polnischen Bevölkerung waren jüdisch. Zum Vergleich: Im Deutschen Reich betrug der jüdische Bevölkerungsanteil vor dem Krieg 0,75 Prozent; in Frankreich waren es 0,6 Prozent. Aber eines hatte ich dennoch nicht gewusst, bis mir ein Stammbaum der Familie Teitel in die Hände kam, der von dem Ahnenforschungsverein „Ostrów Mazowiecka Research Family“ erstellt worden war: dass mein Vater Hannan in einen regelrechten Clan hineingeboren worden war – acht Generationen mit jeweils bis zu sieben Kindern in einer Kleinstadt, die noch viel kleiner war als Haifa, der auch nicht gerade großen