Zobel. Albrecht Breitschuh

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Название Zobel
Автор произведения Albrecht Breitschuh
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783964230508



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des DFB-Trainers war nichts entgangen: „Bei einigen wurde im Laufe des Lehrgangs das Nachlassen der Kondition sehr deutlich“, zog Udo Lattek keineswegs begeistert Bilanz und gab dem Nachwuchs gymnastische und balltechnische Hausaufgaben mit auf den Heimweg. Ein paar Dauerläufe würden auch nicht schaden. Seine Kontrollmöglichkeiten waren begrenzt: Lattek sah die Spieler nur alle zwei, drei Monate bei den Lehrgängen, Kontakt zu den Vereinstrainern gab es kaum. Dem Coach der deutschen U19 und der Amateurnationalmannschaft blieb nichts anderes übrig, als an die Eigeninitiative seiner Leute zu appellieren: „Eine Viertelstunde Zeit vor dem Büro morgens hat jedermann. Wälder und Wiesen gibt es auch überall.“

      Auch Rainer Zobel durfte sich angesprochen fühlen. Er hatte im März 1967 eine Einladung zu einem Sichtungslehrgang in die Sportschule Duisburg-Wedau erhalten, ein Lehrgang, der sich zu großen Teilen aus Jugendnationalspielern zusammensetzte. Einen Monat vorher hatte er beim 0:1 gegen England sein Debüt gegeben. Lattek hielt eine Menge von Zobel und traute ihm den Sprung in die Nationalmannschaft der Amateure zu. Mit der ging es um nicht weniger als die Qualifikation für die Olympischen Spiele nächstes Jahr in Mexiko. Obwohl Lattek ihn für hochveranlagt hielt, richtig schlau wurde er aus dem 18-jährigen Talent vom SC Uelzen nicht: „Immer, wenn Du zu Lehrgängen kommst, habe ich den Eindruck, Du hast alles verlernt. Und nach ein paar Tagen bist Du wieder ganz der Alte.“

      Zobel ahnte, worauf sein Trainer hinauswollte, behielt die ganze Wahrheit aber erst einmal für sich. Ein guter Teil dieser Wahrheit hing mit seinem Lebenswandel zusammen. Zwar hatte die Begeisterung für den Fußball kaum nachgelassen, andere Leidenschaften ließen sich aber nicht dauerhaft unterdrücken. Die für Musik zum Beispiel. An den Wochenenden machte er sich mit seinen Freunden oft auf den Weg nach Hamburg und tauchte in eine Clubszene ein, die fast noch aufregender war als die des „Swinging London“. Oft quetschten sie sich mit sechs Leuten in seinen klapprigen VW Käfer und tuckerten die knapp einhundert Kilometer über die Autobahn bis nach Hamburg. Manchmal nahmen sie auch die Bahn. Die bot zwar mehr Platz, hatte aber den Nachteil, dass sie frühmorgens völlig abgekämpft am Hauptbahnhof hingen und darauf warteten, dass endlich der erste Zug nach Uelzen ablegte. Kleine Unannehmlichkeiten, die die Freunde aber gerne in Kauf nahmen, denn die Ausflüge in die Millionenstadt lohnten sich immer.

      Erste Adresse unter den zahlreichen Musikklubs war der „Starclub“ auf der „Großen Freiheit“. Wer hier auftrat, gehörte bereits zu den Großen oder war an den Türstehern der „Hall of Fame“ schon so gut wie vorbei: Chuck Berry, Little Richard, Jimmy Hendrix, Ray Charles oder Eric Clapton. Mit Ausnahme der Rolling Stones spielte hier alles, was in den 60er Jahren Rang und Namen hatte. Die Beatles waren in ihrer Anfangszeit in den Clubs an der Reeperbahn Stammgäste. John Lennon sagte, er sei musikalisch in Hamburg aufgewachsen. Zobel haderte lange mit sich, dass er sie verpasste. Als Paul, John, George und Ringo im „Kaiserkeller“ spielten, hing er mit seinen Freunden wie gewöhnlich nebenan im „Starclub“ ab. Das Angebot war einfach zu groß. Gehe nach Hamburg, und du wirst berühmt, hieß es unter Rockmusikern.

      An den Wochenenden, die er in Uelzen verbrachte, landete Zobel zuverlässig in der „Tenne“. Eine Kellerkneipe ohne Fenster, eng, düster und stickig, aber was machte das schon, hier ging man nicht hin, um frische Luft zu schnappen. Die „Tenne“ war erste Anlaufstation der Jugend von Uelzen und Umgebung, umso erstaunter war Zobel, als er in diesem verqualmten Schuppen auf seinen Trainer traf. Das war doch mal ein Überraschungsgast! Richard Hornburg trainierte die erste Herrenmannschaft, für die Rainer bereits in der Verbandsliga Ost auf dem Platz stand, obwohl er noch A-Jugendlicher war.

      „Was machst Du denn hier?“, wollte Hornburg wissen. Es war bereits weit nach Mitternacht und ganz offensichtlich, dass er sich eine etwas seriösere Vorbereitung auf das bevorstehende Spiel gewünscht hätte: „Du gehst jetzt sofort nach Hause!“ Zobel mochte seinen Trainer nicht besonders. Hornburg war ein vom Ehrgeiz getriebener Schleifer und Choleriker, ihm machte es nichts aus, Spieler beim ersten Fehler vom Platz zu holen, selbst wenn er sie kurz zuvor eingewechselt hatte. Beim Lokalrivalen Teutonia durfte er sich nicht mehr blicken lassen. Nachdem er wiederholt und gegen alle Absprachen Personal abgeworben hatte, wurde gegen ihn ein Platzverbot verhängt. Sein ruppiger Ton ging Rainer gegen den Strich, beim Fußball und auch hier, in seinem Stammlokal: „Und was ist, wenn ich nicht gehe?“ „Dann stelle ich Dich morgen nicht auf.“ Zobel entschied sich fürs Bleiben. „Wenn Sie mich deswegen aus der Mannschaft werfen, spiele ich eben überhaupt nicht mehr.“ Damit war das kurze Gespräch beendet und der Jugend-Nationalspieler zog fortan mit der Zweiten über die Dörfer.

      Beim DFB ahnte niemand etwas von dieser Entwicklung. Wer in den Auswahlmannschaften spielte, stand nicht unter Dauerbeobachtung, es war auch nicht ungewöhnlich, dass die Nominierten aus der Provinz kamen. Spieler und Trainer trafen sich auf den einwöchigen Lehrgängen, nur die waren für die Zusammenstellung der Mannschaft entscheidend. Wer keine Einladung erhielt, konnte zu Hause so gut sein wie er wollte – er hatte kaum Chancen, sich zu empfehlen. Eigentlich spielte Zobel unterm Radar, sonst wäre er beim DFB die Treppe heruntergeflogen. Ein künftiger Amateurnationalspieler, der sein Land bei den Sommerspielen in Mexiko vertreten sollte und in der Kreisliga kickte? Udo Lattek hegte viel Sympathie für den olympischen Amateurgedanken, aber damit durfte er seinem Trainer nicht kommen.

      Allzu lange ließ sich der sportliche Abstieg jedoch nicht mehr verheimlichen, Zobel wusste das. Genauso war ihm klar, dass er dann aus den DFB-Auswahlmannschaften fliegen würde. Schade, aber nicht zu ändern. Er hatte nicht vor, sich bei seinem Trainer zu entschuldigen, um wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Ein großes Ding schwirrte ihm allerdings noch durch den Kopf. Auf dem Weg zu den Olympischen Spielen hatte der Deutsche Fußball-Bund eine drei Wochen lange Asientour geplant, und auf die war Rainer scharf. Burma, Thailand, Malaysia, Hongkong, die Philippinen und Japan sollten die Stationen sein. Das klang nicht nur nach großem Abenteuer, das war bestimmt auch eines und die Gelegenheit, diese Länder einmal zu besuchen, würde wahrscheinlich nie wieder kommen. Wenn er bei dieser Reise mit an Bord sein würde, hätte ihm der Fußball mehr gegeben als er je zu hoffen wagte. Dafür war er bereit, sich noch einmal so richtig ins Zeug zu legen.

      Gelegenheit dazu bot ein UEFA-Jugendturnier im Sommer in der Türkei. „Von Rechtsaußen Rainer Zobel ging im Angriff die größte Gefahr aus“, bilanzierte der „kicker“ hinterher. Es war wie immer: Wenn es darauf ankam, machte er seine besten Spiele. Während sich andere, vielleicht auch talentiertere Spieler im Wettkampf unter Wert verkauften, rief der Ernstfall bei Zobel geradezu Glücksgefühle hervor. Druck, Aufregung oder Versagensängste waren ihm vollkommen fremd. Udo Lattek zeigte sich einmal mehr tief beeindruckt von seinem Schützling und berief ihn in die Amateur-Nationalmannschaft. Zwar scheiterte die Auswahl im Herbst in der Qualifikation für Mexiko, die Asientour zum Jahresende blieb davon jedoch unberührt. Sie hatte ohnehin überwiegend sportpolitische Bedeutung und war nicht nur vom DFB, sondern auch vom Auswärtigen Amt vorbereitet worden. Die Spieler sollten mit ihrem Auftreten dazu beitragen, das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu mehren, lautete der offizielle Auftrag. Sportlicher Erfolg war zwar wichtig, aber so moderat zu gestalten, dass er die Gastgeber nicht brüskierte. Bei einem Kegelabend wurde die Mannschaft vom späteren Innen- und Außenminister Hans-Dietrich Genscher verabschiedet.

      7

      Die DFB-Delegation hielt sich an die diplomatischen Vorgaben. Von den fünf Siegen fiel allein der gegen die Philippinen mit 4:0 etwas deftiger aus, das torlose Unentschieden zum Auftakt gegen Burma war den Strapazen einer in jeder Hinsicht außergewöhnlich Reise geschuldet. Der Flug dauerte mit mehreren Zwischenstopps gut 24 Stunden. Als die Spieler völlig übermüdet in der Hauptstadt Rangoon eintrafen, war es weit nach Mitternacht, wer konnte, fand noch ein paar Stunden Schlaf. Am nächsten Morgen stand schon der Besuch beim Botschafter auf dem Programm.

      Zobel hatte zumindest während des Fluges keinen Grund zu klagen. Er war der jüngste Passagier an Bord der Boeing 707 und durfte deshalb, wie bei Lufthansa-Flügen zu dieser Zeit üblich, im Cockpit sitzen. Was für ein Auftakt! Es folgten drei Wochen, in denen er und die gesamte Mannschaft aus dem Staunen gar nicht mehr rauskamen, eine Reise in eine für alle Beteiligten völlig fremde und fast schon märchenhafte Welt. Mit Gold überzogene Tempel in Burma, die Dschungel Malaysias, das Lichtermeer Honkongs bei Nacht, das chinesische