Название | Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR |
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Автор произведения | Peter Pragal |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711449400 |
Paul H. war ein waschechter Berliner. Ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, der viel von preußischen Tugenden hielt. Mitte fünfzig, von untersetzter Statur, die Haare sorgfältig gescheitelt. Der blaue Arbeitsanzug, den er trug, wirkte wie frisch gebügelt. Ohne »Paule« hätten wir uns am Anfang schwer getan. Er gab uns Hinweise, wo wir gut essen konnten. Er besorgte uns einen Kumpel, der die Waschmaschine anschloss. Und er sagte uns, wo es einen Privatbäcker gab, dessen Schrippen besser schmeckten als die Fabrikware aus der Kaufhalle. Während sein Hausmeister-Kollege im Ruf stand, für die »Firma Horch und Guck« die Augen offen zu halten, hatte »Paule« mit seiner sozialistischen Obrigkeit wenig im Sinn.
Ich merkte es an seinen Reaktionen zum Thema Fußball. Im Sommer 1974 war Weltmeisterschaft. »Paule« drückte der westdeutschen Mannschaft die Daumen. Als sie in Hamburg vom DDR-Kollektiv eins zu null geschlagen wurde, brach für ihn eine Welt zusammen. Diesen Triumph hat er dem Regime nicht gegönnt. Als er am Tag nach dem Sparwasser-Tor, wie jeden Morgen, im Hausflur stand, hatte er ein trauriges Gesicht. Wortlos ließ er mich passieren. Diese Schmach wollte er nicht kommentieren. In den nächsten Tagen ging es ihm besser. Mit jedem Sieg der Westdeutschen hellte sich seine Miene auf. Erst hat er mir anerkennend zugenickt, dann die Hand zur Gratulation entgegengestreckt. Und schließlich, als Beckenbauer, Müller und Co. den Titel gewonnen hatten, schlug er mir mit seiner Arbeiterhand auf die Schulter. »Na also«, sagte er, sichtlich stolz darauf, dass »die Jungs« seine Erwartungen doch noch erfüllt hatten.
Einige Monate vor meinem Arbeitsbeginn am 1. März 1974 hatte ich im Außenministerium darum gebeten, mich bei der Suche nach einem Büroraum im Stadtzentrum zu unterstützen. Ein geeignetes Mietobjekt zu finden, sei schwierig, bekam ich zur Antwort. Die DDR erlebte zu dieser Zeit eine diplomatische Anerkennungswelle. Immer mehr westliche Staaten nahmen offizielle Beziehungen zum zweiten deutschen Staat auf und benötigten für ihre Missionen Räume. Und die waren knapp. Ich musste also warten und vorübergehend in der Wohnung arbeiten. Das war für ein harmonisches Familienleben nicht gerade förderlich. Die Wohnung war extrem hellhörig. Auch durch geschlossene Türen drang jeder Laut. Wenn die Kinder lärmten, wurden sie ermahnt: »Seid ruhig, Papa muss schreiben.«
Ohne Telefon ist ein Journalist hilflos. Ich hatte frühzeitig einen Anschluss beantragt, aber als wir einzogen, war kein Apparat da. Wie sollte ich meine Texte, die ich damals auf der mechanischen Maschine schrieb, nach München übermitteln? Ich fuhr nach West-Berlin. Mal ins Büro der Süddeutschen Zeitung, mal in ein Postamt, das gleich hinter dem Grenzübergang lag. Von dort aus habe ich meine Artikel der Nachrichtenaufnahme der Zeitung aufs Band gesprochen. Eine Sekretärin hat dann den Text abgeschrieben. So ging das etliche Wochen. Eine Praxis, die viel Zeit kostete. Und eine Mühsal, die man sich im Zeitalter von Handy und E-Mails kaum noch vorstellen kann.
Nach einem Vierteljahr wurde endlich ein Telefon in unserer Wohnung installiert. Ein graues Gehäuse mit einer Wählscheibe. Unsere Freude war nur kurz. Oft gab es kein Amtszeichen. Das lag daran, dass ein anderer Teilnehmer sprach. Die DDR-Post hatte uns fürs Erste einen sogenannten Doppelanschluss zugeteilt. Wenn es stark regnete, tat sich auch nichts. Und als ein Bagger das provisorische Kabel zerriss, war die Leitung für längere Zeit tot. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als wieder zum Telefonieren nach West-Berlin zu fahren.
Im Lauf der Zeit besserte sich die Lage. Aus dem Doppel- wurde ein Einzelanschluss. Ortsgespräche kamen in der Regel problemlos zustande. Nach West-Berlin gab es eine Durchwahlnummer. Doch die war meistens besetzt. Man konnte sich die Finger wund wählen, bis man endlich »durch war«. Gespräche in die Bundesrepublik mussten beim Fernamt angemeldet werden. Das dauerte. Als die DDR ihre Ständige Vertretung in Bonn einrichtete, waren Gespräche dorthin im Selbstwählverkehr möglich. Aus der Bundesrepublik konnte man sich direkt ins Ost-Berliner Netz einwählen. Das nutzte vor allem meine in Nordrhein-Westfalen wohnende Schwiegermutter, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen. Für sie war die DDR unverändert »die Zone«. Auch meine Frau nahm bei den Gesprächen mit ihr kein Blatt vor den Mund. Sie wusste oder ahnte zwar, dass die Stasi mithört. Aber das kümmerte sie nicht. Sie schimpfte auf alles, was ihr an diesem autoritären Staat missfiel. Die Gängelung der Menschen, die Sonderrechte für die Bonzen und die Unzulänglichkeiten des täglichen Lebens. Als sie einmal sagte: »So ähnlich muss es bei den Nazis gewesen sein«, wurde das Gespräch unterbrochen. So als hätte jemand bewusst die Leitung gekappt. Das passierte immer wieder. SED-Kommunisten konnte man mit nichts mehr provozieren, als ihr Regime mit der NS-Diktatur zu vergleichen.
Im Haus mit seinen 18 Etagen gab es zwei Fahrstühle. Hergestellt in einem Volkseigenen Betrieb. Die wurden von den vielen Mietern und ihren Gästen stark beansprucht. Zeitweise versagten sie den Dienst. Wenn man Pech hatte, blieb der Aufzug zwischen zwei Stockwerken stecken. Tagsüber war das nicht schlimm. Ein Hausmeister war immer in der Nähe. Am späten Abend oder in der Nacht musste man Geduld haben, bis man aus der engen Kabine befreit wurde. Als die Fahrstühle mal wieder nicht fuhren und meine Frau nicht wusste, wie sie den Kinderwagen ins Erdgeschoss bringen sollte, war es mit ihrer Geduld zu Ende. Bei ihr hatte sich viel Unmut gestaut: Weil der Strom ausfiel und sie die Kindermahlzeit auf einem Spirituskocher warm machen musste. Weil ein offener Kabelschacht direkt vor dem Hauseingang verlief, den man nur auf einer schmalen Bohle überqueren konnte. Erst im Herbst, als am 7. Oktober der 25. Jahrestag der DDR-Gründung mit großem Propaganda-Aufwand gefeiert wurde, waren die Mängel rund ums Haus behoben. Die Machthaber waren um ihr Prestige besorgt.
Meine Frau packte also unsere Kinder ins Auto und fuhr zum staatlichen Dienstleistungsamt. Sie war es gewohnt, ungelöste Probleme selbst anzugehen und nicht zu warten, bis ihr Mann dafür Zeit hat. Bei der Pförtnerloge verlangte sie nach dem Leiter, um sich zu beschweren. Das war etwas blauäugig. Sie wurde weder zum Chef vorgelassen noch zu einem anderen Mitarbeiter. Stattdessen erschien eine Sekretärin und teilte ihr förmlich mit: »Frau Pragal, Sie sind für uns kein Gesprächspartner. Der Funktionsträger ist Ihr Mann.« Meine Frau war sprachlos. Eine solche Auskunft hatte sie nicht erwartet. Schon gar nicht in einem Staat, der sich mit der Emanzipation der Frauen brüstete. Wütend fuhr sie zur Ständigen Bonner Vertretung, um dort ihren Frust abzuladen. Deren Leiter Günter Gaus nahm sich tatsächlich Zeit für sie. Er hörte sich ihre Beschwerden geduldig an. Aber er war wohl der falsche Adressat. Auf das hierarchische Gehabe in realsozialistischen Behörden hatte die Ständige Vertretung keinen Einfluss. Für mich hat das Erlebnis im Dienstleistungsamt nachhaltige Folgen. Immer wenn ich mich vor einer unangenehmen häuslichen Aufgabe drücken will, sagt meine Frau süffisant: »Funktionsträger, mach du das mal.«
Erkundung des Alltags
Am Morgen nach unserer ersten Nacht im neuen Heim wollte ich frische Brötchen zum Frühstück besorgen. Der Hausmeister hatte mir einen Tipp gegeben. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich ging die Jacques Duclos- (heute Möllendorff-)Straße Richtung Lichtenberger Rathaus, vorbei an der kleinen Pfarrkirche, und entdeckte auf der rechten Straßenseite einen Bäckerladen. Er war eines von den Geschäften, die privat geführt wurden. Der Geruch aus der Backstube steigerte meinen Appetit. Ich verlangte vier Schrippen, die kosteten zusammen 20 Pfennige Ost. Die Verkäuferin legte mir die Brötchen auf die Ladentheke. Ich schaute sie verdutzt an. In München bekam ich die Semmeln in einer Tüte. Die gab es hier nicht. Eine Tasche hatte ich nicht mitgenommen. Wohin mit den Brötchen? Schließlich steckte ich sie in meine Jackentasche. Es war meine erste Lektion über den Alltag in Ost-Berlin. Fortan ging ich – wie es DDR-Bürger zu tun pflegten – nicht mehr ohne Netz oder Beutel aus dem Haus.
Wir haben schnell begriffen, dass das Leben östlich der Mauer nach anderen Regeln verlief, als wir im Westen gewohnt waren. Und auch nach einem anderen Rhythmus. Ost-Berliner waren notorische Frühaufsteher. Nicht aus Lust oder Leidenschaft. Der Arbeitsprozess zwang sie dazu. Männer ebenso wie Frauen, die – anders als in der Bundesrepublik – in der DDR zu über 90 Prozent einer bezahlten Beschäftigung nachgingen.
Schon um 4.30 Uhr morgens gingen die ersten Lichter in den Wohnungen an. Ab fünf Uhr drängelten sich vor den Straßenbahnhaltestellen Werktätige auf dem Weg zur Frühschicht. Sicher, auch in Fabriken und auf Baustellen in Westdeutschland