Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel

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Название Die Kinder von Teheran
Автор произведения Mikhal Dekel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806243185



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der Stadt mussten bei der Hinrichtung zusehen, während der Rest der jüdischen Bevölkerung zu Hause bleiben sollte.

      Innerhalb der Grenzen des neuen polnischen Staates lebten fünf Millionen Ukrainer, eine Million Weißrussen und mehr als drei Millionen Juden – Minderheiten, die an der Regierung der polnischen Republik repräsentativ beteiligt wurden. Die Stadt Ostrów war nun größer, moderner und anziehender als jemals zuvor, sie bekam neue Schulen, eine neue Bibliothek und ein neues Elektrizitätswerk. Die Pferde und Karren, mit denen über Jahrzehnte das Bier der Brauerei Teitel ausgeliefert worden war, wurden durch moderne Chevrolet-Vierzylinder und tschechoslowakische Motorlastwagen der Marke Škoda ersetzt. Die jüngeren Kinder aus dem Teitel-Clan – Hannan, seine Cousins und Cousinen – besuchten schon bald eine Tarbut-Schule. Die Filiale einer jüdischen, zionistisch ausgerichteten Kette von Grundschulen, an denen Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden, war 1922 auf dem Gelände des Teitel’schen Sägewerks eingerichtet worden. Die Lehrerinnen und Lehrer, Neuankömmlinge aus Galizien, die ihre Heimat wegen des polnisch-russischen Krieges hatten verlassen müssen, waren kultivierte, anspruchsvolle Leute, die den jüdischen Schulkindern von Ostrów die hohen Standards jener russischen Schulbildung mitbrachten, die sie selbst genossen hatten.

      Im Jahr 1926 heiratete der dreißigjährige Zindel die sechs Jahre jüngere Ruchela Averbuch, eine Absolventin der Universität von Jekaterinoslaw (später Dnepropetrowsk, heute Dnipro in der Ukraine). Auf den erhaltenen Fotos sieht Zindel attraktiv und sanftmütig aus: ein klein wenig vollschlank vielleicht und etwas schrullig mit seinem ständigen Grinsen, die Hand stets auf der Schulter eines seiner Kinder abgelegt. Ruchela dagegen wirkt knochig, hat ein scharf geschnittenes Kinn und ist stets sorgfältig gekleidet. Älter, eleganter und auch strenger als ihr Mann erscheint sie, dabei war sie jünger und kam aus ärmeren Verhältnissen. In ihrer Heimatstadt Siemiatycze, die vor dem Krieg zu Russland gehört hatte und nun polnisch geworden war, verdiente ihre verwitwete Mutter den Lebensunterhalt mit dem Import von Tuchwaren aus Krakau. Noch im ersten Jahr ihrer Ehe kam Hannan zur Welt, Regina folgte vier Jahre später.

      *

      Heute findet sich von dem einstigen jüdischen Leben in Ostrów Mazowiecka keine Spur. Das sagte uns Krzysztof, unser Guide, und ich glaubte ihm aufs Wort, als er uns zügig durch die unsichtbare Stadt von vor dem Krieg kutschierte: Diese Autowerkstatt hier war einst eine Synagoge gewesen, jener Kindergarten eine Talmudschule. So gut wie alle öffentlichen Gebäude und privaten Wohnhäuser, die vor dem Krieg jüdische Besitzer gehabt hatten – am Plac Ksienznej Anny Mazowieckiej, auf der alten Marktstraße, auf der Brokowska-Chaussee sowie den Straßen Miodowa, Pułtuska, Rożanska, Koza Jagiellońska, Nurski, Solna, Ostrołęcka, Jatkowa, Batorego und Warszawska –, waren nicht mehr da, waren abgebrannt, wie ich erfuhr, in Brand gesteckt am 9. November 1939. Nichts war mehr geblieben von Ostróws jüdischer Vergangenheit. Also konnte es auch keinen Widerstreit zwischen der jüdischen und der katholischen Vergangenheit der Stadt geben, wie es in Warschau der Fall war. Hier in Ostrów gab es noch nicht einmal Gespenster – sondern nur tiefes, fragloses Vergessen.

      Auch Wohnhäuser auf einst „gemischten“ Straßen wie der Ulica 3go Maja („Straße des 3. Mai“), der Malkińska und der Pocztowa, der Kosciuszki-Allee, der Ugniewska, Cmentarza, Lubiejewska und Piaskes waren abgerissen worden. Der jüdische Friedhof von Ostrów, wo die Teitels über acht Generationen ihre Toten begraben hatten – „länger als die meisten Polen“, hatte meine Tante Regina mir am Vorabend meiner Abreise noch am Telefon gesagt –, war eingeebnet worden, um Platz für einen Viehmarkt zu schaffen.

      Die Brauerei Teitel gab es ebenfalls nicht mehr. An ihrer Stelle fand ich die frisch gestrichene Grundschule Nr. 1 „Tadeusz Kościuszko“ vor, deren Schüler jedoch gerade Sommerferien hatten. Wir gingen ein wenig auf dem Schulgelände umher und hielten Ausschau nach Spuren, die es nicht gab. Aus einem steinernen Häuschen gleich neben der Schule kam eine rothaarige Frau heraus. „Der Vorbesitzer des Hauses hat ihr erzählt“, übersetzte Krzystztof für uns, „dass Teitel seinen polnischen Nachbarn zu jedem Osterfest Bier in Flaschen geschenkt hat.“

      Am Eingang zum Schulhof fanden wir einen kleinen Gedenkstein, in den die folgende Inschrift eingraviert war:

      TO MIEJSCE ZOSTAŁO UŚWIĘCONE PRZEZ MĘCZEŃSKĄ KREW POLAKÓW WALCZĄCYCH O WOLNOŚĆ PODCZAS OKUPACJI HITLEROWSKIEJ W LATACH 1939–1944.

      (Dieser Ort wurde geheiligt durch das Märtyrerblut von Polen, die während der Hitler-Besatzung von 1939–1944 für die Freiheit kämpften.)

      Von der Brauerei oder ihren Besitzern war nirgends die Rede. „Nachdem deine Familie fortgegangen war“, erklärte mir Krzysztof, „hat die Gestapo das Gelände beschlagnahmt und die Brauerei zu ihrem Hauptquartier gemacht. Als die Nazis dann 1944 abzogen, haben sie alles mit Dynamit in die Luft gejagt.“ Der Name der Straße, an der drei Generationen lang der browar der Familie Teitel gestanden hatte, war inzwischen von „Brokowska“ in „Partyzantów“ geändert worden – sie war nun die „Straße der Partisanen“. Diese Umbenennung ging wohl, wie ich vermute, auf die polnischen Widerstandskämpfer zurück, die von der Gestapo in den Räumen der vormaligen Brauerei verhört und gefoltert und getötet worden waren. Ostrów hatte sich eine neue Vergangenheit verpasst, hatte seine Geschichte umgeschrieben, und irgendjemand – vermutlich ich selbst – würde dagegen Einspruch erheben müssen, würde für eine weitere Plakette kämpfen müssen, die neben dem Polnisches-Märtyrerblut-fürdie-Freiheit-Gedenkstein angebracht werden sollte:

      HIER STAND VON 1856 BIS 1939 DIE BRAUEREI DER FAMILIE TEITEL.

      Ze’ev (Wolf) Teitel, jener hochgewachsene, blonde und offenbar hochintelligente ältere Vetter, den der junge Hannan geradezu abgöttisch verehrte, hatte die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in der Brauerei verbracht und wäre als Erbe seines Vaters wohl ihr nächster Geschäftsführer geworden. Noch auf seinem Sterbebett in Haifa hat er eine detaillierte Darstellung des Teitel’schen Brauprozesses niedergeschrieben – bis hin zu der Temperatur, bei der die Gerste gemälzt wurde (exakt 67 °C); dem Namen des polnischen Vorarbeiters (Schwintowsky); der Frage, wer dort umrührte und wie (mit der Hand); dem deutschen Zählvers, den die Umrührer bei ihrer Arbeit sangen; dem süß-klebrigen, goldenen Brottrunk (Kwas), der dort ebenfalls produziert und als alkoholfreie Alternative zum Teitel- Bier verkauft wurde; und vielen, vielen weiteren Details, die ich damals ohne besonderes Interesse las – auch, weil es mir rätselhaft war, weshalb der alte Mann so viel Mühe darauf verwandte, uns eine Handwerkskunst zu vermitteln, die keinem von uns Kindern (für die sein Memoire ja geschrieben war) nützlich oder auch nur interessant sein würde. Erst jetzt, in Ostrów, angesichts all dessen, was einmal ihres gewesen war, wurde mir schlagartig klar, dass Hannan und er vermutlich die beiden einzigen Menschen auf der ganzen Welt gewesen waren, in denen die Erinnerung an das brauerische Know-how der Teitels weitergelebt hatte – eine Handwerkstradition, die in der Familie über Generationen gepflegt und vervollkommnet worden war. „Traumatischer Realismus“, so nennt der Holocaust- und Gedächtnisforscher Michael Rothberg die Verwendung scheinbar willkürlicher Details, wie Wolf sie in seinem Bericht erwähnt: geisterhafte, frei schwebende, aber doch hochkonkrete Einzelheiten einer verlorenen Vergangenheit, die dieser zwar neues Leben einhauchen, ihren Verlust aber dabei umso stärker hervortreten lassen. Bis in die kleinsten Feinheiten konnte mein Onkel beschreiben, wie bei Teitels einst gebraut wurde – aber Brauer, Bier und Brottrunk gab es in Ostrów schon lange nicht mehr.

      Die Jugend nicht nur der jungen Teitels, sondern auch die von Dutzenden anderer Burschen und junger Männer war eng mit dem Leben der Brauerei verwoben: Hilfsarbeiter und Handwerker, Mechaniker und Fahrer, Schweißer und Putzleute – über Generationen hatten sie, teils als ganze Familien, „beim browar“ gearbeitet. Der Handwerker, der die hölzernen Bierstopfen mit der Hand schnitzte, war bei seinem Vater in die Lehre gegangen und hatte schließlich dessen Posten in der Brauerei geerbt; für Hannan und Wolf schnitzte er ganze Sätze winziger Schachfiguren, die von den Jungen heiß geliebt wurden.

      Noch in Ostrów erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf das Vorkriegs-Ich meines Vaters: auf das Schlittschuhlaufen, wenn der große Teich neben der Brauerei zugefroren war; auf das Pilzesammeln in den Nadelwäldern um Ostrów am Schabbesnachmittag; auf die jüdischen Feiertage und das hohe Ansehen, das die Familie in der Stadt genoss; auf Hannans schon