Название | Das Stahlwerk |
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Автор произведения | Christian Piskulla |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944755236 |
Vom ersten Tag an war Jarek vom Stahlwerk fasziniert, auch wenn es sein Gefängnis war. Das Stahlwerk glich einer riesigen Maschine, in deren Inneren man arbeitete. Man wurde Teil der Maschine, verschmolz mit ihr. Das Stahlwerk hatte seinen eigenen Geruch, seinen eigenen Geschmack. Die dem Werk eigene Geräuschkulisse lag Tag und Nacht über dem Gebiet und war noch in vielen Kilometern Entfernung zu hören.
Bei Tag war das Stahlwerk grau, dreckig, staubig. Überall sah man rostiges Metall, Schlacke, Halden von Erz und Koks. Die Hallen bestanden aus dunklen Ziegeln oder waren mit schwarzen Eisenplatten verkleidet.
Die Menschen, die sich außerhalb der Hallen bewegten, trugen verdreckte dunkelblaue oder schwarzgraue Arbeitskleidung. Die Gesichter oft verrußt, dunkelbraune Helme aus Bakelit auf den Köpfen. Wessen Schicht zu Ende war, der ging oft gebeugt, müde.
Bei Nacht wurde das Stahlwerk zur unheimlichen, gespenstischen Kulisse. Wegen der Luftangriffe waren die meisten Lichtquellen und Fenster verdunkelt. Schwarz ragten die Hallen in den Himmel. Kaum jemand war zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den unbeleuchteten Hallen gab es zwar Wege, es war jedoch gefährlich, diese in der Dunkelheit zu benutzen. Überall lag scharfkantiger Schrott, lagerten Bleche, Maschinenteile. Dazwischen gab es Lüftungsschächte, Kellertreppen, Baugruben. Nachts war es abseits der Straßen lebensgefährlich.
Jarek blickte aus dem Fenster, sah das rote Leuchten am Nachthimmel. Abstich, jetzt wurde das Roheisen aus dem Hochofen gelassen, Funken spritzten meterhoch. Männer mit Hitzeschutzanzügen und Visieren vor den Gesichtern standen im roten Rauch und kontrollierten den Ablauf.
Der Wagen war kein gewöhnliches Auto. Es war ein Mercedes der Luxusklasse, wahrscheinlich das Auto des Werksleiters. Leder, Holz, verchromte Zierleisten. Es musste einen Grund geben, dass sie ihn mit diesem Wagen abholten, nicht mit einem herkömmlichen Pkw. Nein, zur Hinrichtung hätten sie keinen Mercedes mit Fahrer geschickt. Jarek fiel ein, dass er seit zwei Jahren kein Auto mehr gefahren war. Die letzte Fahrt war in einem Lkw gewesen, bewacht von vier SS-Männern, vom Amtsgericht Warschau zum Güterbahnhof. Sechs Tage später kam er im Stahlwerk Duisburg an.
Nach zehn Minuten war die Fahrt zu Ende. Der Wagen stoppte vor einem großen, hässlichen Gebäude, das eher wie ein Bunker aussah als wie eine Hauptverwaltung. Schöppke stieg aus, öffnete ihm die Tür. „Da sind wir, Herr Kruppa. Endstation.“ Endstation, das wollte Jarek nicht hoffen.
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Schöppke und Jarek gingen vom Parkplatz zum Eingang. Vor den schweren, großen Toren aus Metall standen zwei bewaffnete Wehrmachtssoldaten. Es waren keine unrasierten Jünglinge. Sie wirkten deutlich entschlossener und bedrohlicher. Sie kannten Schöppke, nickten kurz, ließen die beiden Männer ungehindert passieren. Jarek, in seinem Häftlingsanzug, schien die beiden nicht zu interessieren. Sie würdigten ihn keines Blickes.
Die Eingangshalle wirkte wesentlich nobler als der Außenbereich. Der Fußboden aus Marmor, Leuchter aus Messing, Tische und Stühle aus edlen Hölzern. Die Halle sah eher aus wie eine Hotellobby, nicht wie ein Verwaltungsbau. Hier wurde scheinbar vor dem Krieg noch richtig Geld verdient.
Schöppke und Jarek stiegen gemeinsam in eine Paternosterkabine. Wie in Zeitlupe bewegte sich die Kabine nach oben. Schöppke öffnete seinen Mantel, rückte darunter Jackett, Weste und Krawatte zurecht. Er zog eine goldene Taschenuhr hervor, acht Uhr fünfzehn. Er nahm die Mütze ab, strich sich die Haare glatt. Sie waren zu lang, strähnig, wirkten ungepflegt. Er war wohl aus Zeitmangel schon länger nicht mehr beim Frisör gewesen, dachte Jarek.
Schöppke blickte Jarek ernst an, nickte. „Keine Ahnung, warum Sie hier sind, was gleich passiert“, sagte er leise zu ihm. „Aber ich wette mit Ihnen, dass Sie ab morgen keinen Häftlingsanzug mehr tragen.“ Wieder nickte er, zog die Augenbrauen hoch, beugte sich näher zu Jarek. „Warum Doktor von Kessel einen Übersetzer benötigt, das erschließt sich mir momentan noch nicht. Aber, er ist überaus intelligent. Er denkt stets voraus, handelt immer sehr besonnen.“ Seine Stimme wurde noch leiser. „Was immer er mit Ihnen vorhat, es wird nicht zu Ihrem Schaden sein.“ Er richtete sich wieder auf, drückte sein Kreuz durch. „Ich arbeite seit zwanzig Jahren für ihn, er hat mich nie enttäuscht.“ Warum machte Schöppke Werbung für von Kessel? Jarek hatte das Gefühl, Schöppke wusste mehr, als er vorgab.
Der Paternoster schlich unendlich langsam durch die Stockwerke nach oben. Jarek sah lange, düstere, leere Gänge. Die Verwaltung war in der Nachtschicht nicht besetzt.
Schließlich kamen sie oben an, Schöppke und Jarek stiegen aus. Der Paternoster stieg auf, drehte weiter seine langsamen Runden.
Das Büro von Doktor von Kessel lag am Ende des Ganges. Wortlos gingen sie nebeneinander den Gang entlang. Die Angst war gewichen, aber Jarek war angespannt. Der gebohnerte Linoleumboden quietschte unangenehm laut unter Schöppkes Sohlen.
Vor der Bürotür saß ebenfalls ein bewaffneter Wehrmachtssoldat. Auch er kannte Schöppke. Die beiden nickten sich kurz zu. Der Soldat stand auf, klopfte an die große, hölzerne Tür, steckte den Kopf hinein. „Herr Doktor, Schöppke und der Pole sind jetzt da.“ Der Soldat drehte sich um: „Meine Herren, Sie können eintreten.“
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Der Raum war imposant, etwa sechzig Quadratmeter groß, die Decken mindestens fünf Meter hoch. Parkettfußboden, dicke Teppiche. Vier große Art-Deco-Leuchter hingen von der Decke herab, tauchten den Raum in ein angenehmes, warmes Licht. Die Fenster wurden durch lange, dunkelrote Samtvorhänge verdeckt, vor denen ein goldgelbes Sofa stand.
An einer Wand ein Kamin, in dem ein Feuer brannte und vor dem ein flacher Tisch nebst Sesseln stand. Etwas entfernt davon ein zweiter, größerer Besprechungstisch. Auf dem Tisch eine Cognacflasche, mehrere Gläser. In einer Ecke stand ein Flügel, schwarz, riesig. An den Wänden geschmackvolle, moderne Bilder. Jarek glaubte, darunter einen Chagall zu erkennen. Jarek bemerkte weder Hakenkreuzfahne noch Hitler-Porträt. Ein großer Nationalsozialist schien von Kessel nicht zu sein.
Dem Eingang gegenüber stand ein wuchtiger, dunkelbrauner Schreibtisch, auf dem zwei grüne Schreibtischlampen für ausreichend Licht sorgten. Dahinter saß ein Mann, Doktor Hermann von Kessel, der Leiter des Stahlwerks. Von Kessel erhob sich, kam langsam auf sie zu. „Guten Abend, meine Herren, nehmen Sie Platz.“ Er zeigte mit der Hand auf den größeren Besprechungstisch. Er kam näher, reichte jedoch weder Schöppke noch Jarek die Hand zur Begrüßung. Schöppke hatte scheinbar nicht damit gerechnet, an dem Gespräch teilzunehmen. Er sah von Kessel fragend an, dieser erwiderte den Blick und antwortete: „Ja, ja, auch Sie, Schöppke.“
Der Leiter des Stahlwerks war eine beeindruckende Erscheinung. Mitte fünfzig, knapp einsneunzig groß, schlank, tadelloser, dunkelblauer Maßanzug. Er hatte ein längliches, markantes Gesicht mit einem Grübchen am Kinn. Dazu eine hohe Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Jarek bemerkte eine leichte Sonnenbräune, für Mitte November ungewöhnlich.
„Kann ich ihnen etwas zu trinken anbieten, einen guten, französischen Cognac vielleicht?“ Er sah erst Schöppke an, der verneinte, dann Jarek. „Ich habe seit zwei Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken“, schüttelte Jarek den Kopf. „Sie wollen doch nicht, dass ich hier zusammenbreche, oder?“ Von Kessel lächelte. „Ich kann Ihnen auch gern ein Glas Soda anbieten, kein Problem.“
Sie saßen zusammen am Tisch, es herrschte kurzzeitig ein unangenehmes Schweigen. Von Kessel musterte Jarek ausgiebig. „Wie geht es Ihnen, Herr Kruppa?“, fragte er.
Jarek antwortete, ohne lange zu überlegen: „Ich bin seit zwei Jahren Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter. Was denken Sie, wie es mir geht?“ Er wollte von Kessel nicht provozieren, fand die Frage jedoch unpassend.
Von Kessel