Praxis und Methoden der Heimerziehung. Katja Nowacki

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Название Praxis und Methoden der Heimerziehung
Автор произведения Katja Nowacki
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783784133041



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1852, S. 909 f.).

      Die Verdienste Wicherns sind in der konsequenten Praxis des Familienprinzips zu sehen, damit stellte er die ansonsten übliche Vermassung der Kinder in Anstalten deutlich ins Abseits. Die Erziehung in und durch kleine Gemeinschaften wurde begleitet von einer christlich geprägten individuellen Zuneigung. Die Waisenhauserziehung hätte bei Anwendung solcher Grundsätze von diesem Zeitpunkt an ihre Schrecken verlieren können. Dies war aber nicht so. Sehr deutlich wird die Nichtbeachtung bereits vorhandener pädagogischer Einsichten beispielsweise, wenn man die Anstaltssatzung des Münchner Waisenhauses aus dem Jahre 1908 liest und feststellen muss, dass die autoritäre und aus heutiger Sicht menschenverachtende Anstaltsordnung kaum Raum für pädagogische Prozesse zuließ. Von den Kindern wurde eine ehrerbietige Haltung gegenüber den Vorgesetzten erwartet, Widerspruch wurde nicht geduldet. In der Hausordnung dominierten Begriffe wie Strenge, Strafen, Schweigen und Ruhe. Eine Briefzensur war selbstverständlich. Die durch Rousseau, Pestalozzi und Wichern vorgebrachten Erkenntnisse des Wertes einer vom Erwachsenen ausgehenden Beziehungsarbeit, welche durch Liebe und Zuneigung geleitet wird, pervertieren in der Anstaltssatzung in ihr Gegenteil:

      „Die Zöglinge haben allen ihren Vorgesetzten einschließlich allen Ordensmitgliedern Ehre, Liebe und Gehorsam zu erweisen“ (Mehringer 1994, S. 34).

      Positive emotionale Beziehungen zwischen Kindern und Erzieher*innen wurden so von vornherein ausgeschlossen. Jahrhundertelang wurde – bis auf wenige Ausnahmen – Kindern durch Institutionen kein Zuhause geboten, sie wurden in Anstalten kaserniert und zu Zucht und Ordnung angetrieben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erfahren, dass der Begriff „Heim“ erst Anfang des 20. Jahrhunderts üblich wurde und vorher und auch danach Beschreibungen wie

      •Besserungs- und Corrigendenanstalt

      •Rettungshaus und Rettungsanstalt

      •Zwangserziehungsanstalt

      •Fürsorgeerziehungsanstalt

      •Erziehungsanstalt

      •Jugendschutzlager/Konzentrationslager für Jugendliche/Arbeitslager für Fürsorgezöglinge“ (Schrapper/Heckes 1986, S. 1 f.)

      üblich waren.

      Die Erziehungssituation im Nationalsozialismus war dadurch gekennzeichnet, dass alle Kinder und Jugendlichen während dieser Zeit ganz massiven ideologisch ausgerichteten Erziehungsgewalten außerhalb der eigenen Familie ausgesetzt waren. Dies stand im Widerspruch zur eigentlich vorherrschenden Familienideologie, denn die Zielsetzung der diktatorischen Staatsgewalt, nationalsozialistisch wertvolle junge Menschen heranzubilden, führte faktisch zu einer Schwächung der Erziehung innerhalb der Familie (Sauer 1979, S. 73).

      „Die öffentliche Erziehung blieb nicht mehr Ersatzerziehung für den Notfall eines elterlichen Versagens, sie wurde zu einer staatspolitischen Pflichtaufgabe. Elterliches Vorbildverhalten wurde faktisch um das umschriebene Tatbestandsmerkmal der politischen Unzuverlässigkeit der Sorgeberechtigten erweitert“ (Wolff 1999, S. 155).

      Diese Klassifizierung führte dazu, dass in den NSV Jugendheimstätten nur als rassisch „wertvolle“, erbgesund sowie erziehungsfähig und erziehungswürdig angesehene junge Menschen aufgenommen wurden. Alle anderen kamen in die sogenannte Bewahrung, eine Aufgabe, welche den Wohlfahrtsverbänden überlassen wurde.

      Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges war es zunächst sehr schwierig, der großen Anzahl an heimatlosen und elternlosen Kindern mit sinnvoll organisierten Hilfeangeboten entgegenzutreten. Nur noch wenige Heime waren vorhanden, die in der Regel von unausgebildetem Personal (so z. B. von ehemaligen Soldaten) geführt wurden. Großgruppen von bis zu 30 und mehr Kindern waren an der Tagesordnung. Um mit solchen „Massen“ von Kindern einigermaßen fertig zu werden, blieben dem nicht qualifizierten Personal nur wenige Methoden übrig, die auf Strenge, Disziplin, Ruhe, Ordnung und Unterordnung basierten. Einige der wenigen Ausnahmen hiervon konnten im zuvor schon erwähnten Münchener Waisenhaus beobachtet werden. Der wegen seiner Aktivitäten während der NS-Zeit nicht unumstrittene Pädagoge Andreas Mehringer (1911–2004) übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg die Leitung des Waisenhauses in München. Er setzte sich erfolgreich für Reformen der Heimerziehung insgesamt ein. Ihm gelang es in der frühen Nachkriegszeit, das Familienprinzip innerhalb der Heimerziehung mit dem Wiederaufbau des Hauses „realitäts- und hilfebezogen“ zu realisieren.

      Auf diese Zeit zurückblickend, schrieb Mehringer später:

      „Muss man … die Kinder wie in der alten Anstalt kasernieren? Muss der Unterschied zwischen einem Familienkind und einem Anstaltskind so riesengroß sein? Wir sagten: Nein. Es gibt einige wesentliche Elemente der Familie, welche auf die Ersatzunterbringung übertragbar sind. Es sind vor allem diese drei: die überschaubare kleine Zahl; dann: nicht lauter gleiche, sondern verschiedene Kinder in der Gruppe, große und kleine, Knaben und Mädchen; und schließlich die abgeschlossene Wohnweise dieser kleinen gemischten Gruppe. Anders gesagt: Die eigenen vier Wände, die jeder Mensch für sich haben möchte; die er liebt, weil er sie braucht. Auch Kinder brauchen sie“ (Mehringer 1994, S. 60).

      Es sollte allerdings noch Jahrzehnte dauern, bis die von Mehringer ausgehenden pädagogischen Impulse die Heimerziehung insgesamt erreichten und veränderten.

      Von einer anderen Seite ausgehend wurde die Idee, elternlosen Kindern ein wirkliches Zuhause zu geben, nach dem Zweiten Weltkrieg auch durch die SOS-Kinderdorfbewegung praktiziert. Der allgemeine Weg zur Veränderung weg von der Anstaltserziehung in der Großinstitution Heim hin zu überschaubaren familienähnlichen Formen, setzte auf breiter Ebene erst mit Beginn der 1970er-Jahre ein und fand seinen Ausdruck in der Auflösung großer Institutionen, im Auftauchen von Kinderhäusern, Außenwohngruppen und Wohngruppen.

      Die Beheimatung von Kindern, z. B. in den Kinderdörfern innerhalb eines familienähnlichen Rahmens, war zweifellos eine Abwendung von der Anstaltspädagogik und sie war notwendig, da es sich in der Regel um elternlose Kinder handelte. Hier trat dann auch der in der ansonsten praktizierten Heimerziehung existierende Änderungs- und Verbesserungscharakter der Pädagogik zurück, zugunsten der „normalen“ Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb einer fördernden familiären Atmosphäre. Das sich mehr und mehr durchsetzende Familienprinzip innerhalb der Heimerziehung blieb jedoch nicht unumstritten (Sauer 1979), denn es erschien fraglich, ob familienähnliche Lebens- und Erziehungsformen wirklich für alle Kinder die günstigsten Entwicklungsmöglichkeiten bieten könnten.

      Spätestens dann, wenn eine Bezugsperson austritt, merken die Kinder, dass „ihre Familie“ eine organisierte Täuschung war (Bühler-Niederberger 1999, S. 337). Durchsetzen konnte sich allenthalben jedoch die Tendenz, Heimerziehung in Gruppen zu praktizieren, die zumindest von der äußeren Form und Struktur her der Familie ähneln. Bis auf wenige andere Ausnahmen gebührt zweifellos der SOS-Kinderdorfbewegung der Verdienst, Heimkindern einen Rahmen geschaffen zu haben, in dem neben einer beständigen Bezugsperson eine wirkliche Atmosphäre der Geborgenheit und des Sich-Zuhause-Fühlens vorhanden war. Die übrigen Institutionen der Heimerziehung verfügten zwar im Laufe der Jahre auch über bessere Gebäude und nach und nach über zumindest einzelne pädagogisch ausgebildete Mitarbeiter*innen,