Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR. Peter Pragal

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Название Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR
Автор произведения Peter Pragal
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449400



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sein. Arbeiter, Büromenschen, Verkäuferinnen, Friseusen. Und viele Kinder, die – oft noch halb im Schlaf – von ihren Vätern oder Müttern zur Krippe und in den Frühhort gebracht wurden. Spätestens um halb neun waren die neuen Betonburgen, sofern keine Ausländer darin wohnten, entvölkert. Das Volk war – wie man in Berlin sagt – »auf Arbeit«.

      Nicht weit von unserem Haus gab es eine Konsum-Kaufhalle. Dorthin gingen wir in der ersten Zeit einkaufen. Wir schoben den Gitterkorbwagen über den Betonboden und verglichen beim Blick in die Regale die Preise. Etliche Waren kosteten – setzte man nach dem offiziellen Umtauschkurs eine Mark Ost gegen eine Mark West – weniger als jenseits der Grenze. Das galt vor allem für die Grundnahrungsmittel, die von den Planwirtschaftlern der SED subventioniert wurden. Auch dann noch, als das Regime ökonomisch schon bankrott war. Dafür war die Auswahl der Waren wesentlich geringer und die Qualität schlechter.

      Griff man ein Netz mit Kartoffeln, konnte es passieren, dass die Hälfte des Inhalts verdorben war und weggeworfen werden musste. Vor der Fleischtheke standen die Kunden in der Regel Schlange. »Könnten Sie mir bitte das Fett abschneiden«, bat meine Frau eine Verkäuferin, die dabei war, das Fleisch auszuwiegen. Die Frau sah uns an, als kämen wir vom Mond. »Das müssen Sie aber mitbezahlen«, blaffte sie uns an. »Was glauben Sie denn, wie ich der nächsten Kundin das Fett berechnen soll.« Wieder eine Lektion: Verkäuferinnen, die wie alle Werktätigen im »sozialistischen Wettbewerb« standen, konnten auf Sonderwünsche keine Rücksicht nehmen.

      Unsere Annäherung an das Alltagsleben im realen Sozialismus war eine Entdeckungstour, an der ich meine Leser im Westen von Anfang an teilhaben ließ. Die meisten Bundesbürger interessierte damals nicht, was östlich von Mauer und Metallgitterzäunen bei den »Brüdern und Schwestern« passierte. Urlaubsländer wie Griechenland, Italien und Spanien waren ihnen vertraut. Über das Leben der Menschen zwischen Oder und Werra wusste der gewöhnliche Westdeutsche jedoch wenig. Es sei denn, er war von dort vor dem Mauerbau geflohen oder er hatte Verwandte. Nicht etwa, dass es keine politische Berichterstattung gab. Was Walter Ulbricht, Erich Honecker und Genossen erklärten und anordneten, wurde sehr wohl registriert. Aber wie es in den Köpfen und Herzen ihrer Untertanen aussah, blieb dem durchschnittlichen Bundesbürger verborgen. Es war ihm, glaube ich, auch ziemlich egal.

      Ich schrieb auf, was ich hörte und beobachtete. In der Straßenbahn und in der Kneipe, in Geschäften und auf dem Rummelplatz, auf der Poststelle und im Theater. Aus den Tagebuch-Eintragungen wurde eine Kolumne, die unter dem Titel »In der DDR notiert« in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung erschien und große Resonanz fand. Sie wurde von mehr Menschen gelesen als meine sonstigen Kommentare, Analysen und Reportagen, auf die ich so stolz war. Zunächst habe ich in vielen kleinen Szenen die Außenseite der Gesellschaft beschrieben. Aber je länger wir in Ost-Berlin lebten, desto mehr verwandelte sich mein Blick von dem eines Fremden in den eines Insiders, der seine Umwelt mit den Augen und den Empfindungen von Einheimischen wahrnahm.

      Wenn wir schon hier in Ost-Berlin sind, so sagten wir uns, dann mit allen Konsequenzen. Meine Frau und ich nahmen uns vor, so wenig wie möglich auf die Fluchtinsel West-Berlin auszuweichen. Das hielten wir zwar nicht lange durch, aber in der Anfangszeit haben wir diesen freiwilligen Vorsatz erfüllt. Unsere Kinder waren oft krank. Auch eine Folge der verschmutzten Luft, mit der wir täglich konfrontiert wurden. Wir beschlossen, sie und uns vor Ort ärztlich betreuen zu lassen. Dazu mussten wir einen Berechtigungs-Ausweis zum Besuch medizinischer Einrichtungen der DDR beantragen. Die Jahrespauschale betrug 720 Mark pro erwachsene Person. Die Summe entsprach dem Höchstbetrag, den ein DDR-Bürger für die Sozialversicherung zahlen musste. Für die Behandlung unserer Kinder wurde keine zusätzliche Prämie erhoben. Im Haus der Gesundheit, einer Poliklinik am Alexanderplatz, war meine Frau mit den Kindern Stammgast. Lange warten musste sie selten. Ihr grüner Versicherungsausweis berechtigte sie »zur bevorzugten« ambulanten Betreuung. Klassenlos, wie es der Ideologie im sozialistischen Deutschland entsprochen hätte, war das staatliche Gesundheitswesen ohnehin nicht. Es gab ein Regierungskrankenhaus für die DDR-Prominenz. Diese Klinik stand auch den auswärtigen Missionschefs und ihren Familien sowie dem Botschaftspersonal im Diplomatenrang offen. Korrespondenten zählten nicht zu diesem erlauchten Kreis.

      Es war eine Zeit, in der unsere Kinder in manchen Nächten ins Elternbett krochen. Meistens war es der Sohn. Eines Tages entdeckten wir an seinem Körper rote Flecken, die wie Einstichstellen von Insekten aussahen. Die Ärztin im Haus der Gesundheit tippte auf Allergie. Als immer wieder neue Flecken auftraten, schilderten wir unsere Beobachtungen meiner Schwiegermutter. Die war Kinderärztin. Es könnten Wanzenbisse sein, sagte sie. »Wie alt ist eure Ärztin?« So Mitte dreißig, schätzten wir. Dann habe sie wohl mit Wanzenbissen keine praktische Erfahrung, sagte meine Schwiegermutter. Vielleicht hat uns die DDR-Medizinerin die in ihren Augen peinliche Diagnose auch nur ersparen wollen.

      Wir nahmen unser Bett auseinander und fanden tatsächlich vier der kleinen, flachen Blutsauger. Wir verglichen ihre Körper mit Abbildungen in einem Tier-Lexikon, das uns DDR-Freunde geschenkt hatten. Kein Zweifel, es waren Wanzen, echte Wanzen. Sie hatten nicht meine Frau und mich, sondern nur unseren Sohn gepeinigt. Wir informierten die Hygiene-Inspektion. Als die Kammerjäger in unsere Wohnung kamen, glaubten sie, an der falschen Tür geklingelt zu haben. »Sind wir hier richtig?«, fragten sie. Bei uns sah es nicht nach Verwahrlosung aus. Sie sprühten dem Raum aus. Drei Wochen lang konnten wir unser Schlafzimmer nicht benutzen und mussten in einem anderen Raum die Nächte verbringen. Ich überlegte, wie ich das Ungeziefer eingeschleppt haben könnte. Bei meinen Dienstreisen übernachtete ich zuweilen in einem der Interhotels. Wenn ich nach Hause kam, legte ich meinen Koffer zum Ausräumen aufs Bett. Von Zeit zu Zeit, so hatte ich gehört, wurden Hotels in der DDR für ein paar Tage geschlossen. Kammerjäger reinigten Gästezimmer und sonstige Räume von allerlei Ungeziefer. Gut möglich, dass sie nicht nur Schaben jagten, sondern auch Bett-Wanzen.

      Eines Tages beschloss meine Frau, sich im Städtischen Krankenhaus Friedrichshain operieren zu lassen. Die Klinik, an der in den zwanziger Jahren der Schriftsteller und Arzt Peter Bamm gewirkt hatte, genoss auch zu DDR-Zeiten einen guten medizinischen Ruf. Außerdem war sie nur ein paar Kilometer von unserer Wohnung entfernt. So konnte ich sie öfter besuchen. Gleich nach der Ankunft in einem Vierbettzimmer der Station 11 rief sie mich an und bat mich, ein paar Kleinigkeiten von zu Hause mitzubringen, darunter Messer, Löffel, Gabel und Tee. Den gab es ebenso wenig wie Bohnenkaffee. Nachthemd und Toilettenartikel hatte sie mitgenommen, aber kein Essbesteck. »Die anderen Frauen haben auch ihr eigenes dabei«, sagte sie. »Das ist hier so üblich.«

      An den Betten gab es keine Nachttischlampe. Eine Glühbirne an der Decke beleuchtete den Raum. Es fehlten auch schwenkbare Tabletttische. Das Essen wurde nicht ans Bett gebracht. Die Patienten mussten aufstehen und die Mahlzeit auf dem Flur in Empfang nehmen. Wer das nicht konnte, weil er frisch operiert war, wurde von den gehfähigen Patienten versorgt. Mit dem Teller balancierte man auf der Bettdecke. Manche der Patienten halfen in der Küche. So also sah das von den Parteifunktionären hoch gepriesene Gesundheitswesen von innen aus. Wie in vielen Bereichen klafften auch hier Propaganda und Wirklichkeit auseinander.

      Als es ein Jahr später darum ging, ihre Mandeln herausnehmen zu lassen, entschied sich meine Frau trotzdem erneut für das Krankenhaus Friedrichshain. Diesmal lag sie in einem Zweibettzimmer. Einer der Chefärzte der Klinik war ein gebürtiger Bayer. Ein renommierter Chirurg, der etliche DDR-Prominente unter dem Messer gehabt hatte. Nach dem Krieg war er im Osten geblieben und hatte dort beruflich Karriere gemacht. Wir hatten ihn über seine Tochter kennengelernt. Er verleugnete seine bajuwarische Herkunft nicht. Meiner Frau brachte ich täglich die Süddeutsche Zeitung ins Krankenhaus. Sie hatte mit ihm verabredet, dass er sich seine »Lieblingszeitung«, wie er sich ausdrückte, abholen durfte. Beim ersten Besuch kam er ins Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Die Patientin im Nachbarbett war seine OP-Schwester aus der chirurgischen Abteilung. Er schien zu überlegen, ob er sich vor einer Mitarbeiterin die Blöße geben sollte, sich von einer Patientin aus der Bundesrepublik eine West-Zeitung aushändigen zu lassen.

      »Ich hätte in diesem Moment heulen mögen«, hat mir später meine Frau gesagt. Da stand ein hoch angesehener Chefarzt und musste sich nach dem ersten Schrecken entscheiden, ob er wieder gehen oder den wahren Grund seines Besuches zugeben sollte. Was ist das für ein Staat, der seine Bürger in eine solche demütigende