Название | Praxis und Methoden der Heimerziehung |
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Автор произведения | Katja Nowacki |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783784133041 |
Die nun vorliegende sechste aktualisierte und ergänzte Auflage berücksichtigt neue Daten und Forschungsergebnisse sowie zusätzlich relevante Themen wie den Umgang mit Diversität im Kontext stationärer Erziehungshilfe, die Betreuung von Care Leavern, traumapädagogische Standards und auch internationale Perspektiven. Die Bedeutung der Beziehungsarbeit im Kontext von Fremdunterbringungen wird noch stärker herausgestellt.
Zunächst wird die Heimerziehung in ihrer historischen Dimension und Entwicklung, auch vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung 1991, betrachtet und es wird aufgezeigt, welche strukturellen Veränderungen und inhaltlichen Reformen in den letzten Jahren vollzogen worden sind. Hierbei werden auch Aspekte der Qualitätsdebatte und der Finanzierung berücksichtigt.
Um das Aufgabengebiet der heutigen stationären Erziehungshilfe zu begreifen, müssen wir uns mit den Schwierigkeiten und Problemen von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, die diese als Hilfeform benötigen. Es geht also darum zu klären, welche Indikationen die Maßnahme der stationären Erziehungshilfe legitimieren.
Weiterhin werden methodische Aspekte und Konzepte der Heimerziehung angesprochen, vor allem, wenn es um Orientierungen der pädagogischen und zielgerichteten Vorgehensweise in der konkreten Alltagspraxis oder in speziellen therapeutischen Situationen geht. Methodische Vorstellungen kommen aber auch bei der Zusammenarbeit zwischen Heim und Schule, bei der Elternarbeit, bei der Sexualerziehung in Heimen und in Wohngruppen sowie bei der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung und der geschlossenen Heimerziehung zur Sprache. Außerdem nehmen die Problemlagen der jungen Menschen und die Anforderungen an die pädagogischen Mitarbeiter*innen einen großen Stellenwert ein. Die Fachkräfte der stationären Erziehungshilfe haben häufig eine Ausbildung als Erzieher*in abgeschlossen, aber viele haben auch ein Studium der Sozialen Arbeit absolviert. Insofern wird häufig von den pädagogischen Fachkräften als Betreuer*innen der Kinder und Jugendlichen gesprochen, teilweise werden aber auch die spezifischen Berufsbezeichnungen verwendet, um den Fachhintergrund zu verdeutlichen.
Strukturelle und räumliche Rahmenbedingungen der Heimerziehung werden nicht nur exemplarisch behandelt; die architektonischen Bedingungen und Ausgestaltungsmerkmale von Heimen und Wohngruppen stellen wesentliche Faktoren des pädagogischen Alltags dar. Struktur, Gestaltung und Pädagogik beeinflussen sich ständig wechselseitig. Relativ breiten Raum nimmt auch das Kapitel „Sexualität in Heimen und Wohngruppen“ ein. An diesem so ungemein wichtigen Erziehungs-, Sozialisations- und Lebensbereich kann exemplarisch aufgezeigt werden, ob die institutionalisierte Erziehung elementare Sozialisationsprozesse eher behindert oder fördert. Da außerdem in Heimen und Wohngruppen häufig Kinder und Jugendliche leben, die in ihren Herkunftsfamilien sexuelle Gewalterfahrungen erleiden mussten, war der sich hieraus ableitende Aufgabenbereich für die Heimerziehung ausführlich zu behandeln. Hier werden auch Perspektiven von sexueller Orientierung und Identität in ihrer ganzen Breite berücksichtigt.
Das Buch will zu wesentlichen Entwicklungen, Aspekten und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe Stellung nehmen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten, dass diese Schrift vor allem im Bereich der Ausbildung und des Studiums sehr gut angenommen wurde. Sie wendet sich darüber hinaus sowohl an die Praktiker*innen, die in diesem Arbeitsfeld tätig sind oder sich darüber informieren wollen, als auch an Leser*innen, die mehr ein wissenschaftliches Interesse an der Methodik und Struktur eines sozialpädagogischen Handlungsfeldes zum Lesen motiviert.
Kapitel 1
Entwicklungen und Veränderungen der Heimerziehung
Das Negativimage der Heimerziehung
Heimerziehung und die sozialpädagogische Betreuung in sonstigen Wohnformen haben die zentrale Aufgabe, positive Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden, wenn diese vorübergehend oder auf Dauer nicht in ihrer Familie leben können. Die sehr differenzierten Institutionen der stationären Erziehungshilfe sollen lebensweltorientiert ausgerichtet sein. Dies impliziert in der Regel eine ortsnahe oder zumindest regionale Unterbringung sowie die Unterstützung von Kontakten zum früheren sozialen Umfeld, vor allem aber zu der Herkunftsfamilie, wenn nicht im Einzelfall Gründe, die das Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährden könnten, dem gegenüberstehen. Das Heim als positiver Lebensort soll frühere oftmals negative oder traumatische Lebenserfahrungen verarbeiten helfen, für günstige Entwicklungsbedingungen sorgen, Ressourcen erkennen und auf ihnen aufbauen, den einzelnen jungen Menschen als Person annehmen und wertschätzen, eine vorübergehende oder auf einen längeren Zeitraum angelegte Beheimatung fördern und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven unterstützen.
Die Entwicklung der Heimerziehung in ihrem historischen Kontext
Heimerziehung wird heute mitunter noch in Verbindung gebracht mit der anstaltsmäßigen Unterbringung von armen und verwaisten Kindern. Diese Vorstellung trifft für frühere Zeiten durchaus zu. Denken wir beispielsweise an die Situation elternloser Kinder in Findelhäusern, Klosterschulen, Hospitälern und Armenhäusern des Mittelalters, so fällt außerdem auf, dass erzieherische Gesichtspunkte damals kaum vorlagen, es ging vor allem darum, diese Kinder am Leben zu erhalten und sie zu Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Demut hinzuführen. In Deutschland entstanden die ersten Waisenanstalten im Jahrhundert in den Reichsstädten. Vorher war es üblich gewesen, verwaiste Kinder zu Familien zu geben. Die Lage solcher Kinder wurde jedoch vielfach als sehr schlecht beurteilt, häufig wurden sie als billige Arbeitskräfte für Haus und Hof eingesetzt, für ihre Erziehung oder gar Bildung wurde kaum etwas getan. Die ersten Waisenhäuser wurden 1546 in Lübeck, 1567 in Hamburg und 1572 in Augsburg eröffnet (Schips 1917, S. 702). Sehr bekannt wurden die im Jahre 1698 von August Herrmann Francke gegründeten Hallischen Anstalten. Durch eine strenge, pietistisch geprägte Erziehung sollten die Kinder in diesem Waisenhaus ihre innere Haltung ganz auf Gott hin ausrichten. Neben der übergeordneten religiösen Unterweisung fand erstmals auch ein auf lebenspraktische Inhalte orientierter Unterricht für die Waisenkinder statt. Anzustrebende Tugenden waren auf Gott bezogene Wahrheit, Gehorsam und Fleiß. Die Kinder wurden ständig zu häuslichen Arbeiten angehalten, welches durch genaue Dienstanweisungen und Reglementierungen zu erreichen versucht wurde (Sauer 1979, S. 18 ff.). Einengende Strenge und Disziplin waren alltäglich. Die Gruppen im Waisenhaus in Halle sollten ursprünglich möglichst klein sein, um eine individuelle pädagogische Vorgehensweise zu garantieren. Diese Absicht konnte jedoch nicht realisiert werden, denn wegen der jahrzehntelang andauernden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges (Verwüstung von Städten und Ländereien, Verarmung der Bevölkerung, Zwangsabgaben zur Beseitigung der Kriegsschäden etc.) wurden die Anstalten von Kindern geradezu überflutet.
„Die berechtigte Kritik an dem Werk Franckes wird vermerken müssen, dass die Kasernierung so vieler Kinder in einer Anstalt letztlich eine formale Reglementierung des Lebens in ihr notwendig machte, die ihrerseits die pädagogischen Bemühungen zu einer pausenlosen Führung und Überwachung werden ließ, die dem kindlichen Wesen keine Freiheit zu eigener Entfaltung einräumte“ (Hegel 1968, S. 21).
Die weitverbreitete Massenunterbringung von Kindern, ihre hohe Sterblichkeit sowie der Vorwurf, sie würden in den damaligen Waisenhäusern nur zur Arbeit angetrieben, führte zu einem erbitterten und lang andauernden Streit.
„… die Unzufriedenheit mit den Waisenhäusern stieg. Immer wieder zeigte es sich, dass die in den oft engen und dürftigen