Factory Town. Jon Bassoff

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Название Factory Town
Автор произведения Jon Bassoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392239



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er kaum mehr als fünfzig Kilo wiegen. Gierig nagte er an einem Stück Fleisch, die wertvolle Nahrung mit seinen Armen schützend. Als der Pfarrer ihn ansprach, grunzte er nur kurz.

      Die Karten spielenden Herren sahen sich wissend an. Dann schob der Sheriff seinen Hut nach hinten und sagte: Sind Sie Esteban schon begegnet, Mr. Carver? Einer der Besten aus Factory Town.

      Nein, Sir, sagte ich.

      Komm mal her, Esteban, sagte der Sheriff. Ich will dich Russell Carver vorstellen.

      Der Bettler reagierte nicht und riss weiter mit den Zähnen an seinem Fleisch. Der Sheriff schob den Stetson noch weiter nach hinten und zog seinen Smith & Wesson. Er spannte den Hahn und richtete die Waffe auf Esteban. Komm her, Alter, sonst verteil ich dein verdammtes Hirn über diese roten Ziegel.

      Der zerlumpte alte Mann überlegte kurz, ehe er sich auf die Beine mühte. Das Stück Fleisch in den Armen wiegend, versuchte er das Gleichgewicht zu halten und ging langsam zum Tisch. Der Sheriff zog einen Stuhl heran, und der Bettler setzte sich.

      Esteban schaukelte vor und zurück und brabbelte unsinniges Zeug. Der Doktor klopfte ihm auf die Hand, sah aber mich an. So eine Tragödie, sagte er. Sich in diesen Zeiten Lepra einzufangen. Wir haben ihn mit Quecksilber und Schlangenfleisch behandelt, aber vergebens.

      Ist er ansteckend?, fragte ich.

      Wir sind alle ansteckend, sagte der Doktor.

      Der Sheriff warf seine Karten auf den Tisch und deutete mit dem Kopf auf den Leprakranken. Jetzt schau dir dieses Stück Dreck an, sagte er. Mampft fröhlich vor sich hin, ohne an unseren Gast zu denken. Sie haben doch Hunger, Mr. Carver?

      Ja, sagte ich. Seit ich hier bin, habe ich keinen Bissen gegessen.

      Es ist schwer, hier an Essen zu kommen, sagte der Pfarrer. Keine Landwirtschaft. Keine Viehhaltung. In Factory Town wird eine Dose Bohnen in Gold aufgewogen.

      Hast du das gehört? Der Sheriff packte den Leprösen an der Schulter und grub ihm die Finger so fest ins Fleisch, dass der vor Schmerz aufschrie. Unser Gast hat Hunger. Wie wär’s, wenn du ihm was abgibst?

      Esteban wand sich unter dem Griff des Gesetzeshüters. Das ist meins, sagte er. Mein Essen.

      Er hat Hunger, sagte der Sheriff. Außerdem isst er dir ja nicht das ganze Essen weg, also entspann dich. Nur ein paar Bissen.

      Kopfschüttelnd starrte ich das blutige Stück Fleisch an. Ich halt’s schon noch aus, sagte ich. Ich will keinem was wegnehmen.

      Der Sheriff funkelte mich böse an und schnauzte: Sie essen jetzt was. Verdammt noch mal, Sie essen jetzt.

      Und dann lag im Handumdrehen ein Stück blutiges Fleisch auf einem Blechteller. Dabei hatte der Pfarrer gesagt, es gäbe in der Stadt keine Viehhaltung.

      Sie essen jetzt, sagte der Sheriff wieder. Scheiße, bis zum letzten Bissen werden Sie diese Delikatesse aufessen.

      Dann ging alles ganz schnell. Ehe ich reagieren konnte, packten mich der Pfarrer und der Doktor und zerrten mir die Arme auf den Rücken, während der Sheriff einen Fetzen Fleisch abriss und mir in den Mund stopfen wollte. Aber wie ein widerborstiges Kleinkind presste ich die Lippen aufeinander und trat um mich. Obwohl mich zwei Mann festhielten, konnte ich mich losreißen und wollte mich gerade vom Stuhl erheben, als mein alter Freund Charlie eingriff. Mit vereinten Kräften warfen er, der Pfarrer und der Doktor mich auf den Boden und fixierten mich. Der Sheriff trat dazu, spannte den Hahn seines Revolvers und zielte auf meine Stirn. Da gab ich den Widerstand auf.

      Unterdessen war der Bettler außer sich darüber, dass sein Essen gestohlen worden war. Er sprang herum und warf die leprösen Arme in die Luft. Dazu schrie und stöhnte er.

      Der Sheriff, der verdammte Schweinehund, ging in die Hocke und befahl mir, den Mund aufzumachen. Kurz sah ich ihn an, aber er hielt die Waffe weiter auf mich gerichtet, sodass ich den Mund öffnete, um mir das blutige Fleisch hineinstopfen zu lassen. Sehen Sie’s als Initiation, sagte er.

      Ich kaute langsam und verächtlich, während die Männer mit einem grotesken Lächeln auf mich herabsahen. Esteban weinte. Das Fleisch schmeckte grauenhaft – wahrscheinlich war es bereits verdorben –, aber am Ende gelang es mir, es ohne Würgen zu schlucken. Als ich es geschafft hatte, half mir Charlie auf die Beine und rieb mir die Schulter. Sie alle lachten, als wäre das Ganze ein einziger Riesenscherz.

      Habt ihr sein Gesicht gesehen?, sagte der Doktor. Unbezahlbar.

      Eigentlich hat er’s besser gemacht als die meisten, sagte der Sheriff. Das muss man ihm lassen.

      Ich hab doch gesagt, dass er ein guter Typ ist, sagte Charlie. Einer vom alten Schlag.

      Gut, der Mann, pflichtete der Pfarrer bei.

      Allerdings stand mir der Zorn wohl ins Gesicht geschrieben, denn Charlie sah mich an und sagte: Komm schon, Russell, ist doch nichts dabei. Diesen kleinen Scherz machen wir bei allen Fremden. Das bisschen Fleisch schadet dir nicht, keine Sorge. Ist ja nur Straußenfleisch. Das ist doch keine große Sache, also hab dich nicht so.

      Während Charlie dahinfaselte, fiel mir Alana wieder ein. Der Gedanke schnürte mir den Hals zu. Ich spielte Karten und aß Straußenfleisch, während das kleine Mädchen in Lebensgefahr war (wenn nicht schon tot). Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Alles war falsch. Ich griff in meine Hosentasche und zog das Foto heraus, um es wie ein Kruzifix zu reiben.

      Was haben Sie denn, Russell?, sagte der Doktor. Sie sehen aus, als ginge es Ihnen nicht gut.

      Das Bild eines Mädchens, sagte ich. Alana heißt sie. Sie ist verschwunden. Und in Gefahr.

      Na klar, sagte der Sheriff. Wir alle kennen sie, die kleine Alana. Selbstverständlich. Meine Leute untersuchen zur Stunde ihr Verschwinden. Machen Sie sich keine Sorgen. Die finden wir schon, verlassen Sie sich drauf …

      In genau diesem Moment hörte ich auf dem Gang Schreie. Die Männer sahen sich an, unternahmen jedoch nichts, als die Augenbrauen hochzuziehen und den Kopf zu schütteln. Das Kreischen ging weiter.

      Was zum Teufel ist da los?, fragte ich.

      Nichts, sagte der Pfarrer. Bleiben Sie einfach bei uns. Machen Sie sich keine Gedanken über das Geschrei. Da hat nur ein Mädchen ihren Spaß, das ist alles. Die Stadt ist ein großer Sündenpfuhl, das kann ich Ihnen sagen.

      Einen Augenblick stand ich da und überlegte. Dann stürzte ich zur Tür.

       5. Kapitel

      Der Gang war jetzt mit Menschen gefüllt, aber sie alle waren still, standen an die Wand gelehnt da und blickten in dieselbe Richtung. Es waren unverkennbar die Schreie einer Frau, aber sie schrie vor Schmerz, nicht vor Lust. Keiner der im Gang Herumstehenden machte Anstalten, dem Aufruhr nachzugehen. Vielmehr schüttelten sie missbilligend den Kopf, als ich durch den Gang rannte, sahen sich an und begannen zu murren. Bei einem Blick über meine Schulter sah ich, dass der Sheriff und seine Spielkumpane aus dem Kartenzimmer gekommen waren. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte mir nach, ohne die Miene zu verziehen oder etwas zu meiner Unterstützung zu unternehmen.

      Dann hörten die Schreie auf. Plötzlich war es vollkommen still. Ich verlangsamte meine Schritte, ging aber weiter, um die bedrohte Frau zu finden. War sie so übel zugerichtet worden, dass sie nicht mehr schreien konnte? Ich drehte mich wieder um. Die vielen Leute, die eben noch an der Wand gelehnt hatten, waren auf einmal verschwunden, entweder ein Stockwerk tiefer oder in eines der angrenzenden Zimmer gegangen. Ich war allein. Als ich weiterging, bemerkte ich aus dem Augenwinkel ein Foto an der Wand. Ein Junge, sechs oder sieben Jahre alt, der ein verächtliches Gesicht schnitt. Hinter dem Jungen waren eine Schaukel aus Metall und ein Meer aus Gras zu sehen, ein unendliches Meer aus Gras. Und der Junge auf dem Bild war ich.

      Ich konnte mich nicht erinnern, wo und wann dieses Foto aufgenommen worden war, aber das Foto selbst kannte ich. Mein Blick glitt über die restliche Wand. Weitere Bilder von mir und meiner Familie. Als ich den Kopf in den Nacken legte, sah ich