Instrumentalpädagogik in Studium und Beruf. Ulrich Mahlert

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Название Instrumentalpädagogik in Studium und Beruf
Автор произведения Ulrich Mahlert
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783795787769



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      Zur Klarheit: Ich gebe mit diesen Bemerkungen nicht meine persönliche Auffassung von der Bedeutung musikpädagogischer Berufspraxis wieder. Es geht mir darum, einer Verdrängung von alltäglich begegnenden Sichtweisen und Erfahrungen entgegenzuwirken. Oft werden diese versteckt, mitunter auch offen geäußert. Einflussreich sind sie allemal.

      Geringschätzung versus Heilserwartung

      Im Gegensatz zu den gezeigten Negativvorstellungen stehen mancherlei Heilserwartungen, die sich mit den Begriffen »Musikpädagogik«, »Musikpädagoge« verbinden. Ursachen für erstere sind vor allem niedrige Einkommen, der Blick von »Künstlern« auf »Musikpädagogik« wie auch die Arten und Praxen von Musik, die als »musikpädagogisch« gelten. Heilserwartungen hingegen entstehen, wenn Musik und Musizieren große Wirkungen auf Individuen und Gesellschaft zugeschrieben werden.

      Die in Deutschland (anders als etwa in der Schweiz und in Österreich) durchweg übliche geringe Honorierung musikpädagogischer Lehrkräfte außerhalb der allgemeinbildenden Schule ist zugleich Ursache und Symptom der bescheidenen sozialen Geltung. Sie bewirkt ein negatives Erscheinungsbild des Berufs und indiziert eine in der Gesellschaft verbreitete Geringschätzung des Werts musikpädagogischer Arbeit. Auch die starke Verbandsarbeit der öffentlichen Musikschulen konnte bislang an dem traditionell schlechten Sozialprestige von Lehrenden nur wenig ändern. Deren Arbeit hat eine auch noch heutige Vorstellungen beeinflussende Vorgeschichte: Sie liegt im Berufsfeld der stundenweise bezahlten, von Privatpersonen abhängigen, im 18. Jahrhundert oft mit Domestiken auf einer Stufe stehenden Hauslehrern.

      Mit negativen Zuschreibungen verbunden ist der auf Musikpädagogik gerichtete Blick vieler professioneller Musiker – nicht zuletzt auch an Hochschulen –, die sich primär als »Künstler« verstehen. Sie kritisieren oder argwöhnen, dass im Rahmen einer professionalisierten Musikpädagogik die Pädagogik gegenüber der Musik die Oberhand gewinnt oder sich gar verselbstständigt. Nicht obwohl, sondern gerade weil sie selbst ihre Unterrichtstätigkeit oft ohne pädagogische Ausbildung betreiben, fühlen sie sich als die wahren Musikpädagogen. Ihre Lehre erwächst für sie aus ihrer künstlerischen Kompetenz und ist nicht durch kunstfremde pädagogische Ansprüche und Kriterien verbogen. Es entsteht ein Paradox: die fachlich konsolidierte Musikpädagogik gilt wenig, die davon unberührte Meisterlehre dagegen viel. Da nach dieser Sichtweise die fachliche Qualifikation ausgebildeter Musikpädagogen zulasten der Kunst geht, hat das Wort »Musikpädagogik« bei »Künstlerpädagogen« oft keinen guten Klang.

      Kritische Sichtweisen auf Musikpädagogik resultieren auch aus der Ablehnung einer für pädagogische Zwecke produzierten Musik. Abgesehen von Ausnahmewerken großer Komponisten wie Bach, Schumann, Bartók, Kurtág u. a. wird solcher Musik keine oder allenfalls eine sehr bescheidene künstlerische Qualität zugebilligt. Pädagogische Intentionen sind demnach kaum vereinbar mit Kunst; sie beschneiden und behindern deren freie Entfaltung. Adornos Thesen gegen die musikpädagogische Musik (Adorno 1954) begründeten maßgeblich diese Auffassung.

      Es gibt aber auch ein ganz anderes, nämlich ein glorifizierendes Bild von Musikpädagogik. In ihm wird Musikpädagogik mit Heilserwartungen und Hoffnungen auf eine Humanisierung der Gesellschaft oder gar einer Veredlung der Menschheit aufgeladen. Die Grundbehauptung lautet: Durch Musik und Musizieren werden Menschen sozialer, offener, toleranter, sensibler, ausdauernder, glücklicher … Bildungs- und Kulturpolitiker beschwören gern solche Kräfte und Wirkungen von Musik. Musikpädagogen fungieren nach dieser Sichtweise als Spender humanisierender musikalischer Energien und als Wegbereiter einer besseren Welt. Beispiele und Ideale solcher glorifizierenden Vorstellungen von Musikpädagogik finden sich in realen oder fiktiven pädagogischen Einrichtungen und Szenarien, real etwa in Modellschulen von El Sistema und in Szenarien des Dokumentarfilms Rhythm Is It!, fiktiv im Musikfilm Die Kinder des Monsieur Matthieu. Gewiss kann intensives Musizieren humanisierende Wirkungen haben. Gleichzeitig aber muss die durch solche und andere Projekte genährte Hoffnung, durch Musik in großem Stil politische und gesellschaftliche Missstände kompensieren zu können, ins Reich unerfüllbarer Utopien verwiesen werden. Musikpädagogik kann verantwortungsvolles politisches Handeln nicht ersetzen.

      Verschwimmende Konturen

      Eine andere Ambivalenz im Gebrauch des Worts »Musikpädagogik« betrifft das Ausmaß seiner möglichen Bedeutungen. Bisweilen wird das Wort so weit gefasst, dass fachliche Konturen verschwimmen. Zunächst steht es für ein Fachgebiet sowie für das Unterrichten von Musik in verschiedenen Arten, Formen und Institutionen, insbesondere für Praxen des schulischen Musikunterrichts und des Instrumental- und Vokalunterrichts. Darüber hinaus begegnet die Vorstellung, dass letztendlich alle musikalischen Aktivitäten »musikpädagogisch« seien. In der Tat fungieren Pädagogen als Vermittler von etwas. Und da Musik selbst in ihrer jeweiligen Klanglichkeit stets Botschaften vermittelt, da Musizieren ein gestaltendes Vermitteln dieser Botschaften ist und da auch Musikwissenschaft letztlich nichts anderes als Aufgaben der Vermittlung von Musik wahrnimmt, sind eigentlich alle Arten musikbezogenen Handelns und sogar die Musik selbst zumindest auch pädagogisch. Nach dieser Sichtweise wäre Musikpädagogik dann nicht ein Untergebiet der Systematischen Musikwissenschaft, sondern vielmehr der Oberbegriff, der auch Musikwissenschaft unter sich hat: »jeder, der sich (wie auch immer) mit Musik beschäftigt und die Ergebnisse dieser Beschäftigung an andere Menschen (welche auch immer) vermittelt, ist Musikpädagoge«. (Eggebrecht 1994/1998, S. 132) Diesem radikal ausgeweiteten Verständnis von Musikpädagogik korrespondiert die in musikpädagogischer Theorie und Praxis zu beobachtende Tendenz, weit über die (freilich schwer bestimmbaren) Fachgrenzen hinaus alle möglichen Wissenschaften und Diskurse aufzugreifen und sich ihrer zu bedienen. Claus-Steffen Mahnkopf attackiert diese Tendenz und sieht ihre Ursache in der labilen Identität des Fachgebiets: »Die Musikpädagogik nimmt für sich in Anspruch, für alles und jedes, buchstäblich für die Welt und den lieben Gott sprechen zu sollen, hemmungslos usurpiert sie das Philosophische als Kompensation dafür, dass sie kein eigenständiges Fach ist.« (Mahnkopf 2006, S. 235) In der Tat findet sich besonders in musikpädagogischer Literatur eine große Offenheit gegenüber vielen Fachgebieten, ein beherztes Adaptieren aktueller Diskurse und ein gewisses Dilettieren in den Fahrwassern diverser Wissenschaften. Das macht Musikpädagogik interessant und vielseitig, gelegentlich aber auch modisch und unseriös.

      Oszillierende Sichtweisen

      Sichtweisen auf Musikpädagogik oszillieren, wie bereits angedeutet, zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft. Musik ist eine Kunst. In der Verbindung der Wörter »Musik« und »Pädagogik« entsteht ein Begriff, dessen Ausrichtung offenbleibt. Außerhalb des Fachs, aber auch fachintern kommt es zu unterschiedlichen Vorstellungen darüber, ob und wie weit Musikpädagogik mehr dem Bereich von Kunst, Pädagogik oder von Wissenschaft zugehört. Laien gilt Musikpädagogik in der Regel wohl vor allem als ein künstlerisch-pädagogisches Arbeitsgebiet; dass sie auch eine Wissenschaft ist, liegt ihrer Vorstellung ferner. Im Blick auf das Verhältnis von Kunst und Pädagogik kommt komplizierend hinzu, dass Pädagogik selbst als Kunst (als Kunst der Erziehung) verstanden werden kann und dass Musik, wie angedeutet, in sich selbst bereits »Vermittlung«, also pädagogisch wirksam ist.

      Kunst, Pädagogik und Wissenschaft hängen nicht nur im Bereich Musikpädagogik vielfältig miteinander zusammen. Jede der drei Disziplinen hat Beziehungen zu den jeweils anderen beiden: Kunst zu Pädagogik und zu Wissenschaft, Pädagogik zu Kunst und zu Wissenschaft, Wissenschaft zu Kunst und zu Pädagogik (auch wissenschaftliche Forschungen werden oft von künstlerischen Fantasien und Gedankenexperimenten angeregt, und auch Wissenschaft bedarf der vermittelnden Darstellung, um verstanden zu werden). Wie solche Zusammenhänge im Alltagsverständnis des Worts »Musikpädagogik« jeweils mitschwingen, dürfte individuell recht unterschiedlich sein. Wer musikpädagogisch arbeitet, weiß in der Regel nicht, aus welchem Konglomerat der möglichen Komponenten sich das Vorverständnis seines Gegenübers formt – was also Schüler, Eltern, Kollegen, Politiker wie auch Freunde und Bekannte mit dem Begriff »Musikpädagogik« verbinden. Unterschwellig aber spürt man, was andere über das eigene