Vollgasfußball. Martin Rafelt

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Название Vollgasfußball
Автор произведения Martin Rafelt
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730703076



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Ergebnis dieser analytischen Herangehensweise und zugleich wichtigste Säule von Klopps Erfolg ist, dass er weiß, wie man gut Fußball spielt. In der öffentlichen Diskussion ist das ein Faktor, der normalerweise völlig unter den Tisch fällt. Es wird davon ausgegangen, dass jeder weiß, wie das grundsätzlich geht. Aber das ist eben nicht der Fall. Das Fußballverständnis der meisten Menschen – in beobachtender und aktiver Rolle – ist von simplen dogmatischen Heuristiken geprägt, die sich über Jahrzehnte verselbstständigt haben und die von Verständlichkeit leben, nicht von Qualität. Viele Leute verstehen eigentlich gar nicht, wie Fußball fundamental funktioniert und wie seine Facetten aussehen, sondern sie kennen eine bestimmte Spielweise.

      Das beste Beispiel dafür ist die Manndeckung mit Libero, die in Deutschland jahrzehntelang praktiziert und nicht hinterfragt wurde – bis irgendwann am ausbleibenden Erfolg klar wurde, dass es Spielweisen gibt, die besser sind. Auch die 4-4-2-Raumdeckung, die aktuell den Welt- und vor allem Jugendfußball prägt, ist nur eine einzelne, einigermaßen simple Art und Weise, mit der Komplexität des Spiels fertig zu werden. Beide Varianten setzen auf anspruchslose Orientierungen, die selbst für den untalentierten Fußballer nicht zu schwierig sind: Bei der Manndeckung suche ich mir einen einzelnen Gegenspieler, verfolge ihn und ignoriere das restliche Spiel mehr oder weniger. Bei der Raumdeckung halte ich mich an meine Position und reagiere auf das Spielgeschehen mehr oder weniger erst dann, wenn es in meiner unmittelbaren Nähe ist. In beiden Fällen blende ich einen großen Teil des Spielgeschehens aus, um der Komplexität des Spiels Herr zu werden.

      Auffällig dabei ist auch, dass die großen, festen Regeln des Fußballs meist die Defensive betreffen. Weil die Offensive so sehr von den individuellen Fähigkeiten der Spieler abhängt, ist sie taktisch weitestgehend „unerforscht“. Offensive Maßnahmen beschränken sich meist auf die Betonung bestimmter individueller Mittel („mehr Flanken“) und unspezifische Rhythmusvorgaben („schneller spielen“). Genauere taktische Vorgaben lassen sich wegen der Dynamik und Komplexität des Spiels auch tatsächlich schwer so gestalten, dass sie anwendbar und effektiv sind. Trotzdem wird immer wieder von unterschiedlichsten Leuten betont, dass Fußball ein simples Spiel sei. Bei einem Spiel, in dem sich 22 Spieler völlig frei auf einem riesigen Feld bewegen, wodurch quasi unendlich viele Situationen entstehen können. Doch wenn das Spiel wirklich so einfach wäre, dann wäre Spielintelligenz sicherlich kein so seltenes Gut unter Fußballern. Spielern würde es auch viel leichter fallen, unbekannte Positionen zu spielen, und kreative Momente wären häufiger. So ist es aber nicht.

      Beginnend vor etwa zehn Jahren hat sich das Fußballverständnis zwar rapide weiterentwickelt und verändert, und so werden zum Beispiel die Lehrinhalte des DFB ständig überarbeitet. Trotzdem wird immer noch wenig Augenmerk darauf gelegt, was die handwerklichen Umstände von Sieg und Niederlage sind. Das ist innerhalb des Fußballs teilweise so und im öffentlichen Verständnis ganz extrem. „Die können es doch eigentlich!“, wird gerne gesagt. Es wird also angenommen, dass die Frage, was auf dem Feld zu tun ist, wie man gut spielt, keine Frage ist. So, als ginge es nur darum, die Lösungen umzusetzen, und nicht darum, die Lösungen zu finden. Diese Herangehensweise ist falsch und führt immer wieder zu Ratlosigkeit bei der Erklärung von unerwarteten Erfolgen oder Misserfolgen.

      Ich beginne dieses Buch mit diesem Verriss der Zustände im Fußball, weil dies fundamental für das Verständnis ist, was herausragende Trainer ausmacht. Wer eine Mannschaft formen will, die guten Fußball spielt, braucht eine genaue Vorstellung davon, was diesen guten Fußball ausmacht. Er muss genau wissen, wie es geht. Er muss nach schlechten Spielen herausfinden können, was die Mannschaft genau falsch gemacht hat. Er darf sich nicht hinter einer emotionalen Ursachenforschung verstecken, wenn es konkrete handwerkliche Defizite bei seiner Mannschaft gibt. Es gibt zahlreiche weitere Faktoren, die die Qualität eines Trainers bestimmen, doch das Verständnis für das Spiel ist das Fundament. Und um die Qualität eines Trainers zu verstehen und zu beurteilen, muss man dementsprechend ebenfalls auf diesen Faktor blicken.

       Aktivität

      Ein zweites Missverständnis von der taktischen Ebene des Fußballs ist die, dass „taktische Disziplin“ sich auf passives Verteidigen bezieht. Klopp ist die Personifizierung des Gegenteils. Seine Philosophie ist überall aktiv. Seine taktische Disziplin ist nicht die Disziplin, nichts zu tun und Fehler zu vermeiden. Seine taktische Disziplin ist vielmehr, die Lösungen auf dem Feld zu finden und zu perfektionieren. Eine Taktik zu haben, bedeutet also, eine Lösungsmöglichkeit zu haben. Es gibt eine Problemstellung, und man erarbeitet einen Plan, um dieses Problem zu lösen. Auf diese Weise erarbeitet man eine Taktik. Fußball ist ein Spiel, und Spiele bestehen aus der Herausforderung, Probleme zu lösen. Im Fußball sind diese Probleme die Kontrolle des Raumes, die Kontrolle des Balles, die Kontrolle des Gegners und damit letztlich die Kontrolle des Spiels.

      „Fußball ist kein Fehlervermeidungsspiel.“

       Jürgen Klopp über ein Gegentor durch einen individuellen Fehler

      Dementsprechend ist es auch kein taktisches Spiel, die Kontrolle dem Gegner zu überlassen. Wenn man selbst nicht in der Lage ist, Kontrolle auszuüben, dann kann das zwar eine strategische Entscheidung sein, die Sinn ergibt. Aber sie wird immer nur darauf basieren, dass man nicht in der Lage ist, mehr Kontrolle auszuüben – also taktisch hochwertiger zu spielen. Klopps Philosophie ist die, so viel wie möglich richtig zu machen – und nicht, so wenig wie möglich falsch zu machen. Bei seinen Iden geht es um Aktivität. Das Pressing ist die Umkehr der Logik, dass die verteidigende Mannschaft reagiert. Bei einem guten Pressing agiert die Mannschaft ohne Ball, sie bestimmt das Spiel. Das Gegenpressing ermöglicht ein aktiveres, risikoreicheres Spiel mit dem Ball und entwertet die reaktiven Möglichkeiten des gegnerischen Konters.

       Bedeutung der Taktik

      Für dieses Buch ist es wichtig, frühzeitig die Bedeutung des Begriffes „Taktik“ zu erklären. Im fußballerischen Volksmund nämlich wird die allgemeine Marschroute als Taktik bezeichnet; die strategische Vorgabe also. Die Strategie ist aber eben das übergeordnete Leitmotiv, welches man verfolgt. Die Strategie wird in diesem Buch dementsprechend nicht als Taktik bezeichnet. Die Taktik bezeichnet hier die konkrete Umsetzung der Strategie: Wann bewege ich mich wohin, welchen Pass spiele ich in welcher Situation, wann gehe ich ins Dribbling, über welche Räume versuche ich anzugreifen und so weiter. Auch die taktischen Hintergründe für Aufstellungen werden als Taktik bezeichnet, ebenso wie die Art und Weise, in der Mannschaften sich auf dem Feld organisieren.

      Wichtig ist zudem, dass nicht nur geplante Dinge taktisch betrachtet werden. Die Feststellung eines taktischen Sachverhaltes bedeutet nicht, dass dies eine konkrete Vorgabe oder Planung des Trainers war. Wenn sich aus den Wechselwirkungen zwischen zwei Teams organisch ein bestimmtes Muster ergibt, so ist dieses ebenfalls taktisch zu betrachten. Weil Fußball zu einem großen Teil intuitiv und gefühlsmäßig gespielt wird, ist es auch die besondere Herausforderung an den Trainer, systematische Dinge so zu planen, dass sie sich mit den intuitiven Voraussetzungen und den Zufällen vertragen, die so im Laufe von 90 Minuten auf dem Feld passieren.

      Wenn die taktische Analyse an der ein oder anderen Stelle ungewöhnlich komplex wirkt, liegt das also an der Komplexität des Spiels, nicht an einer übertrieben verwissenschaftlichten Herangehensweise der handelnden Personen. Ebenfalls negiert die taktische Erklärung keine anderen Erklärungen. Wenn eine Mannschaft schlecht spielt, kann das beispielsweise durchaus psychologische Gründe haben. Bevor diese in Tore umgemünzt werden, müssen sie sich jedoch erst einmal auf die Verhaltensweise auf dem Feld auswirken – und sind dementsprechend taktisch zu beobachten. Insofern kann jede Art von Begründung im weiteren Sinne taktisch „übersetzt“ werden, das ist kein Widerspruch.

      Der elementarste Bestandteil von Klopps Fußball ist die aktive Arbeit gegen den Ball. Er hat sie nicht erfunden, ist aber einer der größten Pioniere, hat sie perfektioniert wie vielleicht kein anderer Trainer und sie