REVOLUTION AUTOMATON. Hendrik Kühn

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Название REVOLUTION AUTOMATON
Автор произведения Hendrik Kühn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958354777



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Haut meiner tauben Finger fahren. Um meinen wackeligen Torso vor dem Einknicken zu bewahren und mich davor, ungebremst auf den rauen Boden zu rauschen, beiße ich mir auf die Zähne und drücke die Arme durch, wie damals als Halbwüchsiger am Barren im Sportunterricht, nur mit Handschellen. Wieder mustert jemand meine Übung, aber dieses Mal ist es nicht mein wohlgesinnter Lehrer, sondern der tobsüchtige Vernehmer. Er spricht mit schwelendem Zorn, ich kann seine geballten Fäuste bildlich vor mir sehen, dann lacht er verzweifelt und bald ist er verstört von der Wucht der Sinnlosigkeit, die auch mich paralysiert. Er schreit es mir zu und ich zucke zusammen. Seine Worte überschlagen sich, tosen unverständlich in meinem Kopf, den ich nur hilflos schütteln kann.

      Nein, nein, ich habe das nicht getan!, ruft meine innere Stimme. Doch die ist tonlos, ohne Ausdruck, nur eine Selbstbesänftigung, denn meine äußere Stimme schweigt. Ich versuche, mich zu erinnern. Vergeblich. Da ist nichts. Blackout, selbst profane Erinnerungen scheinen ausgelöscht zu sein. Ich sei verantwortlich für das Attentat, brüllt er. Das Schlimmste der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Bundeskanzler sei tot.

      Ist das wirklich wahr? Ich soll das gewesen sein? Unmöglich! Es macht mich betroffen, wenn ich daran denke, dass Dr. Engel Opfer eines feigen Anschlags geworden ist. Einfach so, einfach tot. Ich wollte dem Vernehmer bedingungslos offenbaren, was in mir vor sich geht; meine Gedanken nackt auf dem Tisch ausbreiten und meine Erinnerungen ausbuchstabieren bis zum letzten Zeichen, damit dieser verbohrte Zweifler es versteht und mich nach Hause gehen lässt. Ich will schreien, dass ich unschuldig bin, aber ich kann nicht. Weder finde ich einen einzigen Gedanken dazu in meinem Kopf, noch kann ich mich sprachlich oder mimisch verständlich machen. Meine Zunge ist taub und ein beißendes Brennen auf meinem Gesicht lähmt meinen Ausdruck wie das Gift einiger Jäger das Nervensystem ihrer Beute. Ich wollte immer Gebärdensprache lernen, wusste aber nicht warum. Jetzt sitze ich hier, hilflos und allein mit meinem Glauben, den ich nicht teilen kann, gefangen in mir, als ohnmächtige Beute vor dem lauernden Jäger und erwarte stumm mein Schicksal. Für ihn muss es sich ganz anders darstellen, wenn er beobachtet, wie sich mein unfreiwillig teilnahmsloser Blick wirr in alle Richtungen wendet und nur zögerlich seiner Stimme folgt. Er muss denken, dass ich ein Lügner bin. Zweifellos ein Mörder.

      »Ein politischer Anschlag ohne Beispiel!«, faucht er durch seine Zähne. Er erwartet mein Geständnis, obwohl er es nicht braucht, denn die Beweise seien erdrückend. Ich spüre ihn, diesen Druck, er schiebt und staucht mich widerstandslos zusammen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch mein Brustkorb nachgibt. Der Vernehmer haut unvermittelt auf den Tisch und der schmetternde Knall durchfährt meine Glieder. Wie lange halte ich aus, bis ich gestehe, was ich nicht getan habe? Werden sie mich foltern? Meine losen Gedanken driften schmerzverzerrt ab und folgen dem Licht über mir. Die Leuchtstoffröhren erkenne ich an ihrer Form und ihrem pastoralen Lichtwurf; ein kokosweißes Leuchten, das vermeintlich langsam auf mich herabsinkt wie Staub. Dann befällt sie ein Flackern. Ich starre sie mit meinen Milchglasaugen an und glaube zu spüren, wie die Luft unter meine Netzhäute zieht.

      »Jetzt mach endlich deine Klappe auf, herrje!«

      Mein Kopf sinkt nach vorn und zeigt in die Richtung des Vernehmers. Ich schlucke, doch er will nicht hinunter, dieser massige Kloß, der meinen Hals förmlich auseinanderdrückt. Mit meinen Beinen schiebe ich meinen Körper an der Rückenlehne hoch und helfe mit einem Stemmen meiner Arme nach, bis ich eine Position erreicht habe, die mich besser atmen lässt. Ich räuspere mich und schlucke meine Kehle trocken. Komm schon, sag ihm irgendetwas, damit er nicht denkt, dass du unkooperativ bist. Mach schon!

      »Er ist … tot?«, stöhne ich kaum über ein Flüstern hinaus.

      »Willst du mich verarschen, Wächter?«, schreit er beleidigt. »Ich dachte, das hätten wir gerade geklärt! Du wirst im Knast verrotten, da kannst du dich dann dumm stellen! Aber eines sage ich dir: Wenn du eine Matratze in deiner Zelle haben willst, dann erzählst du mir jetzt besser was, sonst verbringst du deine Nächte auf kaltem Stein. Verstehst du mich?«

      Er duzt mich, als würden wir uns schon ewig kennen, doch weder kenne ich seinen Namen noch traue ich mich, ihn danach zu fragen.

      »Verstehst du mich?« Ich weiß nicht, wie oft er diese Frage schon wiederholt hat. Seine herrische, dunkle Stimme dringt dumpf in meinen Kopf, aber nein, ich verstehe ihn nicht. Ich höre ihn, aber ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nicht einmal, ob all das wahr ist oder ob ich nur träume. Es fühlt sich an wie ein Traum. Wie ein absurder Albtraum.

      Ich schrecke auf, als der Vernehmer plötzlich über den Tisch springt, meinen Hals packt und mir ins Gesicht schlägt. Letzteres ist eher eine Ahnung, denn ich kann nicht mehr Schmerz fühlen, als ich ohnehin schon fühle. Ich habe das Maximum erreicht und wandle in eine Taubheit über, die einen Bewusstseinsverlust verkündet. Dann wird es dunkel.

      Es müssen die Lampen sein. Ich spüre, dass er von mir ablässt und höre seine Schritte durch den Raum wandern, wie ein Raubtier. Seine Schläge waren echt und sie haben Wirkung gezeigt, eine befremdliche, erschreckende, die mich panisch macht. Mein Kopf fühlt sich weich und geleeartig an, als hätte der Schädelknochen seine ganze Härte verloren, als hätte er unter der Gewalt nachgegeben und den Abstand zwischen der Haut und Hirn aufgehoben. Ich habe kein Vertrauen mehr in meinen Körper und bin endgültig in meine Gedankenwelt gewandert. Ich habe Angst, dass die Gewalt nicht enden wird, bis ich gestehe, was ich nicht getan habe. Ist es möglich, dass man jemanden ermordet und sich nicht mehr daran erinnert? Unwahrscheinlich. Ich ahne, dass ich gegen meinen Willen herhalten muss. Das ist ein Komplott gegen mich, in dem ich der Sündenbock für ein politisches Kalkül bin. Ich habe gar kein Motiv, den Bundeskanzler zu töten. Genau, das ist es! Ich habe kein Motiv und das muss ich dem Vernehmer klarmachen. Er muss wissen, dass ich zwar immer geglaubt habe, dass ich politischer sein sollte und dass ich mehr Gebrauch von meinen Rechten als Bürger machen wollte, aber in Wirklichkeit nur ein desinteressierter Niemand bin. Ich bin der falsche Mann, der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß!

      Das Licht geht wieder an und ich sehe schemenhaft die kargen, hellgrauen Wände und den weißen Schreibtisch vor mir. Es ist kein wirkliches Sehen, wie ich es bisher getan habe, sondern ein Identifizieren von Lichtquelle und Richtung. Ich presse die Lider zusammen, reibe meine Augen und reiße sie dann auf. Die Ränder schärfen sich und langsam formen sich die Schemen. Aus einem schwarzen Fleck einige Meter von mir entfernt wird der Vernehmer und ich meine zu erkennen, dass er mir seinen Rücken zugewandt hat. Meine Nase läuft, es fließen Tropfen von meiner Oberlippe zum Kinn hinunter und fallen hinab. Ich blicke nach unten. Aus einem dunklen Ton bildet sich ein Rot, das in schmalen Bahnen über meine Hände fließt. Mit dem Oberarm wische ich mir über mein Gesicht. Ein Türschloss springt auf und ich höre, wie jemand den Raum betritt. Schritte, die sogleich haltmachen. Neben dem Vernehmer erscheint jetzt eine andere Gestalt. Beide tauschen sich kurz aus und dann kommt sie auf mich zu, groß und schlank.

      »Wasser«, sagt eine ruhige, kehlige Männerstimme und die Gestalt reicht mir ein Glas. Ich soll es trinken, fordert sie mich auf und ich bedanke mich höflich mit einem gequälten Wort. Mithilfe meiner schmierigen Hände setze ich das Glas an und das kalte Wasser rinnt ölig durch meinen Hals. Es tut gut, wie es sich in meiner Körpermitte sammelt und mich in ein behagliches Gleichgewicht balanciert. Ich kann auch wieder schlucken und der Luftstrom zieht ungehindert durch meinen Hals und bringt mir meinen Geruchssinn zurück. Ich atme tief ein und aus und ich rieche als erstes Schweiß. Es ist das beste Wasser, was ich je getrunken habe, und ich sage es der Gestalt. Keine Antwort. Man gibt mir einen Moment Ruhe, denke ich, und ich höre sie von der anderen Seite des Raumes scharf flüstern. Rasch platziere ich das Glas zwischen meine Beine, tippe mit Zeige- und Mittelfinger in das Wasser, das sich sofort dunkel färbt, und reibe es mir in die geschwollenen Augen. Tropfen laufen mir über meine brennenden Wangen, therapieren leidlich einen schweren Fall und löschen den Schmerz für den Bruchteil einer Sekunde, der sich mehr auf der rechten Seite lokalisiert. Es ist kein vernünftiges Sehen, aber ich spüre die stete Besserung; ein Formen, Schärfen und Einfärben meiner Umwelt. Auch die beiden Männer werden nun als Figuren sichtbar. Ihr Flüstergespräch, eben noch ein Säuseln, steigert sich nun mehr und mehr in ein wechselseitiges Zischen. »Ich weiß, was ich mache!«, sagt einer der beiden, der Vernehmer, vermute ich. Er kommt zu mir, nimmt mir das Wasserglas aus dem Schoß, setzt sich