Das Stahlwerk. Christian Piskulla

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Название Das Stahlwerk
Автор произведения Christian Piskulla
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944755236



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dann wird man mich ersetzen, so viel ist sicher.“ Von Kessel senkte die Stimme, beugte sich wieder nach vorn zu Jarek. „Und wenn hier erstmal ein SS-Mann auf dem Chefsessel sitzt, Herr Kruppa, dann wird der lange Arm der SS von Warschau bis nach Duisburg reichen.“

      Auch von Kessel goss sich jetzt einen Cognac ein. Schöppke sah neugierig zu Jarek herüber, schwenkte langsam sein Glas. Stille, nur das leise Knacken des Holzes im Kaminfeuer war zu hören. Von Kessel hatte recht. Der Krieg konnte noch Jahre dauern. Selbst mit von Kessels Hilfe würde er im Arbeitslager vielleicht nicht überleben. Eine Position außerhalb des Lagers könnte sein Überleben jedoch sichern. Würde ein SS-Mann die Werksleitung übernehmen, wäre das für ihn und viele andere Zwangsarbeiter ein Todesurteil.

      „Mir ist klar, dass Sie mir den Täter nicht herbeizaubern können, Herr Kruppa. Aber wenn Sie uns nicht helfen, dann werden weitere Menschen sterben, und Sie wahrscheinlich ebenfalls. Fassen wir den Mörder, dann besteht für uns alle eine gute Chance, das Kriegsende zu erleben. Und so Gott will, haben wir dann noch ein paar gute Jahre.“ Von Kessel sah Jarek an, wartete auf eine Antwort. Man sah ihm seine Anspannung an.

      Jarek atmete tief ein. „Gut, ich bin dabei. Aber ich habe Bedingungen. Haben Sie etwas zu schreiben?“ Von Kessel stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Notizblock nebst Füller zurück. „Schießen Sie los, Herr Kruppa.“

      „Ein zentral gelegenes Büro mit Schlafgelegenheit wurde bereits angesprochen. Ich muss mich unauffällig unter die Arbeiter mischen können. Neben Zivilkleidung benötige ich einen kompletten Satz Arbeitskleidung, Helm, Schutzbrille, Handschuhe, alles was dazugehört. Ich brauche auch ein Waschbecken, Spiegel, Waschlappen, Seife, Rasierzeug und so weiter.“ Von Kessel schrieb mit, nickte. „Gut, geht klar.“

      „Außerdem brauche ich einen Ausweis, der mich als Mitarbeiter des Werkschutzes mit einer gewissen Autorität ausstattet. Einem Häftling beantwortet niemand Fragen.“ Von Kessel sah Schöppke an, der nickte: „Kein Problem.“ „Dann brauche ich einen kompletten Satz Pläne vom gesamten Stahlwerk, dazu farbige Reißzwecken.“ Von Kessel schrieb, Jarek überlegte weiter. „Das Büro braucht einen Telefonanschluss, ich muss dort jederzeit erreichbar sein. Sie müssen mich sofort informieren, sollte sich etwas ereignen.“

      Jarek sah Schöppke an. „Gibt es so etwas wie einen Fahrdienst, den ich in Anspruch nehmen kann? Das Werk ist riesig. Auch ein Fahrrad wäre gut.“ Schöppke nickte „Ja, einen Fahrdienst kann ich Ihnen organisieren, aber der ist nicht nur für Sie da. Da müssen Sie manchmal schon etwas warten. Aber, sollte ein weiterer Mord passieren, dann holen wir Sie sofort ab. Ein Fahrrad besorge ich Ihnen ebenfalls.“

      Jarek fuhr fort: „Ich brauche eine zuverlässige Armbanduhr. Schreibzeug, Papier und Bleistift. Dazu einen roten Buntstift. Und Geld. Was kostet eine Schachtel Zigaretten momentan?“ Von Kessel blickte verwirrt. „Wollen Sie das Rauchen anfangen? Davon rate ich Ihnen ab. Die Schachtel kostet 40 Pfennige.“ Jarek lächelte. „Nein, nein, aber was verdient denn ein Arbeiter im Durchschnitt?“ „So zwischen 160 und 200 Reichsmark, je nach Stunden und Schichtzulage“, antwortete von Kessel. „Gut, dann brauche ich erstmal 200 Reichsmark in kleinen Scheinen.“ Er blickte zu von Kessel, der mit dem Schreiben zögerte, auf eine Erklärung wartete. „Viele Zeugen erinnern sich erst, wenn man ihnen etwas Geld zusteckt. Und ein kleines Trinkgeld oder eine Schachtel Zigaretten öffnet Münder und Türen, meine Herren.“ „Da haben Sie recht“, von Kessel notierte die Summe.

      „Des Weiteren benötige ich sämtliche Ermittlungsakten der Polizei, mit allen Fotos, Skizzen, Zeugenbefragungen und was sonst noch existiert. Wenn möglich im Original.“ Von Kessel blickte zu Schöppke, der seine Stirn kräuselte. „Das wird nicht einfach. Aber ich kümmere mich morgen früh darum. Eventuell brauche ich da auch 200 Reichsmark, Herr Doktor von Kessel.“ Von Kessel verstand den Wink, nickte. Geld war nicht das Problem.

      Jarek fuhr fort. „Gibt es eine Auswertung aller Schichtpläne seit dem Beginn der Mordserie? Ist feststellbar, ob es Personen gibt, die an allen Tagen, an denen es einen Mord gab, im Werk waren?“ Wieder blickten Jarek und von Kessel auf Schöppke. „Oha, da fragen Sie mich was. Ich werde das ebenfalls morgen im Lohnbüro anfragen, aber das kann ein paar Tage dauern. Ich kann nichts versprechen.“

      „Was brauchen Sie noch, Herr Kruppa?“, fragte von Kessel. Jarek sah in an, ließ sich Zeit. „Ein Waffe, Herr Doktor von Kessel, eine Pistole.“ Von Kessel schwieg, sah irritiert zu Schöppke. Er lehnte sich zurück, antwortete: „Herr Kruppa, nicht mal der Werkschutz hat hier Schusswaffen. Die Männer von Schöppke haben Gummiknüppel und eine Trillerpfeife, sonst nichts. Nur Wehrmacht und SS sind auf dem Werksgelände bewaffnet. Ich kann Ihnen keine Pistole überlassen, es tut mir leid.“ Von Kessel schüttelte den Kopf, wartete auf Jareks Reaktion. Jarek fuhr unbeirrt fort. „Meine Herren, wir jagen einen Serienmörder, der mehrere Menschen mit bloßen Händen getötet hat. Der wird sich nicht so ohne Weiteres festnehmen lassen. Ich brauche eine Waffe“, sagte Jarek entschlossen. „Und es wäre dringend ratsam, den gesamten Werkschutz mit Pistolen zu bewaffnen. Ihr Kollege Wittek wäre dann vielleicht noch am Leben, Herr Schöppke.“

      „Eventuell haben Sie da recht. Die Regel mit den Gummiknüppeln stammt noch aus der Vorkriegszeit“, antwortete Schöppke. „Die Mordserie hat ebenfalls etwas verändert, aber viele meiner Männer sind nicht an Schusswaffen ausgebildet oder trainiert. Das geht nicht auf die Schnelle.“ Von Kessel blieb hart. „Zivilkleidung, einen Werksausweis, Bargeld und dazu noch eine Schusswaffe. Weder das Rüstungsministerium noch die Duisburger Polizei würden zustimmen, dass wir einen Zwangsarbeiter mit Mordermittlungen beauftragen. Wenn Sie verschwinden, und rauskommt, dass wir Sie so ausgestattet haben, dann landen ich und Schöppke am Strick, Herr Kruppa. Ich besorge Ihnen einen Kampfdolch, Handschellen und einen Totschläger, aber eine Pistole ist nicht drin. Außerdem sind Sie doch Boxer, oder?“

      Jarek schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Ihre Bedenken. Aber mit einem Psychopathen, der nichts zu verlieren hat, steigt man nicht in den Ring. Mordermittlungen sind immer lebensgefährlich, und was haben Sie davon, wenn ich Leiche Nummer elf bin? Aber gut, wir fangen erst einmal an, und ich begnüge mich zunächst mit einem Dolch. Vergessen Sie die Handschellen.“ Von Kessel nickte. „Ist notiert. So etwas haben die sicher unten in der Kaserne.“ Er blickte auf: „Sonst noch etwas?“

      „Nein, das war es erstmal. Mir fällt sicher noch etwas ein, ich gebe es dann durch. Wann soll ich anfangen?“, fragte Jarek. „Schöppke bringt Sie sofort in Ihr neues Büro. Da steht auch schon ein Feldbett. Alles Weitere bringt er Ihnen morgen früh gegen acht Uhr. Schöppke, denken Sie an Essensmarken, sodass Herr Kruppa sich jederzeit in einer der Kantinen oder am Verkaufswagen versorgen kann.“ Von Kessel stand auf, Jarek und Schöppke ebenfalls.

      Von Kessel reichte ihm die Hand, anders als bei der Begrüßung. Sein Händedruck war fest, aber nicht übertrieben. „Normalerweise verzichte ich auf derlei Banalitäten. Man steckt sich nur mit Grippe an.“ Er lächelte, ließ Jareks Hand wieder los. „Aber dies ist ein besonderer Moment. Unser Schicksal liegt in Ihrer Hand, Herr Kruppa. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, aber vor allem auch Glück. Sie werden es brauchen.“ Er sah zu Schöppke herüber. „Schöppke wird Ihnen vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Wenn Sie etwas brauchen, Unterstützung oder Ausrüstung, dann wenden Sie sich an ihn. Er wird zudem unser Kontaktmann sein und mich über alles unterrichten.“ Er begleitete die beiden zur Tür. „Wenn es zwingend notwendig ist, werden wir uns noch einmal treffen. Ansonsten sehen wir uns erst wieder, wenn der Fall geklärt ist. Meine Herren, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“ Sie waren schon aus der Tür, da rief er ihnen hinterher: „Ach, und Schöppke, gehen Sie mal zum Frisör, Sie sehen ja unmöglich aus.“

      ●

      Schöppke und Jarek standen wieder in der Kabine des Paternosters, der langsam nach unten glitt. Das Licht in der Kabine war defekt und flackerte. Schöppke setzte sich seine Mütze auf, sah Jarek an. „Ich habe es Ihnen ja gesagt. Ab morgen keine Häftlingskleidung mehr. Aber dass Sie so ein Polizei-Ass sind und ab sofort de facto mein Vorgesetzter, da wäre ich nicht drauf gekommen“, lächelte er verschmitzt. „Davon hat der Doktor gestern kein Wort erwähnt. Dass Sie ein Büro brauchen und einen Schlafplatz, das hat er schon vorausgeplant. Ich