Factory Town. Jon Bassoff

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Название Factory Town
Автор произведения Jon Bassoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392239



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       2. Kapitel

      Weil mich niemand zu bemerken schien und niemand etwas sagte, zog ich die Tür auf und begann, auf einer langen Treppe in die Tiefe hinabzusteigen. Alles war dunkel, und die Stufen liefen hin und her, hin und her, immer weiter unter die Erde. Von den Betonmauern hallten das Fiepen von Ratten und das Knirschen meiner Sohlen wider. Ich hielt die Flamme eines billigen Plastikfeuerzeugs vor mich, aber der eisige Luftzug blies sie immer wieder aus. Vorsichtig trat ich auf die bröckeligen Stufen und hielt mich vorsichtshalber an dem Metallgeländer fest, das aber nach einer Weile im Nichts endete. Als mir das Feuerzeug runterfiel, glich ich einem Blinden, der mit jedem Schritt von einer Betonklippe stürzen konnte.

      Beklommen setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg langsam tiefer in den Schacht. Stundenlang ging ich so dahin, meinte ich, war mir jedoch nicht sicher, doch als ich endgültig von Angst und Verzweiflung befallen war, sah ich ein Stückchen vor mir Licht glimmen.

      Ich beschleunigte meine Schritte, und kurz darauf war die Treppe zu Ende, und ich stand vor einer morschen, schief in ihren Angeln hängenden Holztür. Ich trat dagegen, und die Tür flog krachend auf. Sie führte in einen Gang, dessen Wände erneut mit wilden Graffiti bedeckt waren und dessen Boden mit Sägespänen, Glasscherben, toten Nagern und Patronenhülsen übersät war. Das Atmen fiel mir schwer, die Luft war muffig, faulig.

      Ein Stück weiter mündete der Gang in einen großen Raum, der von einer Reihe Taschenlampen erhellt wurde, die angeschaltet an mehreren Stellen auf dem Boden platziert waren. Die Wände waren verputzt, doch blätterte der Putz großflächig ab und legte die Ziegel frei. In der Raummitte standen fünfundzwanzig bis dreißig Reihen zersplitterter Holzstühle. Der Gang zwischen den Sitzreihen war mit rotem Teppich belegt. Die Kuppeldecke war aufwendig mit Mosaiken verziert, die zwar ausgebleicht, aber noch zu erkennen waren. Am Ende des Raums befand sich ein halb eingestürzter Balkon, der von fünf bis zum Boden reichenden Metallrohren gestützt wurde. Der Raum musste einmal ein Theater oder Kinosaal gewesen sein, aber jetzt gab es weder Bühne noch Leinwand, nur Schutt und Dreck.

      Verwirrt und orientierungslos stand ich lange Zeit einfach da. Dann tat ich ein paar Schritte nach vorne. Sobald ich mich vom ersten Schock dieses Anblicks erholt hatte, erkannte ich in dem Verfall eine gewisse Schönheit. Ich atmete langsamer, tiefer, entspannte mich.

      Ich ging weiter bis zu den Sitzreihen und nahm Platz. Während ich einfach vor mich hin starrte, zogen die Geister vergangener Tage vor meinem Gesicht vorbei. Sie lächelten fröhlich, nicht traurig. Ich schloss die Augen. Und bald nickte ich ein …

      Es war ein traumloser Schlaf. Vielleicht schlief ich auch gar nicht. Ich spürte, wie mir jemand auf die Schulter tippte. Dann hörte ich eine seltsam vertraute Stimme. Was tun Sie hier, Mister? Wie haben Sie das hier überhaupt gefunden?

      Ich drehte mich um und sah einen Jungen, höchstens acht oder neun Jahre alt. Er war als Superheld verkleidet, mit enger schwarzer Hose, rotem Oberteil, gelbem Cape. Auf dem Cape ein großes rotes A aus Klebeband, das sich stellenweise löste. Über dem Gesicht trug er eine schwarze Maske, ein billiges schwarzes Plastikding, das mit einem Gummiband an seinem Kopf befestigt war.

      Ich … ich hab dich im Gang gesehen. Da bin ich neugierig geworden und bin dir gefolgt.

      Das hätten Sie nicht tun dürfen. Ich hätte Sie töten können. Warum haben Sie das überhaupt getan?

      Weil … weil ich mit dir reden wollte.

      Dann arbeiten Sie nicht für den Cowboy?

      Cowboy? Wer ist denn der Cowboy?

      Sie dürfen keinem was von dem Versteck hier sagen, sagte er. Sonst wäre alles kaputt. Unser ganzer Plan.

      Nein. Natürlich nicht.

      Ohne Anzeichen von Angst setzte sich der Junge auf den Sitz neben mir. Er hatte pechschwarze Haare und einen traurigen Mund. Eins seiner Augen zuckte von Zeit zu Zeit.

      Bestimmt bist du der Annullator, sagte ich.

      Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: Ja.

      Gibt’s in der Stadt hier viele schlechte Menschen?

      Er nickte.

      Aber es gibt auch ein paar gute, oder? Diejenigen, die du beschützt.

      Er überlegte kurz. Ein paar schon, sagte er. Aber nicht viele. Jedenfalls mehr schlechte als gute.

      Ja, sagte ich. Das scheint überall auf der Welt so zu sein.

      Wir saßen lange nebeneinander. Für mich war es sehr seltsam, in einem alten, verfallenden Theater inmitten eines alten, verfallenden Gebäudekomplexes mit dem Annullator zu sprechen. Er war der erste Superheld, dem ich begegnet war.

      Wie sieht’s mit Waffen aus?, fragte ich. Hast du welche? Ich meine, du musst doch bestimmt gegen die Bösen kämpfen.

      Er nickte. Ja, klar hab ich welche. Ich hab sogar viele Waffen.

      Sofort ging er ein paar Sitzreihen nach hinten, griff unter einen Sitz und zog einen Pappkarton hervor, der mit seinem Erkennungs-A verziert war. Darin waren Schilde, Schwerter, Pistolen und Dolche, alle aus Plastik. Ich nickte. Du bist gut ausgerüstet. Jetzt verstehe ich, warum du der Beschützer bist.

      Die Waffen sind schon okay, sagte er, aber ich hätte gern eine richtige Pistole und ein richtiges Schwert. Damit würde ich mich sicherer fühlen.

      Was ist mit deinen Eltern? Wo sind sie? Wissen sie, dass du hier unten bist? So ein richtig guter Spielplatz ist das hier ja nicht, oder? Schau nur. Überall liegen Glasscherben. Tote Tiere. Patronenhülsen.

      Der Junge schüttelte den Kopf. Hier verstecken wir uns nur. Es gibt nämlich nicht nur mich. Wir sind mindestens hundert. Hier unten haben wir unsere eigene kleine Welt. Das ist super. Hier können wir spielen. Murmeln. Räuber und Gendarm. Cowboy und Indianer. Und kein Erwachsener weiß, was wir tun. Das ist unsere eigene kleine Welt, verstehen Sie?

      Hundert Kinder, sagst du? Aber wo sind die alle hin? Außer dir seh ich niemand.

      Lächelnd schüttelte er den Kopf. Ach, hier gibt’s ganz viele Verstecke.

      Wirklich? Warum verstecken sie sich denn?

      Er schwieg längere Zeit. Weil sie Angst vor Ihnen haben.

      Angst vor mir? Aber dafür gibt’s doch keinen Grund. Ich bin ja grad erst gekommen. Ich bin fremd hier. Die kennen mich gar nicht.

      Klar haben sie Angst vor Ihnen. Wieso auch nicht? Wieso sollten sie keine Angst vor Ihnen haben? Sie machen schreckliche Sachen. Sie sind genau wie mein Vater. Sie sehen sogar aus wie er. Sie haben denselben Blick. Mein Vater ist schrecklich. Das sagt jeder. Wissen Sie, was mein Vater gemacht hat?

      Ich bin fremd hier, sagte ich. Du kennst mich gar nicht. Und die anderen Kinder kennen mich auch nicht.

      Er hat mich an die Heizung gekettet. Weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nur weil ich ihm auf die Nerven gegangen bin. Nichts als eine Schüssel Wasser hat er mir hingestellt, wie einem Hund. Die anderen Kinder sagen alle, dass das gemein war. Aber noch schlimmer war, was er mit meiner Mutter gemacht hat. Mir hat er wenigstens Murmeln geschenkt. Das war nett. Andere Väter tun nicht mal das.

      Im selben Moment bemerkte er das zerknitterte Foto in meiner Hand. Was haben Sie da, Mister? Von wem ist das Foto?

      Ich öffnete die Faust und reichte dem Jungen das Bild. Er betrachtete es aufmerksam.

      Sie heißt Alana, sagte ich. Sie ist schon vor Jahren verschwunden. Das Bild zeigt, wie sie heute aussehen könnte. Es hat nicht viele Hinweise gegeben. Die Polizei hat die Suche mehr oder weniger eingestellt. Eine Schande ist das. Aber es gibt einfach immer mehr Verbrechen auf der Welt. Jetzt muss ich sie suchen. Schon seit mehr als sechs Jahren such ich nach ihr. Laut meinen Quellen ist sie hier in Factory Town.

      Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, sagte der Junge. Ich glaube, ich hab schon mal mit ihr gespielt.

      Ich ging in die Knie, sodass ich mit dem Jungen auf Augenhöhe war. Erzähl mir davon.