Название | Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR |
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Автор произведения | Peter Pragal |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449400 |
Als ich genug gesehen und gehört hatte, fuhr ich nach Charlottenburg, in unser Zuhause. Neben der Dienstwohnung in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte hatte ich – anders als in meinen ersten fünf Korrespondenten-Jahren – ab 1984 für meine Familie eine zweite Wohnung gemietet. Meine Frau saß vor dem Fernseher und verfolgte eine Sondersendung. »Die Grenze ist auf«, rief ich. Eben habe der Reporter am Kontrollpunkt Invalidenstraße noch was anderes gesagt, erwiderte sie. »Ruf doch mal den SFB an.« Beim Sender Freies Berlin wussten sie schon Bescheid. Soeben, sagte man mir, sei die Meldung von der Bornholmer Straße gekommen. Kurz nach Mitternacht klingelte es an unserer Haustür. »Hier sind wir.« Ein befreundetes Ehepaar aus Pankow nebst schulpflichtiger Tochter wollte die neue Freiheit ausprobieren. Ihr Sohn war drüben geblieben. Er hatte so fest geschlafen, dass ihn die Eltern nicht wecken mochten. »Wo ist denn Katharina?«, fragte das Mädchen. Unsere Tochter schlief im ersten Stock. Als Rike vor ihrem Bett stand, wurde sie wach. »Was machst du denn hier?«, sagte Katharina schlaftrunken. Dass ein Mädchen aus Ost-Berlin mitten in der Nacht in West-Berlin auftauchte, konnte sie im ersten Moment nicht begreifen. Es war eines dieser kleinen Wunder, die am 9. November und in den Tagen danach viele Deutsche in Berlin und anderswo erlebten.
Für mich begann eine Zeit, die noch hektischer war als die Wochen und Monate zuvor. Menschen tanzten auf der Mauer. Souvenir-»Spechte« klopften Stücke aus dem Beton. Der Westteil der Stadt war voller Ostdeutscher. Vor den Banken standen DDR-Bürger Schlange, um ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Und in Ost-Berlin, meinem eigentlichen Arbeitsplatz, jagte ein dienstlicher Termin den anderen. Turbulente Zeiten für Journalisten. Bald begann eine Diskussion darüber, wer sich welchen Anteil am Mauerfall zugute halten durfte. Waren es die Blätter eines großen Zeitungskonzerns, die in der Zeit des Kalten Krieges unbeirrt »Macht das Tor auf« gefordert hatten? Vielleicht. Waren es die bundesdeutschen Politiker und Beamten, die seit Beginn der neuen Ost- und Deutschlandpolitik Anfang der siebziger Jahre in mühsamen Verhandlungen mit der DDR die Härten der Teilung zu mildern versuchten? Schon eher. Waren es die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, die mit großem persönlichem Engagement gesamtdeutsches Bewusstsein unter DDR-Bürgern wachhielten und förderten? Ganz gewiss. Und dann gab es ja auch noch uns, die Korrespondenten und ihre Familien. Auch wir haben in unserem jeweiligen Freundes- und Bekanntenkreis dazu beigetragen, den Menschen Mut zu machen und selbstbewusst gegenüber der sozialistischen Obrigkeit aufzutreten.
Wenn man den 9. November 1989 nicht als Einzelereignis, sondern als Schlusspunkt eines längeren Prozesses versteht, dann haben viele dazu beigetragen: Bürgerrechtler und Oppositionelle, Demonstranten und Botschaftsflüchtlinge. Allesamt Menschen aus der DDR. Auch Ungarn, das den Eisernen Vorhang öffnete, und Michail Gorbatschow, der Reformer aus dem Moskauer Kreml. Und nicht zuletzt der Oberstleutnant von der Bornholmer Straße, der in einer brisanten Situation Mut und gesunden Menschenverstand bewiesen und das schwer bewachte Loch in der Mauer ohne ausdrückliche Weisung als Erster freigegeben hat.
Jedem Kopf, der politisch denken konnte, war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es mit der DDR zu Ende gehen würde. Jedenfalls mit der DDR als Staat unter kommunistischer Parteidiktatur. Auch wenn viele der Bürgerrechtler und SED-Gegner von einem eigenständigen, demokratischen deutschen Ost-Staat träumten – früher oder später würden die Deutschen wieder in einem Gemeinwesen ohne Grenze leben. Damit, so überlegte ich, liefe auch meine Zeit als Korrespondent auf einem auswärtigen Posten ab. Ich fing an, Bilanz zu ziehen. Elf Jahre in Ost-Berlin, unterbrochen von unserer Zeit in Bonn – das war für meine Frau und mich die aufregendste und spannendste Etappe unseres bisherigen Lebens, beruflich und privat. Voller Neugier und Enthusiasmus waren wir in dieses für uns weitgehend unbekannte Land gekommen. Offen und lernbegierig. Bereit, Mühsal in Kauf zu nehmen, und willens, menschliche Gräben einzuebnen statt sie aufzureißen. Mit unseren Freunden haben wir gehofft, dass es ihnen besser gehen möge. Materiell und geistig. Und wir haben mit ihnen gelitten, wenn ihre Erwartungen enttäuscht und Ansätze von Reformen und Freizügigkeit von der Funktionärsherrschaft erstickt wurden.
Als ich 1974 nach Ost-Berlin zog, begannen die zarten Pflanzen der Hoffnung gerade zu sprießen. Erich Honecker, erst seit 1971 im Spitzenamt der SED, erweckte den Eindruck, als wollte er die verkrustete Partei auf einen vorsichtigen Reformkurs führen und seine politischen Ziele vor allem am Wohl der Bürger und ihren Bedürfnissen ausrichten. Das Konsumangebot wurde verbessert, ein Wohnungsbauprogramm verabschiedet, ein Bündel sozialer Verbesserungen beschlossen. Künstlern und Intellektuellen versprach der Parteichef mehr Freiheit, vorausgesetzt, sie stellten den Sozialismus nicht in Frage. Wenige Jahre später war der kulturpolitische Frühling schon wieder vorbei. Als im Herbst 1976 zahlreiche Schriftsteller und andere Vertreter der Kulturszene gegen die Zwangsausbürgerung des rebellischen Sängers Wolf Biermann protestierten, griff die in einem starren Freund-Feind-Denken gefangene Parteiführung wieder nach den Instrumenten der Repression.
Vollbeschäftigung, stabile Preise, soziale Sicherheit – damit meinte die SED-Führung sich die Zustimmung des Volkes sichern zu können. Auf Dauer. Aber das war ein Irrtum. Denn die viel gepriesenen Wohltaten waren auf Pump finanziert. Die DDR lebte über ihre Verhältnisse. Schulden wurden mit neuen Schulden bezahlt, Industrie und Wirtschaft, belastet durch eine starre, zentrale Planung, auf Verschleiß gefahren. Mit Hilfe der Bundesrepublik wurde der langsame Niedergang verschleiert. Die DDR ließ sich Bonner Wünsche nach mehr Durchlässigkeit der Grenze und den Ausbau der Verbindungen zu West-Berlin teuer honorieren. »Geld gegen Menschlichkeit« wurde zur dauerhaften Geschäftsgrundlage der deutsch-deutschen Zusammenarbeit, egal ob in der Bundeshauptstadt Sozial- oder Christdemokraten regierten.
Um möglichst viel harte Währung in die Staatskasse zu bekommen, lockerte die DDR-Führung die Devisenbestimmungen und baute ihr Intershop-Netz aus. Läden, in denen West-Waren gegen West-Geld verkauft wurden. Die Folgen wirkten sich für Honecker und Genossen verheerend aus. Nicht mehr der reale Sozialismus, sondern der kapitalistische Westen setzte die Maßstäbe für den Lebensstandard der DDR-Bürger. Sich ideologisch von der insgeheim bewunderten Bundesrepublik abzugrenzen, wurde immer schwieriger. Wer sollte unter diesen Umständen der Parteipropaganda glauben, der Sozialismus werde siegen, wenn jeden Tag die Überlegenheit westlicher Erzeugnisse vor Augen geführt wurde?
Stur behaupteten die roten Staatslenker, die DDR habe sich kontinuierlich und gradlinig entwickelt. In Wirklichkeit gab es zahlreiche Wendemanöver und abrupte Kurswechsel. Erst ließ man die Zügel der Unterdrückung etwas lockerer, dann zog man sie wieder straff an. Mal versprach die SED mehr Rechtssicherheit, dann ließ sie der Willkür freien Lauf. Zeitweise führten sich die Spitzenfunktionäre als Friedensfürsten auf und trieben zugleich die Militarisierung der Schulen und der Gesellschaft voran. Widersprüche über Widersprüche, und ein Zick-Zack-Kurs gegenüber dem eigenen Volk wie gegenüber der Bundesrepublik. Je länger die Ära Honecker währte, desto stärker zeigten sich die Spuren des Obrigkeitsstaates, der seine Bürger entmündigte. Staatsverdrossenheit und Verantwortungsscheu, Arbeitsschlamperei und politische Apathie breiteten sich rasant aus. »Privat geht vor Katastrophe«, lautete der Volksspruch. Selbst viele SED-Mitglieder verfielen der Resignation. »Die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben«, sagten sie mit bitterer Ironie, wenn sie wieder einmal eine Entscheidung von oben nicht verstanden hatten.
Ihre letzte Chance, den Untergang aufzuhalten, vergaben die Herrscher im Zentralkomitee und im Politbüro, als sie sich gegen die Moskauer Reformpolitik stellten. Eigensüchtig, halsstarrig und realitätsblind. Seit seiner Gründung lebte der SED-Staat vom Wohlwollen und vom Schutz der Sowjetunion. Ohne den Rückhalt aus Moskau war die DDR nicht lebensfähig. Als Honecker dann auch noch den Massen von Flüchtlingen, die über Ungarn der DDR den Rücken kehrten, den zynischen Satz nachrief, niemand weine ihnen eine Träne nach, verloren auch treue Anhänger den Glauben an die Führungskunst