Название | Vollgasfußball |
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Автор произведения | Martin Rafelt |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783730703076 |
Abb. 1: Pressing nach außen im 4-2-3-1, Überzahl in Ballnähe durch kollektives Verschieben
„Gegenpressing“ bezeichnet die Balleroberung direkt nach einem Ballverlust. Der wichtigste Unterschied ist der, dass man sich nun nicht in seiner Defensivformation befindet. Die Spieler stehen weiter auseinander, da sie gerade noch im Angriff waren. Die Gegenspieler stehen dafür enger beisammen. Letzteres kann man nutzen, um sofort Druck aufzubauen. Damit wird im besten Falle verhindert, dass der Gegner einen Konter führen kann. Pressing wird also gegen den Angriff durchgeführt und Gegenpressing gegen den Gegenangriff. In anderen Sprachen werden teilweise auch Begriffe genutzt, die eher in Richtung „Konterpressing“ gehen.
Abb. 2: Gegenpressing nach einem Ballverlust, aus einer geordneten Spielaufbau-Staffelung wird von allen Seiten sofort Druck gemacht
„Der günstigste Moment, den Ball zu erobern, ist direkt nach eigenem Ballverlust. Der Gegner muss sich erst orientieren, schauen, wo er den Ball hinspielen könnte. Und zack, ist man schon da.“
Klopp 2012 an der Sporthochschule Köln über Gegenpressing
Der große Vorteil von Pressing und Gegenpressing ist, dass man weniger „klassisch“ verteidigen muss. Früher wurden die Abwehrspieler für Gegentore kritisiert. Bei Klopp werden eher die Mittelfeldspieler dafür kritisiert, dass die Abwehrspieler überhaupt eingreifen mussten. Das Spiel wird im Grunde nicht mehr qualitativ gewonnen, sondern quantitativ: also nicht dadurch, dass ich meinen Strafraum besser verteidige, sondern dadurch, dass ich meinen Strafraum seltener verteidige. Bei dieser Art Fußball löst sich das Spielergebnis auch etwas von der individuellen Ebene der Spieler. Deshalb konnte Klopp mit unterlegenem Personal überlegen sein. Seine Spieler konnten sich nicht unbedingt besser durchsetzen als ihre Gegenspieler, aber wenn sie sich durchsetzten, kamen sie öfter in die Situationen, in denen das gefährlich wurde.
Klopp und Organisation
Dass man den Gegner früh unter Druck setzt, ist dabei eigentlich ein sehr altes Element des Fußballs. Zumindest in bestimmten Spielphasen wurde das immer wieder praktiziert. Es galt allerdings als riskant, was es auch ist: Wenn ich nach vorne rücke und den Ballführenden attackiere, aber ausgespielt werde, hinterlasse ich Lücken. Entscheidend ist deshalb, wie das Pressing organisiert ist. Welche Spieler verteidigen wann welchen Raum? Wie groß wähle ich die Abstände zwischen den Spielern und den Mannschaftsteilen? Ab welcher Höhe attackiere ich den Gegner? Wohin will ich den Gegner leiten, wie laufe ich ihn an? Woran orientiere ich mich in meiner Positionierung auf dem Feld – an der Position, meinen Mitspielern, den Gegenspielern, dem Raum, dem Ball? Wie stark verschiebe ich zum Ball?
Aus heutiger Sicht ist der strategische Vorsprung Klopps auf die restliche Fußballwelt geschrumpft. In England kann er noch auftrumpfen, doch in Deutschland gehört aktives Verteidigen mittlerweile zum guten Ton. Was Klopp aber immer noch von vielen Trainern unterscheidet, ist sein taktischer Perfektionismus bei der Umsetzung seiner Strategien. Den meisten Trainern, die mittlerweile aggressiv pressen und umschalten lassen, geht diese Feinarbeit und die Balance in der Vermittlung ihrer Ideen ab. Alexander Zorniger zum Beispiel scheiterte in der Bundesliga mit einem Vollgasfußball, der zwar hochintensiv war, aber nicht stabil genug organisiert.
Perfektionismus
Klopps Ambition, sein Anspruch an sich selbst, ist die zweite Säule neben seiner Selbstbildung, die ihn zu so einem außergewöhnlichen Trainer macht. Andere Trainer geben sich mit weniger zufrieden als er. Sie geben einer Mannschaft einen gewissen Input und hoffen, dass dieser genügt. Taktische Aspekte werden normalerweise bis zu einem Level entwickelt, auf dem sie stabil funktionieren und alle Spieler damit zurechtkommen. Sie werden nicht perfektioniert; weder von der Idee noch von der Umsetzung her.
Klopp hingegen gibt sich nicht damit zufrieden, irgendein System zu haben – es soll das perfekte System sein. So formulierte er öffentlich, an seine Dortmunder Mannschaft den Anspruch zu haben, die kompakteste Mannschaft der Welt zu sein. Samuel Ipoua, 2000/01 Klopps Mitspieler in Mainz, berichtete einmal aus der gemeinsamen Zeit, dass ihm Klopp seinerzeit gesagt habe, eines Tages der beste Trainer Deutschlands zu sein. Auch nach seinem Aus beim BVB erneuerte Klopp seinen Anspruch an sich selbst:
„Ich bilde mich weiter, ich lese viel, ich treffe viele Leute. (…) Ich habe mir eine Auszeit genommen. Ich möchte nach der Auszeit nach Möglichkeit ein besserer Mensch, vor allem aber ein besserer Trainer sein.“
Klopp im September 2015
Am aufschlussreichsten ist aber vielleicht ein Satz aus seiner ersten Saison beim BVB. Damals sagte Klopp, dass er sich als Trainer endlich nicht mehr limitiert fühle; anders als in seiner Zeit als Spieler. So ist also das Selbstbild von Klopp: Er hat in seinen Trainerfähigkeiten kein Limit. Das heißt, es kann für ihn immer Weiterentwicklung geben. Folglich strebt er diese auch immer an.
Autodidaktischer Perfektionismus ist Klopps Lernmethode. Diese Herangehensweise ist elementar für das Verstehen von Klopps Arbeit. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass seine Arbeit visionär sein konnte. Dafür, dass Klopp seiner Zeit voraus sein und einen eigenen Stil entwickeln konnte. Ein Trainer, der nur gelernte Dinge umsetzt, kann immer nur mit etablierten Werkzeugen arbeiten und läuft damit grundsätzlich der Zeit hinterher. Um einen Vorsprung zu haben, muss man sich seine Werkzeuge selber konstruieren. Man muss Dinge tun, die die anderen noch nicht lernen konnten. Man muss eigenständig, kreativ und in gewissem Maße visionär sein.
Auch Klopps Mindset dabei ist außergewöhnlich. Er ist reflektiert, rational und differenziert in seinen Einschätzungen. Besonders bemerkenswert ist die Reflektiertheit bezüglich der eigenen Emotionalität. Er nutzt diese zwar, wann immer es Sinn ergibt und sich daraus Energie ziehen lässt, reflektiert aber dennoch stark genug, um emotional begründete Denkfehler zu erkennen. Beispielsweise erklärte er einmal auf einer Pressekonferenz, es gäbe zwei Ansätze, mit den erzieherischen Erfahrungen umzugehen, die man im Laufe seines Lebens macht: „Das hat mir nicht geschadet, das mache ich auch so“ und „Das fand ich fürchterlich, das werde ich niemals machen“. Seine Schlussfolgerung: Beide Ansätze sind Unsinn. Er reagiert also auf Erfahrungen nicht emotional schwarz-weiß, sondern versucht sie differenziert zu bewerten und mit einer gewissen Distanz einzuordnen.
Das ist eine Erkenntnisstrategie: die rationale Überprüfung und Verarbeitung von emotionaler Reaktion. Diese Fähigkeit führt auch dazu, dass Klopp so gut mit eigenen und fremden Emotionen hantieren kann. Dass er auf Pressekonferenzen häufig ganz explizit thematisiert, wie sich eine Situation anfühlt, und daraus dann Schlussfolgerungen zieht. Zwar hat er seine Emotionen nicht in jeder Situation im Griff – seine Ausraster am Spielfeldrand sind berüchtigt. Allerdings kann er im Allgemeinen seine Emotionalität gut für sich nutzen und besonders im langfristigen Prozess recht gezielt steuern. Die Brücke zwischen Rationalität, Emotionalität und Intuition schlagen zu können, ist eine herausragend wertvolle Fähigkeit für einen Fußballtrainer. Sie ist die Grundlage für eine passende Menschenführung, für eine wirkungsvolle Ansprache und eine taktische Analyse und Planung, die ins Gesamtgefüge passt.
Das kongeniale Trainertrio 2008 vor der ersten