Factory Town. Jon Bassoff

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Название Factory Town
Автор произведения Jon Bassoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392239



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ich glaube …

      Wo? Wann? Das ist sehr wichtig für mich, verstehst du? Jede Information, die ich von dir kriege, hilft mir weiter. Und wenn’s nur ganz wenig ist. Ich hab zwar ein paar Hinweise, aber …

      Es war Räuber und Gendarm. Genau, das war’s. Sie war die Neue. Sie wollte eine Prinzessin sein. Aber dann hätten wir nicht spielen können. Die Neuen müssen immer die Räuber sein. Das ist die Regel. Wir haben’s ihr dauernd gesagt. Sie hätte auf uns hören sollen. Wir sind schon länger hier. Wir haben uns das aufgebaut.

      Ich drängte ihn weiterzusprechen, aber er konnte oder wollte nicht mehr sagen.

      Tu mir bitte einen Gefallen, sagte ich. Wenn du sie wiedersiehst, sag ihr, dass ich nach ihr suche. Ich heiße Russell Carver. Sie kennt meinen Namen.

      Er nickte, aber sein Blick war jetzt leer, sein Mund stand offen.

      Na gut, ich glaube, ich muss los. Es gibt noch ein paar Hinweise, denen ich nachgehen will …

      Inzwischen war der Junge in seiner eigenen Welt. Er stierte vor sich hin, dann erhob er sich langsam von seinem Sitz und ging in den hinteren Teil des Saals. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Schild. Er ging noch ein paar Schritte, dann begann er, wild mit dem Schwert herumzufuchteln. Offenbar war er mit einem der Bösen, von denen er gesprochen hatte, in einen Kampf verwickelt …

      Dieser Böse hieß Dr. Devil und gehörte dem Führungszirkel der Roten Allianz an. Er war brutal und ein Bär von einem Mann mit kräftigen, tätowierten Armen, ledriger Haut, üblen Narben im Gesicht, und aus seinem Schädel wuchsen rote Hörner. Er war durch und durch böse – wer könnte je vergessen, auf welch grausame Art er den Leopardenmann umgebracht oder wie er der Blauen Patrone das schlagende Herz aus der Brust gerissen hatte? Nichts wäre ihm lieber, als auch den Annullator in die Liste seiner Opfer einzutragen.

      Jetzt ging er mit wildem, ungezügeltem Hass auf unseren Helden los und bombardierte ihn mit Speeren, Dolchen und Feuerkugeln. Aber der Annullator war zu flink für ihn. Mit großer Gewandtheit wich er den Wurfgeschossen aus, schlug Rad und machte Handstandüberschläge, um der Gefahr auszuweichen. Im Hintergrund lief dramatische Orchestermusik. Und dann stürzte sich der Annullator mit der Kraft von einer Million Männern auf Dr. Devil, hämmerte ihm die Faust gegen das Kinn, und der Böse knallte auf den Betonboden. Ohne zu zögern, zog der Annullator, Beschützer von Factory Town, sein Schwert (ein Geschenk von Sir Lancelot höchstpersönlich), drückte dem Feind die Schwertspitze gegen die Kehle und sagte leise, beinahe flüsternd: Zeit zu sterben, Ausgeburt der Hölle.

      Aber Dr. Devil lachte nur. Sterben?, sagte er. Dazu hast du doch nicht den Mumm. Verdammt, du konntest nicht mal deine eigene Mutter beschützen. Deine eigene Mutter! Ja, genau, ich war bei euch zu Hause, als sie geschlagen und getreten und gequält und verstümmelt wurde, bis sie nur noch ein Klumpen blutiges Fleisch war. Und du bist bloß danebengestanden und hast geglotzt und dir in die Hose gepisst! Ich war bei euch zu Hause, als sie aufgehört hat zu essen, gehungert hat, bis sie nur noch Haut und Knochen war und gestorben ist. Du bist ein verdammter Feigling, hörst du? Du warst zu feig, dich mit deinem Vater anzulegen, und jetzt bist zu feig, Dr. Devil fertigzumachen.

      Aber da lag Dr. Devil falsch.

      In einem Ausbruch wilden Zorns rammte der Annullator dem Monster das Schwert in den Hals, ließ es für einen langen Augenblick stecken und riss es dann heraus. Leidenschaftslos sah er zu, wie das Leben aus Dr. Devil herausspritzte. Noch hatte Dr. Devil die Kraft, sich an den Hals zu fassen und die Wunde zuzudrücken, aber es war vergeblich. Nach einer Weile zuckte er heftig, die geschwollene Zunge fiel ihm aus dem Mund, und er lag still da, während seine Seele in die Feuerschlünde gesaugt wurde.

      Der Annullator hob sein blutrotes Schwert und schob es zurück in die Scheide. Er wischte sich die Stirn ab und blickte zum Himmel. Lieber Gott, er hat es nicht anders gewollt.

      Von dem Schauspiel schockiert, ging ich langsam an dem Jungen vorbei zum Treppenhaus. Er hat mein Gehen gar nicht bemerkt, und wenn doch, sagte er nichts.

       3. Kapitel

      Ich lief so hastig die Treppe hinauf, dass ich vor Anstrengung außer Atem geriet. Durchs Treppenhaus hallten die merkwürdigsten Geräusche: eine Arien singende Frauenstimme, die Lachkonserve einer Fernsehserie, eine klappernde Schreibmaschine. Zu guter Letzt kam ich an eine Tür, die ich aufstieß, aber sobald ich in den Gang getreten war, merkte ich, dass ich auf einer anderen Etage war. Mit dem vertrauten Gefühl von Angst ging ich ziellos durch den dunklen Gang. Auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Gebäude geriet ich in immer neue Sackgassen und an falsche Türen, und ich wurde immer niedergeschlagener. Mehr als einmal kam ich sogar an eine Tür, die sich öffnen ließ, aber nur um jedes Mal vor einem Vorratsraum oder einer Haustechnikkammer zu stehen.

      Auf diese Weise verging viel Zeit, bis ich zu meiner großen Erleichterung den unverkennbaren Schimmer von Licht mit den gespenstergleich aufstiebenden Staubpartikeln sah. Ich drückte die schwere Stahltür auf und trat ins Freie.

      Ich atmete auf. Als ich mich umsah, begriff ich, dass ich wieder in der Stadtmitte war, doch jetzt sah alles irgendwie anders aus. Wieder fühlte ich mich wie ein Fremder.

      Von außen ähnelte das Gebäude, aus dem ich gekommen war, jetzt einem aufgegebenen Krankenhaus. Drei Stockwerke, grauer Backstein, an jedem Giebelende ein hoher Schornstein. Vom Hauptgebäude gingen Flügel ab, die von absterbendem Efeu überwuchert waren. Viele Fensterscheiben waren zerbrochen, alle vergittert. Hinter dem Komplex erhob sich die Fabrik, ein turmhoher Koloss aus verzogenem Stahl, Laufgittern, gebogenen Rohren und Schloten.

      Lange stand ich einfach da und starrte wie gebannt auf die Fabrik. Allem Anschein nach war sie verlassen, aufgegeben, doch dann bemerkte ich im trüben Licht der Mondsichel und der wenigen Sterne dünne Rauchfahnen, die aus den Schloten aufstiegen. Innerlich erschauerte ich, und im nächsten Moment wusste ich, dass mich diese Kälte nie wieder verlassen würde. Je länger ich die Fabrik anstarrte, desto klarer wurde mir, dass darin etwas geschah. Etwas Schreckliches geschah. Alle Geheimnisse der Welt waren hinter diesen Fabrikmauern verborgen, und ich, ich musste herausfinden, was …

      Es war spätnachts oder frühmorgens, und ich war hungrig und müde. Ich ging über Straßen voll Schlaglöchern und Gehwege, die übersät waren mit Glasscherben, ausländischen Zeitungen, toten Vögeln und abgetragenen Schuhen. Mein Blick blieb stets auf die Fabrik gerichtet, aber egal wie lange ich ging, immer schien sie außer Reichweite zu bleiben, in weiter Ferne zu liegen.

      Ich lenkte meine Gedanken auf mich und dachte an meine Aufgabe, die Suche nach dem Mädchen. Sofort befiel mich die Sorge, man könnte sie in ein Abraumbecken geworfen oder, noch schlimmer, unter Beton begraben haben. In meinen Ängsten gefangen, ging ich gefühlt immer im Kreis durch die Stadt, doch als ich aufsah, war die Fabrik aus meinem Blick verschwunden. Nicht einmal das Stadtzentrum war noch zu sehen. Ich riss mich zusammen und stellte fest, dass ich in einem alten, verkommenen Wohnviertel angelangt war. Es wehte ein kalter Wind, in dem ein paar sterbenskranke Schwarzpappeln träge schwankten. Ich sah eine Reihe dunkler einstöckiger Ranchhäuser mit Vorgärten, die aus nichts als Dreck und Unkraut bestanden. Irgendwo kämpften Katzen auf Leben und Tod. Eine Blechbüchse kollerte über den Gehweg. Sie blieb kurz vor meinen Füßen liegen, dann rollte sie weiter.

      Ich hatte mich verlaufen. Ich überlegte, ob ich zu einem Haus gehen und anklopfen sollte, aber ich hatte zu viel Angst, dass jemand die Tür öffnete, der mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet war, während ich nichts hatte.

      Plötzlich hörte ich leise Musik. Zuerst hielt ich es für Einbildung, doch als ich weiterging, wurde die Musik lauter, klarer. Es klang wie Doo Wop aus den Fünfzigern, untermalt von Gelächter.

      Ich ging schneller. Immer der Musik nach lief ich über einen Rasen, auf dem Bierdosen und Werkzeuge herumlagen. In der Dunkelheit begann ein Pitbull zu bellen und zu knurren. Er stürzte immer wieder auf mich zu und hätte mich am liebsten zerfleischt, aber weil er an einen Pfahl gekettet war, konnte er nichts weiter tun, als sich fast zu erdrosseln. Ich sprang über den Zaun und lief über ein gefrorenes Feld und einen kleinen Graben