Название | Praxis und Methoden der Heimerziehung |
---|---|
Автор произведения | Katja Nowacki |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783784133041 |
Aber es waren nicht nur die schlimmen Zustände in den Anstalten, die zur Sorge Anlass gaben, sondern auch solche ökonomischen Gründe wurden angeführt, die uns an die gegenwärtige Diskussion über die hohen Kosten der Heimerziehung erinnern. Der Aufenthalt in einem Waisenhaus war beispielsweise im Jahre 1862 in Berlin dreimal so teuer wie in der Familienpflege.
Die „hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“ schrieb im Jahre 1779 eine Preisaufgabe aus, in welcher geklärt werden sollte, ob die Erziehung der Waisenkinder vorteilhafter in Familienpflege oder in Waisenhäusern durchzuführen sei.
„Die Resultate, welche aus den Untersuchungen über jene Preisfrage hervorgehen, sind übereinstimmend ungünstig für die Waisenhäuser ausgefallen. Durch sehr ins Einzelne gehende Berechnungen ist dargethan worden, dass es für den Staat oder die Anstalten selbst weit vorteilhafter sey, die Kinder in auswärtige Verpflegung zu geben“ (Conversations-Lexikon 1819, S. 422).
Es wurde gleichzeitig gefordert, die Pflegeeltern „gehörig auszuwählen“ und diese „immer unter eine genaue Aufsicht“ zu stellen. In mehreren Orten wurden „die Waisenhäuser abgeschafft, und dagegen die Waisenvertheilung eingeführt. Der offenbare Erfolg davon ist eine bedeutende Ersparnis der Ausgaben, und eine sehr verminderte Mortalität unter den Kindern gewesen“ (Conversations-Lexikon 1819, S. 423).
Dennoch konnte dieser „Waisenhausstreit“, in dem es neben pädagogischen auch immer um finanzielle Gesichtspunkte ging, keineswegs eindeutig gelöst werden.
„Gehen wir nun von der Geschichte der Waisenerziehung zu der Waisenfrage über, so müssen wir zu Voraus bemerken, dass dieselbe seit hundert Jahren wie keine andere ventiliert wurde, ohne dass von den aufgestellten Prinzipien eines das andere verdrängt und entschieden die Oberhand gewonnen hätte. Der Grund liegt hauptsächlich darin, dass einerseits die Waisenfrage zugleich eine Geldfrage ist, und andererseits die Erziehungsfrage selbst, statt klarer und eine den Erziehern bewußte, nur immer noch mehr verwirrt wird“ (Real-Encyclopädie 1874, S. 765).
Doch obwohl die „Segnungen des Familienlebens“ in den Waisenhäusern ohnehin als „verloren“ galten, eine „individuelle Behandlung“ als „erschwert, wenn nicht unmöglich“ angesehen wurde, konnte der Streit nicht einfach zugunsten der Familienpflege entschieden werden. Auch die damals vorgetragenen Gründe lassen Parallelen zur heutigen Situation erkennen, denn man hätte sich wohl für die Familienpflege entschieden, „wenn nur die entsprechende Anzahl tauglicher Familien gefunden würde, denen die Kinder anvertraut werden könnten“ (Real-Encyclopädie 1874, S. 766). Nach der im Jahre 1840 vorgetragenen Auffassung des Vorstehers des Waisenhauses in Hamburg könnten jedoch „gut organisierte Waisenhäuser die besten Erziehungsanstalten für Waisen“ sein, wenn unter anderem die folgenden Voraussetzungen erfüllt wären: „Unterordnung der Oeconomie und des Rechnungswesens unter den höheren Erziehungszweck, statt jene als erste und letzte Rücksicht zu betrachten und sich dadurch leiten zu lassen“ und außerdem, „dass die Anstalt mit ihren Zöglingen auch nach der Entlassung wenigstens bis zur Mündigkeit in ununterbrochener Beziehung stehen müsse. Endlich, dass Waisenhäuser, da sie mehr kosten, auch mehr leisten und sich unablässig vervollkommnen müssen“ (Pädagogische Real-Encyclopädie 1852, S. 907).
Diese schon im Jahre 1840 erhobene Forderung ist für die stationäre Erziehungshilfe gültig und wird in neuen Forschungs- und Anwendungsbereichen, wie z. B. bei Care Leaver Projekten (s. z. B. Strahl/Thomas 2013), explizit aufgegriffen.
Erst mit dem Beginn der Aufklärung und mit allgemeinen Veränderungen in der Betrachtung des Wertes der Kindheit und einer kindorientierten Erziehung hielten in der Beeinflussung durch Rousseau und Pestalozzi pädagogische Ideen in größerem Umfang in die damaligen Institutionen für elternlose Kinder Einzug. Pestalozzi wurde im Jahre 1798 in Stanz die Gründung eines Armen-Erziehungshauses übertragen. Erstmals waren in einer solchen Anstalt nicht mehr Strenge, Zucht und Ordnung die herausgehobenen Attribute, sondern es überwog ein anderes Element, nämlich das der Liebe zu den Kindern.
„Der Waisenvater musste seinen Kindern alles sein: Vater, Diener, Aufseher, Krankenwärter und Lehrer. Bei der Kärglichkeit der Hilfsmittel musste sich die Erziehung der Kinder auf das Wichtigste beschränken; die Erziehungsmethode war diejenige der Liebe“ (Rattner 1968, S. 100).
Pestalozzi teilte gemeinsam mit seiner Familie sein Leben mit den Waisenkindern. Der „Wohnstubencharakter“ seines Erziehungsideals ließen ihn zum Begründer des Familienprinzips in der Heimerziehung werden (Sauer 1979, S. 36).
„Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, dass die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müssen nachgeahmt werden und dass die letztere nur durch die Nachahmung der erstern für das Menschengeschlecht einen Wert hat“ (Pestalozzi o. J., S. 93).
Die immense Bedeutung einer Pädagogik durch Beziehungsarbeit wird durch folgende Aussage deutlich:
„Vor allem wollte und musste ich also das Zutrauen der Kinder und ihre Anhänglichkeit zu gewinnen versuchen. Gelang mir dieses, so erwartete ich zuversichtlich alles übrige von selbst“ (Pestalozzi, o. J., S. 94).
Die von Pestalozzi ausgehenden Impulse sollten die Waisenpflege nachhaltig beeinflussen. Denn es wurde „immer entschiedener die dabei zu lösende Aufgabe als eine pädagogische“ (Pädagogisches Handbuch 1885, S. 1209) aufgefasst. Die sich anschließende „Rettungshausbewegung“ verfolgte zwei Zielsetzungen. Einmal sollte das Seelenheil der verwaisten Kinder durch religiöse Bildung und Hinführung zu Gott gerettet werden. Andererseits ging es darum, elternlose Kinder für das weltliche Leben bzw. das Überleben zu retten und sie zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft heranzubilden. Einer der bedeutendsten Vertreter der Rettungshausbewegung war Johann Hinrich Wichern, welcher im Jahre 1833 das „Rauhe Haus“ in Hamburg gründete. Mit der Errichtung dieses Waisenhauses reagierte der Theologe Wichern auf die unvorstellbare Verarmung großer Bevölkerungsteile und auf den sozialen Zerfall der Gesellschaft. Dem einzelnen jungen Menschen, welcher zu ihm geführt wurde, begegnet Wichern – von seinem christlichen Lebensprinzip geleitet – mit Liebe und Vergebung. Eine kleine Abhandlung in der „Schulzeitung“ von 1847 schildert das Rauhe Haus folgendermaßen: „Das Ganze ist ebensowenig eine Waisen-, als eine Schul-, Zucht- oder Armenanstalt, sondern ist nach und nach zu einer kleinen Colonie herangewachsen, in welcher die rettende Liebe sehr mannigfaltige Zwecke pflegt und nach außenhin verwirklicht. Diese Anstalten beherbergen gegenwärtig in zwölf kleineren und größeren Gebäuden zwischen 140 bis 150 Hausgenossen verschiedener Art. … Fragen wir nach den Mitteln, deren sich die rettende Liebe des Rauhen Hauses bedient, um die Verirrten mit neuen Lebenskräften zu durchdringen, so stellen sich namentlich folgende heraus: Zunächst ist es eine selbstbestimmte Ordnung, woran man die Aufgenommenen gewöhnt, um sie aus dem ungeordneten, wilden und wüsten Treiben herauszureißen, in welchem sie die Ihrigen leben sahen und in welchem sie mitlebten. Das zweite Mittel ist eine nützliche Beschäftigung, von der die Zöglinge vor ihrer Aufnahme noch nichts wußten. Das dritte Mittel besteht in dem fleißigen Gebrauche des göttlichen Wortes, um sie nun auch in das rechte Verhältnis mit Gott zu setzen, wovon bei ihnen sonst kaum eine Spur zu finden war. Ein viertes Mittel besteht in dem Bemühen, Liebe in den Herzen der Kinder zu erwecken und hierin namentlich offenbart das Rauhe Haus am Deutlichsten seine besondere Eigentümlichkeit – das Familienleben, ein gemütliches Beisammenwohnen, welches