Wie zerplatzte Seifenblasen .... Aylin Duran

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Название Wie zerplatzte Seifenblasen ...
Автор произведения Aylin Duran
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960743477



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nickte langsam. Sie sagte nicht, dass sie Zeit habe und meine Geschichte hören wollte. Ich war froh darüber.

      „Na ja, ich pack’s“, kündigte sie wenige Minuten später an. Dann hängte sie sich ihre Handtasche um die Schulter, zog ihren Koffer hinter sich her.

      Ich sah ihr nach und lauschte auf das Klackern der Rädchen ihres Gepäckstücks. Zurück blieb nur der schwache Geruch ihres Parfüms. Ich blieb einfach sitzen und lauschte in die Nacht. Der Bahnsteig war vollkommen leer und die Luft weiter abgekühlt. Es war so neblig, dass ich keinen einzigen Stern erkennen konnte, als ich meinen Kopf hob und in den Himmel starrte. Dann begann es zu regnen. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Überdachung, bald glitzerte der Boden vor Feuchtigkeit und schmale Rinnsale bildeten sich zu meinen Füßen. Ich war ganz ruhig, während meine Augen sich mit Tränen füllten, die ich ärgerlich mit meinem Jackenärmel fortwischte. Ziemlich lange blieb ich ganz genau dort, wo ich mich hingesetzt hatte, vermutlich bewegte ich mich nicht einmal. Stillstand. Einige Zeit verging, in der ich nicht die Kraft fand, mich aufzurichten, meine Gitarre und meine Reisetasche vom Boden aufzuheben und mich entlang des dunklen, verlassenen Bahnsteigs in Bewegung zu setzen.

      Reisen war für mich immer etwas Aufregendes gewesen, das Unbekannte und Unentdeckte hatte mich fasziniert. Heute wusste ich nicht, was mich faszinierte. Wahrscheinlich war das normal. Meine Mutter hatte mir früher immer die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Kindern aus Nimmerland vorgelesen. Als ich erfahren hatte, dass die Kinder in Nimmerland blieben, um niemals erwachsen werden zu müssen, hatte ich mir vorgestellt, wie Peter Pan eines Nachts auch durch mein Fenster fliegen und mich mitnehmen würde, um auch mein Erwachsenwerden zu verhindern. Mein Wunsch war niemals in Erfüllung gegangen.

      Diese großen Vorstellungen, die man als Kind von seinem Leben und seiner Zukunft hat, werden immer blasser und verschwinden irgendwann gänzlich, wenn die Zeit vergeht und man älter wird. Und dann geht es nicht mehr darum, etwas Großartiges zu sein oder zu erreichen. Irgendwann verabschiedet man sich von dem Gedanken, berühmt oder besonders zu sein oder die Welt verändern zu können. Denn irgendwann wacht man auf und ist weder Peter Pan noch ein Mitglied seiner niemals alternden Bande. Dann erst realisiert man, dass man niemand anderen hat außer sich selbst – und dass man irgendwie trotzdem klarkommen muss mit seinem verdammt beschissenen Leben und all den zerschlagenen Träumen, die vor einem auf dem Boden liegen wie winzige, spitze Glasscherben. Da muss man sogar noch aufpassen, dass man sich nicht blutig schneidet. Ein Geräusch schreckte mich auf. Schon wieder die Rädchen eines Koffers auf dem Asphalt, dazu hastige Schritte. Ein paar Sekunden später konnte ich den Körper der Unbekannten aus dem Zug ausmachen, der sich zögernd auf mich zubewegte. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, gestand sie leise.

      „Ich weiß auch nicht, wohin ich gehen soll“, entgegnete ich.

      Ihre blauen Augen sahen direkt und unverblümt in meine. Dann streckte sie die Hand aus, und meine rauen Finger umfassten ihre fast vollständig, als ich ihr die Hand schüttelte. „Ich bin Lina“, stellte sie sich vor.

      „Ben.“

      Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ich saß noch immer auf meinem Stuhl, sie stand vor mir in der Dunkelheit. Das war der Abend, an dem ich Lina traf. Der Abend, an dem sich alles für immer verändern würde.

      *

      Lina

      Mai

      Ich kannte ihn nicht, wusste aber trotzdem sofort, dass er mich nicht gebrauchen konnte. Eilig hatte er es trotzdem nicht. Während über ihm der Regen auf die Überdachung prasselte, hatte er die Beine lang vor sich ausgestreckt und rauchte.

      „Und jetzt?“, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Die Laternen beleuchteten den Bahnsteig nur dürftig, umso heller leuchtete das Feuerzeug auf, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.

      „Wie, und jetzt?“ Seine dunkelbraunen Locken hätten einen radikalen Schnitt vertragen können – seine Frisur konnte nicht einmal mehr wirklich als Frisur bezeichnet werden.

      „Was machen wir jetzt?“

      Ben sah mich stirnrunzelnd an. „Es gibt kein wir“, stellte er dann kopfschüttelnd klar.

      Schon im Zug war mir aufgefallen, wie schlaksig er war. Doch erst jetzt, als er direkt neben mir saß, erkannte ich, wie mager er tatsächlich war. Es war die Art des Magerseins, bei der man Lust bekam, ihn in der Küche einzusperren und ihm eine riesige Portion Hühnersuppe einzuflößen. Aber er war sehr groß und hatte schöne, braune Augen. Schokoladenaugen.

      „Wir machen einen Deal“, erklärte Ben mir dann. Er wippte unruhig mit den Füßen, die in schmutzigen, durchgelaufenen Turnschuhen steckten. „Wir sind Partner für diese Nacht. Aber wir stellen keine Fragen.“ Er ließ die Kippe fallen und trampelte halbherzig darauf herum, obwohl der Asphalt vor Feuchtigkeit glitzerte.

      Ich mochte, was er da sagte, mochte, dass er keine komplizierten Fragen stellen und keine schwierigen Gespräche beginnen wollte. Also nickte ich.

      „Ja?“, vergewisserte er sich.

      Ich musste lächeln, konnte nicht einmal etwas dagegen tun, meine Mundwinkel bogen sich in die Höhe beim Anblick seiner hochgezogenen, buschigen dunklen Augenbrauen über den Schokoaugen. „Ja.“

      Wir schliefen nicht in dieser Nacht, doch irgendwann begannen wir, uns entgegen unserer Vereinbarung zu unterhalten. Wenn Ben sprach, dann war sein Blick stets auf den Asphalt zu unseren Füßen geheftet und er war tunlichst darum bemüht, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Gab er mehr als drei aufeinanderfolgende Sätze von sich, zündete er sich, wie zur Belohnung, eine Zigarette an. Und geriet er doch einmal in einen Redefluss, dann verstummte er, sobald es ihm selbst auffiel. Es kam mir so vor, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, obwohl wir über Belanglosigkeiten wie Zigarettenmarken und das Wetter sprachen. Viel lieber hörte er mir zu. Wenn ich sprach, lehnte er sich zurück und seine Züge wurden entspannter, die Zigarettenschachtel blieb an ihrem Platz in seinem Rucksack. Er nickte alle paar Minuten, um zu zeigen, dass er mir zuhörte.

      „Kannst du spielen?“, fragte ich ihn irgendwann und zeigte auf seine Gitarrentasche.

      „Die ist bestimmt total verstimmt“, wich er aus. „Wegen des Wetters. Im Zug war es warm, aber draußen ist es kalt, dann passiert es, dass ...“

      „Ich weiß, was dann passiert“, unterbrach ich ihn. „Ist doch egal.“

      Er zuckte mit den Schultern und machte sich an den Reißverschlüssen der Tasche zu schaffen. Wenig später zog er eine zerbeulte Akustikgitarre heraus. Seine Hände schmiegten sich an den Hals des Instruments, seine kalten Finger legten sich auf die Saiten und er begann, ein bisschen herumzuklimpern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Lieder kennst, die ich damals gespielt habe“, sagte er, ohne sein Geklimper zu unterbrechen. Seine Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, aber es war die Art von Lächeln, die einem das Herz brechen konnte. Er konnte seine Traurigkeit nicht einmal dann verstecken, wenn sich seine Mundwinkel in die Höhe bogen.

      Ich verkniff es mir, sein damals als Frage zu wiederholen. Keine komplizierten Fragen. „Soll ich mich jetzt herausgefordert fühlen?“

      Er antwortete nicht und stimmte einen Song an, den ich in der Tat noch nie in meinem Leben gehört hatte. Es gefiel mir, wie er spielte, wie er die Augen geschlossen hielt und den Bahnsteig und den Rest der Welt zu vergessen schien. Ich sah, wie er die Saiten mit seinen rauen Fingern berührte, wie er in den Klängen zu versinken schien. Wenn er spielte, schien seine innere Unruhe zu verschwinden, sie wurde davongetragen von den leisen Gitarrentönen.

      Während er die Augen geschlossen hielt, konnte ich sein Gesicht beobachten. Die dunklen Bartstoppeln am Kinn, die spröden Lippen. Den Blick wandte ich erst von ihm ab, als er das Lied beendet hatte und seine Augen wieder aufflogen.

      „Und? Kannst du mir sagen, wie das Lied heißt?“, fragte er