Der Mond der Dichter. Norbert Horn

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Название Der Mond der Dichter
Автор произведения Norbert Horn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783864556869



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Bärenanwalt der Ostschweizer Kantone,

      Herr Jäggi, trat ein und schüttelte Hände,

      nahm Platz an des Tisches oberem Ende

      und sagte dann ernst in brummendem Tone:

      Meine Damen und Herren, der Bär ist los!

      Jetzt heißt es, kühlen Kopf zu bewahren.

      Damit sind wir Schweizer stets gut gefahren.

      Wir hören den Bericht von Herrn Hürlimoos.

      Der sprach: Der Bär ward am Corvatsch gesehn.

      Tags drauf überstieg er die Bonderchrinde,

      riss dort eine Gams und etwas Gesinde

      und scheint jetzt zum Monte Rosa zu gehn.

      Herr Flückiger rief: So ein Mörder und Würger!

      Reißt Gamsen und wertvolle Arbeitskräfte,

      verdirbt uns Hoteliers die Geschäfte;

      am Ende frisst er noch Schweizer Bürger!

      Sprach Skilehrer Badrutt aus Samnaun:

      Der Bär ist ein wertvolles Stück Natur.

      Man sollte ihn hegen auf freier Flur,

      doch brauchen wir jetzt einen Bärenzaun!

      Am besten im Nationalparkgelände.

      Der Bär kann die Hirsche dort dezimieren,

      bevor die unseren Wald ruinieren.

      Zum Beifall regten sich viele Hände.

      Herr Frutiger sagte: Es kann uns passieren,

      der Bär fängt am Zaun zu klettern an

      und bricht uns aus, sobald er kann.

      Wir müssen den Zaun elektrifizieren.

      Eine Dame meinte: Der Zaun hat viel Reiz.

      Der Bär tat vom Ausland hierher immigrieren;

      man sieht’s an den schlechten Essmanieren.

      Wir brauchen den Zaun um die ganze Schweiz!

      Plötzlich hat Jäggis Handy geschellt.

      Der lauschte und sagte: Ich hab’ grad’ erfahren:

      am Julier wurde der Bär angefahren

      und hat sich der Polizei gestellt.

      Die unmittelbare Gefahr ist vorbei!

      Wir müssen die Sache noch ausdiskutieren,

      wo wir den Bär und den Zaun installieren.

      Die nächste Sitzung ist Dienstag halb drei!

       (HI)

       Herbstnüsse

      Herbst ist, mit lauter Haselnüssen.

      Das Eichhörnchen hat sie verstecken müssen.

      Die Katze hat es totgebissen.

      Kein Tier wird von den Nüssen wissen.

      Still liegt es unterm Pflaumenbaum.

      Die Katze interessiert das kaum.

      Am Morgen drauf ist es verschwunden.

      Die Raben hatten es gefunden.

      Das Eichhörnchen ist bald vergessen.

      Kein Tier wird seine Nüsse fressen.

      Die liegen unter Moos – und Eis.

      Vielleicht wächst draus ein Haselreis.

       Krischna

      Frühmorgens, als es tagte,

      ging Krischna in den Wald.

      Er traf dort die Schlange; die sagte:

      Der einfache Weg endet bald.

      Lianen verdecken den Pfad.

      Du musst dich durch’s Dickicht winden.

      Und Krischna folgte dem Rat,

      doch konnte den Weg nicht mehr finden.

      Müde fiel er in Schlaf.

      Auf ihm ruhte ein Falter.

      Da zielte auf Krischna und traf

      ein Jäger, der hieß »Hohes Alter«.

       (HI)

       Stiller Amur-Tiger

      Das hat es im Zoo noch nie gegeben:

      Amur-Tiger und Tierpflegerin

      zur gleichen Zeit im selben Raum.

      Lautloses Spiel um Tod und Leben,

      geschmeidig, mit stummer Gewalt. Der Beginn

      war schon das Ende. Ein böser Traum.

      Nach dem Angriff sitzt er still

      bei der toten Pflegerin

      und der winzigen roten Lache.

      Weiß nicht, was er weiter will.

      Lange Minuten rinnen dahin.

      Beute oder Totenwache?

      Die Tür ins Außengehege verschlossen.

      Saß dort oft an Wintertagen

      still im Wassergraben kalt,

      hat die Kälte des Amur genossen.

      Spürt jetzt kaum den Schuss einschlagen,

      der den ganzen Zoo durchhallt.

       (HI)

       Singvögel-Zukunft

      I.

      Am Morgen meines Lebens,

      nach durchfeierter Nacht,

      sangen die Vögel. Vergebens;

      bin spät erst aufgewacht.

      Am Mittag meines Lebens

      machte ich früh mich auf.

      Die Vögel sangen. Vergebens;

      ich war halt nicht so drauf.

      Die sind immer wieder am Singen.

      Heut’ achte ich auf den Klang

      und suche herauszubringen

      den Sinn von ihrem Sang.

      Sie kennen nur alte Lieder,

      ein kunstvolles Einerlei.

      Die singen sie immer wieder. –

      Sie singen die Zukunft herbei!

      II.

      Sie singen im Feld unverdrossen,

      sobald der Gefechtslärm schweigt,

      nach Springflut, die abgeflossen.

      Wird Kernschmelze angezeigt,

      dann singen sie: Frühling werde!

      Sie wissen ja sonst nicht viel.

      Dann fallen sie tot zur Erde,

      verendet ihr