Zobel. Albrecht Breitschuh

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Название Zobel
Автор произведения Albrecht Breitschuh
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783964230508



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Haare schneiden. Von Rainer Zobel, wie schon öfter vor wichtigen Spielen. Die beiden hatten jahrelang auf Dienstreisen das Zimmer geteilt, man konnte von einem Vertrauensverhältnis sprechen. Zobel sollte ihm keine richtige Frisur zaubern, das war Beckenbauer dann doch zu riskant, aber hinten am Nacken, da musste alles akkurat sein. „Wenn Du mir die Haare schneidest, gewinnen wir auch“, war sein Zimmerpartner überzeugt. Also griff Zobel zu Schere und Rasierer. Daran sollte es nicht scheitern, auch wenn ihm der Zusammenhang zwischen dem Ausgang eines Fußballspiels und einem sauber rasierten Nacken nicht einleuchtete. Aber was hatte Fußball schon mit Logik zu tun? Wenn es darum ging, die Macht des Schicksals irgendwie zu beeinflussen, griffen seine Mannschaftskameraden zu den seltsamsten Maßnahmen. Jupp Kapellmann hatte immer ein riesengroßes Stofftier dabei und drückte es ganz fest, bevor er auf den Rasen ging. Einmal kam er vom Aufwärmen zurück in die Kabine und das Stofftier saß nicht mehr auf seinem Platz. Sepp Maier hatte es versteckt. Kapellmann war außer sich und weigerte sich aufzulaufen. Erst musste das Stofftier wieder her. Dagegen war Haare schneiden harmlos, zumal es sich um die Haare von Deutschlands bestem Fußballspieler handelte.

      Für den Spielverlauf von größerer Bedeutung war aber zweifellos jene Szene in der 70. Minute. Zobel hatte den Ball im Mittelfeld übernommen und war mit dem Leder ein paar Meter quer gelaufen, als er aus dem Augenwinkel sah, dass sich Gerd Müller in Richtung Strafraum orientierte. Mit einem Heber spielte er die Nummer neun frei. Ein Zuspiel ohne jede Ankündigung, von blindem Verständnis zeugend, nur Zobel und Müller wussten, was gleich passieren würde. Die Spanier reklamierten so heftig wie vergeblich auf Abseits, ihre Abwehr war mit diesem einen Pass ausgehebelt. Den Rest erledigte Müller auf seine Weise. Mit unglaublich viel Gefühl hob er den Ball von der Strafraumgrenze über den zu weit vor seinem Kasten stehenden Atletico-Torwart Reina: 3:0, das Spiel war entschieden. Den Schlusspunkt zum 4:0 setzte Uli Hoeneß gut zehn Minuten später.

      Als erste deutsche Mannschaft hatte der FC Bayern den Europapokal der Landesmeister gewonnen! Und Rainer Zobel, sonst der Mann im Hintergrund, der in einem Ensemble hoch dekorierter Nationalspieler seine Aufgaben zuverlässig und unauffällig erfüllte, einer, der selten selber glänzte, dafür anderen zu Glanz verhalf – er hatte das Spiel seines Lebens gemacht und zählte an diesem Abend zu den Hauptdarstellern. Auch bei der Siegerehrung.

      Geplant war das alles nicht, ein bisschen Übermut war mit dabei, ein bisschen Unbeholfenheit vielleicht auch, vor allem aber die Freude darüber, in einem großen Spiel Großes geleistet zu haben. Als Zobel an der Reihe war, um den Pokal wie alle anderen vor ihm in den Brüsseler Nachthimmel zu stemmen, fasste er ihn nicht in der Mitte, sondern ganz unten an den beiden Henkeln an. Für einen winzigen Moment schaukelte die Trophäe und Zobel schien das Gleichgewicht zu verlieren. Kleiner Ausfallschritt nach hinten, der Pott war schwerer als gedacht. Jetzt nur nichts falsch machen. Er setzte noch einmal an, hob den Pokal hoch und platzierte ihn bei sich auf dem Kopf. Dort stand er sicher: „Das ist schön, dass sich Profis im Augenblick des Jubels und des Erfolges freuen können wie die Schulbuben“, kommentierte der Fernsehreporter Oskar Klose diesen Moment. Üblich war es ja, den Pokal zu umarmen, zu streicheln oder zu küssen, ihn aber jenseits solcher Zärtlichkeiten vor allem mit dem nötigen Respekt zu behandeln. Sich das Ding einfach auf den Kopf zu setzen, war mal etwas ganz Neues. Neben Zobel stand Sepp Maier und strahlte. Für solche Einlagen war eigentlich er zuständig. Ohne es darauf angelegt zu haben, hatte Zobel dem auch als Entertainer verehrten Torwart die Show gestohlen. Das Bild dieses Abends, das in den nächsten Tagen um die ganze Welt ging, gehörte ihm.

      Noch ein paar Minuten bis zum Spielbeginn in Mönchengladbach. Robert Schwan, der stets unterkühlt und unnahbar wirkende Manager der Bayern, den die Leute nur mit grimmigem Blick und Pfeife im Mund kannten, hatte gerade im Mittelkreis einen Purzelbaum geschlagen. Die 34.000 Zuschauer am Bökelberg jubelten, als Schwan seine Wettschulden einlöste. Udo Lattek war noch unvorsichtiger gewesen und hatte angekündigt, zu Fuß von München nach Nürnberg zu gehen, wenn sie den Europapokal holen würden. Ich werde ihn ganz bestimmt nicht begleiten, dachte sich Zobel und war froh, nur die paar Meter bis zu den begehrten Plätzen auf der Bank zurücklegen zu müssen. Für ihn kam Viggo Jensen zu einem seiner wenigen Einsätze im Bayern-Dress. Der Däne hatte auch gegen Atletico nicht gespielt und sollte nun den Gladbacher Stürmer Jupp Heynckes daran hindern, in der Torjägerliste am führenden Gerd Müller vorbei zu ziehen. Müller nahm das sehr ernst. Er selbst würde an diesem speziellen Nachmittag kaum etwas für seine Bilanz tun können, forderte aber seine vom Alkohol ebenso schwer gezeichneten Mannschaftskameraden auf, ihn nicht im Stich zu lassen.

      Jensen gehörte zu den wenigen halbwegs nüchternen Bayernspielern auf dem Platz, als Schiedsrichter Biwersi die Partie um 15 Uhr 30 anpfiff. Das 1:0 durch Heynckes konnte er trotzdem nicht verhindern. Zobel hatte auf der Bank kaum etwas mitbekommen, immer wieder nickte er ein. Als er eine Viertelstunde nach dem Führungstreffer zum wiederholten Mal an diesem Tag rüde geweckt wurde, stand es bereits 4:0: „Los, Du musst jetzt spielen. Die anderen können nicht mehr.“ Auch wenn ihm nicht danach zumute war, stellte er sich in den Dienst der Mannschaft, ohne allerdings das Schatten spendende Areal unterhalb der Haupttribüne häufiger zu verlassen als unbedingt nötig. Viggo Jensen mühte sich redlich, Heynckes am Toreschießen zu hindern, aber ein weiterer Treffer gelang dem Gladbacher noch. Damit kam er auf 30, wie Gerd Müller. Das Rennen um die Torjägerkanone endete unentschieden. Für seinen selbstlosen Einsatz schenkte Zobel Jensen das Trikot aus dem Endspiel.

      Er selbst hatte seine letzten Reserven für den großen Empfang am Abend in München erfolgreich geschont. Sie waren mit einiger Verspätung am Flughafen in Riem eingetroffen, stiegen dort in offene Cabrios und rollten langsam Richtung Innenstadt. Zobel saß mit den beiden Dänen in einem Wagen, Viggo Jensen und Johnny Hansen, seinem besten Freund in der Mannschaft. Je weiter sie sich vom Flughafen entfernten, desto größer wurde die Menschenmenge, die ihnen zujubelte. Auf der Prinzregentenstraße kamen sie nur noch im Schritttempo voran. Von überall her strömten die Leute und gratulierten, die strahlenden Sieger von Brüssel hielten an nahezu jedem Lokal, Kellner brachten auf Tabletts Getränke heraus, damit die Spieler mit ihren Fans anstoßen konnten.

      Jetzt war sich Zobel sicher, die schönsten Momente seiner Karriere zu erleben. Besser als an diesem Abend würde es nie mehr werden. Irgendwann erreichten sie das Rathaus und stiegen auf eine provisorisch errichtete Bühne. Ein paar kurze Reden, immer wieder unterbrochen vom Jubel dieser riesigen Menschenmenge, dann zog sich die Mannschaft zurück zum geschlossenen Teil der Feier. Als der zu Ende war, wollte Zobel nur noch schlafen, schlafen, schlafen. Und wehe, irgendjemand würde ihn wecken.

      2

      Seine Eltern durften nichts davon wissen. Vor allem sein Vater nicht. Fußball? Ihm reichte es, wenn sein Sohn auf der Straße oder dem Bolzplatz kickte, das konnte er schlecht verbieten. Aber im Verein? Kam überhaupt nicht in Frage. „Arbeitersport“, pflegte er die Nase zu rümpfen, Fußball passte nicht zu seinen beruflichen Ambitionen. Otto Zobel war zwar nur einfacher Angestellter im Arbeitsamt Uelzen, einer Kleinstadt in der Lüneburger Heide, aber er war ehrgeizig und strebte die Beamtenlaufbahn an. Keine Kleinigkeit, denn er hatte nur einen Volksschulabschluss. Und ein künftiger Staatsdiener mit einem Sohn, der im Verein Fußball spielt? Unvorstellbar! Sollten andere ihre Kinder dorthin schicken, er nicht. Ende der Durchsage.

      Sich gegen seinen Vater durchzusetzen war aussichtslos. Rainer verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte man nur so stur, so hartköpfig sein, fragte sich der neun Jahre alte Junge. Und vor allem: Wie konnte man nur so viel Quatsch erzählen? Wieso Arbeitersport? Was hatte denn Fußball mit Arbeit zu tun? Das war doch pure Freude, für die er gerne jede freie Minute opferte. Und noch etwas verwirrte ihn: sein Vater hatte doch eigentlich gar nichts gegen diesen Sport, ganz im Gegenteil. Er war es doch gewesen, der ihn mit dem Fußball erst in Berührung gebracht hatte. Dem großen Fußball sogar. 1954 war das, Hannover 96 traf im Finale um die Deutsche Meisterschaft auf den 1. FC Kaiserslautern. Und der gerade einmal fünf Jahre alte Rainer durfte mit! Nicht ins Hamburger Volksparkstadion, wo sich beide Mannschaften gegenüberstanden. Für einen solchen Ausflug reichten weder Geld noch Begeisterung des Vaters.

      Stattdessen ging es an diesem Nachmittag zu „Radio Pommerien“, dem führenden Elektrofachgeschäft vor Ort, wo kurz zuvor das Fernsehzeitalter eingeläutet