Das Stahlwerk. Christian Piskulla

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Название Das Stahlwerk
Автор произведения Christian Piskulla
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944755236



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gewusst, dass seine Freunde in Polen so gute Beziehungen hatten. Aber rückblickend wurde ihm jetzt einiges klar. Sein Einsatz als Übersetzer und Dolmetscher war kein Zufall gewesen. Von Kessel hatte wohl von Anfang an seine schützende Hand über ihn gehalten.

      „Richtig. Der beste Kriminalkommissar Polens. Womit wir beim Thema sind, Herr Kruppa.“ Von Kessel lehnte sich zurück, zog das Zigarettenetui zu sich, zündete sich eine Zigarette an. „In den vergangenen sechs Monaten hat es zehn Morde in meinem Stahlwerk gegeben.“ Er nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch durch die Nase wieder aus. „Zuerst wurde ein Waschkauenwärter erwürgt. Vier Wochen später wurde einem Schlosser in der Umkleide das Genick gebrochen.“ Von Kessel blickte ins Leere, überlegte kurz. „Weitere vier Wochen später der nächste Mord. Einem Schweißer wurde mit einem Schraubenschlüssel der Schädel eingeschlagen. Der Mann saß gerade in einem Pausenraum und trank Kaffee.“

      Von Kessel sah Jarek an. „Bis dahin konnten wir die Sache noch gut unter der Decke halten. Aber alle drei Männer kamen aus Duisburg. Und so etwas spricht sich dann doch herum in der Stadt.“ Er verzog sein Gesicht, so, als ob ihm die Tatsache, dass über sein Stahlwerk schlecht geredet wurde, Schmerzen bereitete.

      „Dann wurde es blutig. Keine zwei Wochen nach dem Schweißer erwischte es einen Elektriker, morgens um halb sechs. Der Täter stach ihm erst in den Rücken, schnitt ihm dann die Kehle durch. Das Ganze kurz vor dem Schichtwechsel, direkt vor der Werkstatt.“ Von Kessel schüttelte den Kopf. „Seine Kollegen fanden den Toten. Die Sache machte die Runde wie ein Lauffeuer.“ Er sah Schöppke an. „Nummer fünf war einer von Schöppkes Männern.“

      Jarek blickte zu Schöppke, der sich zwischenzeitlich einen Cognac eingeschenkt hatte. „Heinz Wittek war schon in Rente, er war über siebzig. Aber da alle einsatzfähigen Männer an die Front geschickt werden, müssen wir beim Werkschutz auf Rentner und Kriegsversehrte zurückgreifen.“ Schöppke drehte das Cognacglas zwischen den Fingern, blickte in das Glas: „Wittek erwischte es hinten am Wasserturm, ebenfalls in der Nachtschicht. Der Mörder rammte ihm eine Brechstange in den Bauch. So ließ er ihn liegen. Hat wohl ein bisschen gedauert, bis er dann tot war.“ Er hob das Glas, so als ob er auf den Verstorbenen anstoßen wollte, trank einen Schluck.

      Von Kessel hatte zwischenzeitlich eine Karaffe Wasser von seinem Schreibtisch geholt, schenkte Jarek und sich selbst ein Glas ein. Er sprach im Stehen weiter. „Nummer sechs wurde eine Woche nach Wittek ermordet. Waldemar Botzki, ein Zwangsarbeiter, Pole, genau wie Sie. Er arbeitete in der Küche von Kantine vier. Der Mörder schlug ihm mit einem Hammer den Schädel ein. Genauer gesagt, er schlug ihm den Schädel zu Brei. Er muss wohl so zehnmal zugeschlagen haben. Und das am helllichten Tage, so um halb fünf.“

      Schöppke übernahm wieder. „Spätestens jetzt war klar, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Aber die Duisburger Polizei hat das gleiche Problem wie wir. Alle guten Männer wurden eingezogen, die arbeiten quasi mit Notbesetzung. Der Kommissar von denen hat dann auch die tolle Idee gehabt, es könnte sich um einen englischen Spion handeln, der hier Sabotage betreibt. So ein Schwachsinn!“ Schöppke nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Ein Saboteur würde wohl keine Hilfsarbeiter oder Kriegsgefangenen ermorden, sondern eher Führungskräfte. Außerdem wäre es viel effektiver, Maschinen oder die Energieversorgung zu stören, ein Feuer zu legen.“

      Von Kessel, der sich ein wenig vom Tisch entfernt hatte und den vermeintlichen Chagall betrachtete, sprach in Richtung des Bildes. „Dennoch hat die Saboteur-Theorie ihre Anhänger gefunden. Tatsächlich rumort es in der Belegschaft, in entlegenen Werksteilen haben die Arbeiter nachts Angst. Sogar die Werkschutz-Männer gehen nachts nur noch zu zweit auf Streife. Und seit den Morden stehen unten und vor meinem Büro rund um die Uhr bewaffnete Soldaten. Das gab es früher nicht.“

      Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich wieder an seinen Platz. „Nummer sieben war eine ganz unangenehme Sache. Eine Putzfrau, Henrietta Ackermann, wurde gegen elf Uhr abends in einer Toilette rücklings mit einem Strick erwürgt. Der Täter verging sich anschließend an der Toten. Man fand sie halb bekleidet über ein Waschbecken gelegt.“

      Jarek war voll konzentriert. Er nahm alle Details auf, hatte sich mit Fragen bisher zurückgehalten. „Lagen die Tatorte beieinander oder über das Stahlwerk verteilt?“ Schöppke antwortete: „Betrachtet man alle zehn Tatorte, dann lässt sich keine örtliche Häufung feststellen. Der Täter schlägt überall zu. Was auffällt, er mordet überwiegend nachts. Wir denken, es ist ein Arbeiter des Stahlwerks, der hier sein Unwesen treibt.“

      Jarek dachte nach. Was ihm auffiel, war, dass der Täter brutaler wurde. Die ersten Opfer wurden noch ohne Blutvergießen getötet. Die letzten hingegen verstümmelt, sexuell missbraucht. Nein, das war kein Saboteur, das war ein Psychopath.

      Von Kessel übernahm wieder. „Nummer acht und neun wurden kurz nacheinander getötet. Der Maschinenführer Harald Wessler wurde von hinten erstochen, im Führerstand seiner Anlage. Sein Kollege Eugen Bangemann, der zwei Stunden zu früh zur Nachtschicht kam, überraschte den Mörder wohl. Es kam zu einem Handgemenge, Bangemann hatte Schnittwunden an beiden Händen. Dann erhielt mehrere Stiche in die Brust und in den Hals.“ Er nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas, blickte zu Jarek. „Wir brauchten zwei Tage, um den Führerstand vom Blut zu reinigen. Keiner wollte da arbeiten, solange man die Spuren an den Wänden sah und das Blut riechen konnte. Verständlich.“

      Von Kessel machte eine kurze Pause, fuhr fort. „Nummer zehn ist gerade einmal zwei Tage her. Wir konnten das bisher geheim halten. Es erwischte wieder einen Waschkauenwärter, einen Kriegskrüppel namens Gustav Glaser. Hat mit erst siebzehn Jahren im ersten Weltkrieg ein Bein verloren, das arme Schwein. Ist morgens gegen fünf von hinten niedergeschlagen worden. Der Täter hat ihm dann den Schädel eingetreten.“ Von Kessel sah Jarek an. „Da Glaser keine Familie hatte und sogar auf dem Werksgelände wohnte, haben wir die Leiche erstmal verschwinden lassen. Wir haben den Mord auch nicht der Polizei gemeldet.“ Von Kessel machte eine Pause, sammelte sich.

      „Zehn ermordete Mitarbeiter in knapp sechs Monaten, dazu noch zwei Tote durch Arbeitsunfälle. Ein Kranführer fällt vom Kran und ein Mann stürzt in ein Becken mit glühender Schlacke. Was braucht man mehr als Werksleiter?“ Von Kessel rieb sich mit den Händen über das Gesicht, als würde er sich waschen. Er lehnte sich zurück, zündete sich erneut eine Zigarette an, stellte sein goldenes Feuerzeug hochkant vor sich auf den Tisch. „So was bleibt natürlich auch dem Rüstungsministerium nicht verborgen. Die Produktion sollte eigentlich steigen, was im Krieg sowieso schon schwierig ist. Bei uns sinkt sie durch die Vorfälle.“ Er sah Jarek eindringlich an. „Schaffen wir es nicht, den Mörder zu stoppen, dann werden hier bald Köpfe rollen. Meiner zuerst.“ Er stieß das Feuerzeug um, welches mit einem lauten Geräusch auf dem Tisch zum Liegen kam.

      Von Kessel stand wieder auf, ging zum Kamin, legte zwei Holzscheite nach. „Und hier kommen Sie ins Spiel, Kruppa. Trauen Sie sich zu, in der Sache die Ermittlungen zu übernehmen? Ein Serienmörder, das ist doch ganz nach Ihrem Geschmack, oder?“

      Von Kessel kam langsam zurück zum Tisch, blies genüsslich eine dicke Rauchwolke in Richtung Decke. Jarek schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Doktor von Kessel, da muss ich leider passen. Aus einem Arbeitslager heraus, in Häftlingsuniform, kann ich nicht ermitteln. Und überhaupt, so eine Sache kann Monate dauern, Jahre.“

      Von Kessel legte seine Zigarette in das Etui, ohne sie auszumachen. Rauch stieg kerzengerade empor. Er beugte sich nach vorn, sah Jarek an. „Sie bekommen natürlich für die Zeit der Ermittlungen einen Sonderstatus, Herr Kruppa. Dazu ein eigenes Büro, in dem Sie auch schlafen können, gute Verpflegung, Zivilkleidung. Und sollten Ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein, dann garantiere ich Ihnen, werde ich mich für Sie einsetzen. Sollte keine Begnadigung möglich sein, dann werde ich Ihnen im Stahlwerk eine Stellung schaffen, die sicherstellt, dass Sie bis Kriegsende überleben.“ Er nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette, drückte die Kippe aus.

      „Außerdem ist es in Ihrem eigenen Interesse, den Mörder zu finden, Herr Kruppa.“ Von Kessel lehnte sich zurück, öffnete sein Jackett, sah zu Schöppke herüber. „Ich bin kein Mitglied der NSDAP, Schöppke übrigens auch nicht. Im Rüstungsministerium stößt das vielen übel auf. Man hätte hier lieber ein Parteimitglied