Das Stahlwerk. Christian Piskulla

Читать онлайн.
Название Das Stahlwerk
Автор произведения Christian Piskulla
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944755236



Скачать книгу

den Tisch, stützte seinen Kopf auf die Fäuste. „Mich interessiert vielmehr, wie Sie sich jetzt im Moment fühlen, und ob Sie bereit für eine außergewöhnliche Aufgabe sind, Herr Kruppa.“ Er sah Jarek an, beugte sich noch etwas weiter nach vorn. „Eine Aufgabe, die Ihr Leben, so wie es jetzt ist, beenden kann.“ Jarek antwortete nicht, erwiderte den Blick, wartete auf weitere Informationen.

      Von Kessel lehnte sich zurück, zog ein goldenes Zigarettenetui aus dem Jackett, zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch genussvoll zur Decke. Das aufgeklappte Etui ließ er auf dem Tisch liegen, benutzte den Deckel als Aschenbecher.

      „Sie sind Jarek Kruppa, zweiundvierzig Jahre alt, Witwer.“ Von Kessel sah ihn an. „Ihr Vater war Pole, Mathematikprofessor, Ihre Mutter war Deutsche, eine überaus erfolgreiche Chemikerin.“ Von Kessel nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch wieder zur Decke. „Ihre Frau und ihre vierjährige Tochter kamen 1935 bei einem Autounfall ums Leben.“ Jarek reagierte nicht, hörte weiter zu. „Sie selbst haben nach dem Abitur sechs Jahre in der Polnischen Armee gedient, unter anderem als Nahkampf-Ausbilder. Danach sind Sie zur Warschauer Polizei gegangen.“ Schöppke, bis hierhin fast regungslos, hob die Augenbrauen. „Die Armee wollte Sie eigentlich nicht gehen lassen, denn sie sprechen ja fließend fünf Sprachen, richtig?“ Jarek antwortete: „Ja, ich spreche Polnisch, Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Wer zweisprachig aufwächst, der lernt auch andere Sprachen schnell. Mein Vater konnte zudem sehr gut Englisch, meine Mutter perfekt Französisch.“

      Von Kessel lächelte: „Nicht so bescheiden, Herr Kruppa.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Bei der Polizei haben Sie kurz nach der Ausbildung bei der Abteilung für Schwerverbrechen angefangen, richtig?“ Jarek nickte nur langsam. „Und hier haben Sie sich sehr schnell einen guten Ruf gemacht. Ob Mord, Vergewaltigung, Raubüberfall – der Kruppa galt als harter Hund, dem kein Fall zu schwer ist.“ Von Kessel nahm noch einen Zug, setzte seine Ausführungen fort: „Sie galten als gerissen, ausdauernd, intelligent. Ihre Methoden oft unkonventionell, Ihre Verhöre oft brutal. Ihre Zeit als Nahkampf-Ausbilder kam Ihnen da wohl häufig zupasse?“ Von Kessel blickte Jarek an, neigte fragend den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das alles aus meiner Akte haben“, antwortete Jarek trocken.

      „Im Jahr Ihrer Verhaftung und Deportation zählten Sie zu den besten Kriminalpolizisten Polens. Keiner hat mehr Morde aufgeklärt, keiner mehr Schwerverbrecher hinter Gitter gebracht als der Kruppa.“ Schöppke blickte von der Seite erstaunt auf Jarek, konnte nicht glauben, was er da hörte. Von Kessel nahm noch einen tiefen Zug, blies den Rauch erneut zur Decke, drückte anschließend die Kippe aus. Er ließ sich Zeit. „Aber dann haben Sie den Zuhälter ermordet. Was war denn da mit Ihnen los?“

      ●

      Mit der Frage hatte Jarek nicht gerechnet. Er dachte an die Ereignisse von damals zurück. 1939 war in Warschau die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Die Leiche war nackt, sie wies Spuren von massiver Gewalt auf. Das Gesicht, der Oberkörper, der Bauch, alles war von Blutergüssen, Prellungen und Quetschungen übersäht. Das Gesicht war zertrümmert, Jochbein und Kiefer waren gebrochen. Es gab mehrere Rippenbrüche, eine der gebrochenen Rippen war ins Herz eingedrungen, was die Todesursache gewesen war. Der Gerichtsmediziner ging davon aus, dass der Täter kein Schlaginstrument benutzt hatte, sondern die bloßen Fäuste, eventuell mit Handschuhen.

      Eine Identifizierung der entstellten Leiche erwies sich als unmöglich. Allerdings hatte die Frau eine Tätowierung auf der rechten Hüfte, einen kleinen blauen Kolibri. Tätowierungen waren extrem ungewöhnlich, kamen ausschließlich bei Seeleuten, Häftlingen und im Rotlichtmilieu vor. Kruppa hatte seine Spur. Prostitution war in Polen zwar offiziell verboten, wurde in unauffällig geführten Häusern jedoch geduldet – auch unter der deutschen Besatzung.

      Er hörte sich um. Bei den Mädchen, die er kannte, und auch bei den Kollegen auf dem Revier. Der Rotlichtbezirk von Warschau war überschaubar, und so dauerte es nicht lange, bis er einen Hinweis bekam. Ein Mädchen vermisste seine Freundin, Zofia Kowalski. Größe, Gewicht und Haarfarbe stimmten – und auch die Tätowierung.

      Der Lude von Zofia Kowalski war ein gewisser Lukasz Danowski. Er war bekannt dafür, dass er die Freier beklaute, während diese mit den Mädchen im Bett waren. Gewalttaten waren von ihm nicht bekannt. Er galt im Milieu eher als einer, der seine Mädchen mit Lügen und Versprechungen bei der Stange hielt.

      Jarek ging davon aus, dass ein Freier das Mädchen ermordet hatte. Und da die Freier die Mädchen nicht selbst ansprachen und bezahlten, sondern zunächst den Luden, musste Danowski den Mörder kennen.

      Jarek lockte Danowski in eine Falle, in ein abgelegenes Haus am Stadtrand. Hier konnte er den Luden in Ruhe vernehmen. Er hielt nichts davon, Kriminelle mit Samthandschuhen anzufassen. Er wusste, wie Zofia gestorben war, hatte ihre Leiche mit eigenen Augen gesehen. Danowski war zwar nicht der Mörder, aber er deckte ihn. Danowski konnte von ihm keine Gnade erwarten.

      Kruppa setzte seine Fäuste gekonnt ein. Es dauerte jedoch eine halbe Stunde, bis Danowski mit dem Namen herausrückte. Der letzte Freier war ein gewisser Josef Huber, ein deutscher SS-Soldat.

      Huber war nicht bei der kämpfenden Truppe, er war Fahrer. Sein Chef war der SS-Sturmbannführer Horst Brandl. Brandl war seit der Besetzung Polens in Warschau, er galt als eiskalter Nazi. Besonders seine Maßnahmen gegen Mitglieder des polnischen Widerstands in Warschau hatten ihm den Ruf eines Sadisten eingebracht.

      Jarek wusste, dass es unmöglich war, einen SS-Offizier in Polen vor Gericht zu bringen. Schon bei einem einfachen Wehrmachtssoldaten wäre die Sache schwierig gewesen. Dennoch ermittelte er weiter. Brandl und Huber kamen beide aus München. Über Umwege zog Jarek Erkundigungen bei der Münchner Polizei ein. Gegen Brandl war vor dem Krieg ermittelt worden. Versuchte Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen, einhergehend mit schwerer Körperverletzung. Vor Gericht zog das Mädchen seine Aussage zurück, die Klage wurde mangels Beweisen fallen gelassen.

      Jarek war sich sicher: Huber hatte das Mädchen organisiert, Brandl war der Täter. Brandl die Tat nachzuweisen war schier unmöglich. Jarek beschloss also, die Sache zunächst ruhen zu lassen. Vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit, einem Vorgesetzten Brandls die Akte zukommen zu lassen und ihn so der Gerechtigkeit zuzuführen.

      Als er abends nach Hause kam, warteten sie bereits in seiner Wohnung auf ihn. Vier SS-Männer, zwei Wehrmachtssoldaten. In seiner Wohnung wurde eine Druckerpresse gefunden, angeblich sollte er kommunistische Propaganda verbreitet haben.

      Jarek überlegte, wer seine Ermittlungen verraten haben könnte, eventuell die Münchener Polizei? Später kam heraus: Es war Danowski. Er hatte sich der SS anvertraut, darauf gehofft, dass man ihm für seine Kooperation Schutz gewährte. Doch er täuschte sich, die SS liquidierte ihn. Später wurde auch der Tod Danowskis Jarek zur Last gelegt. Angeblich waren seine Verhörmethoden schuld am Tod des Luden.

      Er wurde wegen Hochverrats und Totschlag angeklagt. Der Staatsanwalt beantragte die Todesstrafe. Jareks Vorgesetzte, von seiner Unschuld überzeugt, ließen hinter den Kulissen ihre Beziehungen spielen. Mit Erfolg. Jarek wurde zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt.

      ●

      „Ich habe niemanden ermordet“, antwortete Jarek auf die Frage von Kessels. „Wenn Sie so gut informiert sind, wie es scheint, dann sollten Sie das eigentlich wissen.“ Er sah erst von Kessel, dann Schöppke an. „Die SS hat mir den Mord untergeschoben. Sie war es, die Danowski ermordet hat!“ Er war erregt, seit seiner Verurteilung hatte er mit niemandem über die Vorgänge in Warschau gesprochen.

      „Bitte, regen Sie sich nicht auf“, beruhigte ihn von Kessel. „Ich weiß, dass Sie den Mord nicht begangen haben.“ Sein Blick wanderte langsam von Jarek zu Schöppke. „Noch bevor Herr Kruppa hier eingetroffen ist, nahmen seine Freunde aus Warschau Kontakt zu mir auf.“ Er lächelte verschmitzt, wie jemand, der ein gut gehütetes Geheimnis preisgab. „Ich bin seit Langem über die Vorgänge in Warschau informiert.“

      An Schöppke gewandt sagte er, ohne Details preis zu geben „Herr Kruppa hat seine Nase zu tief in die Angelegenheiten der SS gesteckt.“ Schöppke sah Jarek eindringlich an, lehnte sich zurück. „Da brat mir einer einen Storch. Der beste Kriminalkommissar Polens