Название | Randis Reise |
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Автор произведения | Simon Parke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862567324 |
»Wenn Gott dir Zitronen schenkt, dann musst du Limonade draus machen«, pflegte ihre Tante immer zu sagen. So packte sie die Ranke und kletterte über die Klippe.
Es fiel ihr schwer, festen Boden gegen dünne Luft einzutauschen, aber das herannahende Untier erleichterte ihr die Entscheidung. PILGERIN umklammerte die Ranke und vertraute darauf, dass sie ihr Gewicht hielt. Sie hatte auch keine andere Wahl, denn die große Raubkatze stand am Rand der Klippe und fauchte wütend, während sich ihr vermeintliches Opfer nur wenige Meter von ihrem sabbernden Maul und den spitzen Zähnen entfernt in Sicherheit brachte. PILGERIN klammerte sich an der Ranke fest, während sie mit den Füßen verzweifelt nach einer Spalte oder einem Felsvorsprung tastete.
Ihre Arme schmerzten, aber sie war immer noch im Spiel, was oberste Priorität hat, wenn man von Tigern gejagt wird.
»Sehen wir es doch positiv«, sagte sie sich. »Hier bin ich und bewege mich von dem Ungeheuer fort in Sicherheit. Ein langer Weg liegt noch vor mir, aber vielleicht schaffe ich es ja?«
Beim Klettern gibt es eine goldene Regel: Schaue nie nach unten. Es macht nicht gerade Mut, die reine Luft zwischen sich und dem Boden tief unten zu sehen oder sich vorzustellen, wie weit dein weicher Körper in die Tiefe stürzen wird und wie spitz die Felsen sind, auf die du aufschlagen wirst. Doch als PILGERIN nicht mehr länger widerstehen konnte und einen vorsichtigen Blick nach unten wagte, war es noch schlimmer als befürchtet. Nicht nur ging es weit in die Tiefe; unten am Fuß der Klippe entdeckte sie einen zweiten Tiger, der dort herumlungerte.
Du meine Güte! So hatte sich PILGERIN das nicht vorgestellt. Sie hoffte auf den Himmel, erlebte aber die Hölle. Jetzt war ein Tiger über ihr und ein Tiger unter ihr, und beide Kreaturen wussten, dass PILGERIN weit und breit die beste Mahlzeit war, die sie in hundert Kilometern Umkreis bekommen konnten.
»Ich will nicht sterben«, sagte sich PILGERIN voller Verzweiflung, während sie sich mit aller Kraft an die Ranke klammerte. Warum nur hatte sie beim Sport nicht mehr an den Seilen trainiert? In Wahrheit war dies die hoffnungsloseste Situation, die sie je erlebt hatte, und das Schlimmste an hoffnungslosen Situationen ist, dass sie hoffnungslos sind; es scheint absolut keinen Ausweg zu geben.
Und dann wurde alles noch schlimmer.
Die Ranke war PILGERINS einziger Rettungsanker.
»Die Ranke ist das zentrale Element«, dachte PILGERIN verschwitzt, und das stimmte.
Dieser starke Tentakel der Hoffnung hatte sie vor dem Tiger gerettet und bewahrte sie vor dem Tiger, der unten auf sie wartete. Ihre Füße fanden kurzfristig Halt, aber nur vorübergehend, denn der Felsen war sehr bröckelig, und kein Felsvorsprung bot ihr Zuflucht für ihr pochendes Herz und ihre brennenden Hände. Allein die Ranke war ihr Rettungsanker, der goldene Faden, durch den sie vielleicht Rettung finden könnte.
Doch jetzt nagte eine Ratte an dieser rettenden Ranke. War das zu fassen? Wo die Ratte hergekommen war, das wusste nur die Hölle, vielleicht kam sie sogar direkt daher. Man sagt, dass man nie mehr als sechs Meter von diesem Ungeziefer entfernt ist, und im Augenblick stimmte das ganz gewiss, denn da saß sie, wie festgenagelt auf dem Felsen und knabberte und nagte; eine Ratte mit einer Mission, und sie zerstörte alles, was PILGERIN Sicherheit bot.
Wenn jemand einen bedroht, fällt es schwer, nicht zu hassen, und welchen Hass empfand PILGERIN auf die Ratte! Sie stellte sich vor, dass eine riesige Falle zuschnappte und ihr das Genick brach; aber solche Fantasien hielten das Knabbern und Nagen nicht auf. Jetzt, wo die Ranke geschwächt wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie in einem mörderischen Tempo zur Erde stürzte, um dort gefressen zu werden. Was sollte dieser ganze Unsinn, sich auf das Schöne im Leben zu konzentrieren? Hier gab es nichts Schönes.
PILGERIN tat ihr Bestes. Sie rüttelte an der Ranke, um die Ratte abzuschütteln. Sie drehte den Strang, damit das Ungeziefer seinen Halt verlor, aber es nützte nichts, und als schließlich das Ende kam, kam es schnell. Die Ranke riss, und PILGERIN stürzte nach unten. In gewisser Weise war es eine Erleichterung; wenigstens konnte sie jetzt die Hoffnung aufgeben.
»Leb wohl, Hoffnung!«, rief sie. »Land der Hoffnung, das Ende naht!«
Die Leute stellen die Hoffnung als etwas Gutes dar, doch wenn sie dir ins Gesicht lacht, dann kannst du gar nichts Gutes mehr erkennen. Es ist viel besser, sich von der Hoffnung zu verabschieden, und nachdem sie das getan hatte, war PILGERIN beinahe entspannt, als sie auf dem Boden aufschlug.
Was für ein Anblick! Außer Atem, aber bei vollem Bewusstsein, blickte PILGERIN direkt in das Pelzgesicht der Bestie, und wenn es auch nicht unbedingt ein schönes Erlebnis war, so waren die Schneidezähne des Tigers doch ein denkwürdiger Anblick.
»Das ist eine wirklich gute Natursendung«, dachte Randi, »nur leider spiele ich mit.«
Die Erhabenheit dieses Geschöpfes war bemerkenswert, sein hohles Brüllen wie Honig und Diamanten, und seine starken Schenkel waren bereit zuzuschlagen. PILGERIN schloss die Augen und wartete; sie wartete darauf, dass die schnappenden Kiefer ihren dünnen Hals umschlossen.
Welche Bedeutung hatte ihr Leben tatsächlich gehabt?
Und dann Stille.
Etwas hatte sich verändert; etwas, das vorher da gewesen war, war jetzt verschwunden. PILGERIN lag still, wie gelähmt, und wartete auf die Hinrichtung. Doch sie war unversehrt. Sie wusste, dass sie in Sicherheit war, obwohl es ihr nicht gelang, die Augen zu öffnen. Und was sie erblickte, als sie die Augen dann schließlich doch öffnete, war der Tiger, der im Gebüsch verschwand. Er hatte es sehr eilig, und für PILGERIN hatte der Schrecken ein Ende. Sie hatte noch einen weiteren Tag zu leben, einen weiteren Augenblick zu atmen, ein weiteres Morgen zu bedenken.
Ihr Tagebucheintrag war kurz, aber glücklich:
Ich lebe!
Eine ganze Weile blieb sie in dem trockenen Gras und den Disteln liegen, in allumfassender Zufriedenheit. Dann tanzte sie einen Siegestanz um einen Baum und legte sich anschließend wieder hin. Ein Schmetterling flatterte aus einer dunklen Ecke hoch und traf in seinem wilden Flug beinahe ihre Nase, bevor er davonflog.
»Bis später, blau-oranger Schmetterling!«, rief PILGERIN fröhlich. Eine Frage durchzuckte sie: Was war eigentlich passiert?
»Hier bin ich, gesund und munter«, dachte sie, »obwohl ich eigentlich tot sein müsste. Anstatt von einem Tiger gefressen zu werden, plaudere ich mit einem Schmetterling. Wie ist das geschehen?«
Sie wusste, sie war am Leben, aber sie hatte keine Ahnung, wie und warum das so war.
Und ganz plötzlich ergriff die Furcht wieder von ihr Besitz. Da war etwas im Gestrüpp, das PILGERIN zwar hören, aber nicht sehen konnte. Eine Schlange vielleicht? Das wäre möglich; in so dürrem Gestrüpp wimmelt es von Schlangen. Was für ein trostloser Gedanke: War sie vor dem Tiger gerettet worden, um dann von einer Schlange getötet zu werden? Wenn man nichts sehen kann, spielt die Fantasie einem manchmal einen Streich.
Es raschelte noch stärker, und schließlich vernahm sie ein hohes Quieken. PILGERIN rollte sich erschrocken zur Seite, spürte, dass etwas in der Nähe war, klein, aber versteckt. Das war die schlimmste Art von Feind, ein Feind, den sie nicht sehen konnte. Und dann endlich entdeckte sie ihn. Auf einem Stein sitzend, die Pfoten wie ein Bettler in die Höhe gereckt, saß die Ratte, die beinahe ihr Ableben verschuldet hatte. PILGERIN überlegte, welchen überaus schmerzvollen Tod sie diesem Wesen bereiten könne.
Doch als sie näher hinschaute, geschah etwas Seltsames: Die Ratte begann zu quieken, oder vielleicht mit ihr zu sprechen? PILGERIN fing an, Worte zu verstehen, und wenn sie nicht von der Ratte kamen, woher sonst?
»Du schuldest mir was«, sagte das Ungeziefer.
PILGERIN war verblüfft, aber sie hatte keine Lust, sich mit einem Tier zu unterhalten.
»Entschuldige, aber ich rede nicht mit Tieren«, erklärte