Название | Zobel |
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Автор произведения | Albrecht Breitschuh |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783964230508 |
Der Sohn des Bäckers hieß Gerhard, war ein Jahr älter als er und ebenfalls ein begeisterter Fußballspieler. Die beiden freundeten sich an und planten für den Sommer 1966 eine Tour nach England, zur Fußball-Weltmeisterschaft! Wir bleiben dort, bis uns das Geld ausgeht, hatten sie sich vorgenommen. Deshalb sparten sie auch an Reisekosten und trampten. Die ersten hundert Kilometer verbrachten die beiden Freunde auf einem Fischtransporter, der Fahrer hatte in Bad Zwischenahn eine Ladung Jungaale abgeliefert und sie anschließend mit zum Dümmer See genommen. Nicht gerade der Ort, der ihnen als erstes Etappenziel vorschwebte, aber Hauptsache, die Reise kam ins Rollen und als Tramper verbot es sich ohnehin, allzu wählerisch zu sein. Am Dümmer See hatten sie mehr Glück und lernten jemanden kennen, der sie mit nach Belgien nahm. Spätabends erreichten sie Brügge, fanden aber keine Jugendherberge mehr und übernachteten im Freien. Tags drauf ging es weiter nach Calais, von dort mit der Fähre nach Dover. Das erste unvergessliche Erlebnis dieser Reise: Sie hatten kaum abgelegt, als Rainer so übel wurde, dass er sich von Deck an geeignetere Orte verabschiedete.
Endlich an Land gönnten sie sich in Kent eine Übernachtung in einer halbwegs bezahlbaren Unterkunft. Die folgenden Tage verbrachten die Jungs aus Bad Zwischenahn in der Hauptstadt. Zwei Fußballreisende, denen es um mehr als nur Fußball ging. Sie wollten das „Swinging London“ kennenlernen, ein bisschen was vom revolutionären Aroma aufnehmen, das die Musik dieser Zeit verströmte. Mit 14 hatte Rainer einen Kofferplattenspieler bekommen, von Philipps, der Kofferdeckel diente zugleich als Lautsprecher. Die erste Platte war ein Geschenk seiner Schwester Karla: „Wir wollen niemals auseinander gehen“, versprach Heidi Brühl. Die zweite kam von seinen Eltern, „Der lachende Vagabund“, damals ein echter Hit: „Was ich erlebt hab’, kann nur ich erleben. Ich bin ein Vagabund. Selbst für die Fürsten soll es grauen Alltag geben, aber meine Welt ist bunt“, sang Fred Bertelmann. Rainer mochte diese Musik, der Text passte ja auch zu ihrer Reise, aber sein Geschmack hatte sich geändert, inzwischen hörte er nahezu alles, was aus England kam. Die 60er waren die große Zeit des Mersey-Beats, Bands wie die Seachers, Gerry & The Pacemakers und natürlich die Beatles gaben den Ton an. Die für viele seiner Altersgenossen wichtige musikalische Standortfrage „Beatles oder Stones?“ hatte er längst geklärt – er verehrte beide!
Mit seinem Freund Gerhard tauchte er, so tief es ging, in eine Stadt ein, die Mick Jagger nur zwei Jahre später so verschlafen fand, dass hier kein Platz sei für einen „Street Fighting Man“. Sie hingen mit den Hippies und Gammlern am „Piccadilly Circus“ rum, klapperten die Plattenläden auf der „Carnaby Street“ ab und deckten sich auch modisch mit dem Nötigsten ein. Rainer hatte es auf einen britischen Parka abgesehen, den es angeblich nur auf der „Carnaby Street“ zu kaufen gab. Seine Freunde liefen fast alle mit Jeans und Parka durch die Gegend, es kam also auf den feinen Unterschied an. Etwa einen „Union Jack“ auf dem Ärmel. Dass das „Swinging London“ weit mehr war als eine aufregende Erzählung, dämmerte den beiden, als sie nach zwei Tagen in der Hauptstadt in einem Band-Bus von London nach Sheffield fuhren. Sie hatten die Musiker in einem Club kennengelernt und das Angebot zur Weiterreise gerne angenommen.
In Sheffield traf die deutsche Nationalmannschaft zunächst auf die Schweiz, ganz in der Nähe, in Derbyshire, hatte sie Quartier bezogen und dort hoffte Rainer, an Karten zu kommen. Ohne seinen Besuch angekündigt zu haben, stand der künftige Jugend-Nationalspieler auf der Matte und trug seinen Wunsch vor. Da Udo Lattek und Dettmar Cramer, die beiden Assistenten von Bundestrainer Helmut Schön, mit dem Namen Zobel etwas anfangen konnten, kam er ohne Probleme an die Tickets. Auch für die nächsten Spiele deckten sie sich ein. Rainer und sein Freund Gerhard sahen ein 5:0 gegen die Schweiz im Hillsborough-Stadion, dann ein müdes 0:0 gegen Argentinien in Birmingham und schließlich das entscheidende Gruppenspiel gegen Spanien, wieder in Birmingham.
Bei einer Niederlage wäre die DFB-Auswahl früher als die beiden Groundhopper aus Bad Zwischenahn zu Hause gewesen, ein keineswegs unrealistisches Szenario. Der Gegner war immerhin amtierender Europameister und behauptete von sich, die stärkste spanische Mannschaft aller Zeiten zu sein. Beide Teams lieferten sich ein außergewöhnliches Spiel: „Der Villa Park krachte nur so vor Applaus von der ersten bis zur letzten Minute“, schrieb der „Daily Telegraph“. „Das Spiel war ein reichlich verdienter Triumph für Deutschland und ein totaler Sieg für das Fußballspiel.“ Nachdem die Spanier 1:0 in Führung gegangen waren, traf Lothar Emmerich kurz vor der Halbzeit zum Ausgleich. Durch ein „Wundertor“, so die seitdem mehr oder weniger amtliche Bezeichnung: „Ich habe nicht einfach draufgeknallt, sondern instinktiv die Lage gepeilt und den richtigen Winkel gewählt“, sagte der Stürmer von Borussia Dortmund hinterher. Wer wollte, konnte ihm das glauben. Wahrscheinlich war aber auch ein bisschen Glück im Spiel, als Emmerich in der 39. Minute den Ball praktisch von der Torauslinie in den Winkel hämmerte: „Oh, what a goal by Emmerick“, war der BBC-Reporter schwer von den Socken und auch auf der Tribüne hinter dem Tor musste sich ein jubelnder Rainer Zobel bei seinem neben ihm stehenden Freund vergewissern, ob der gerade eben dasselbe gesehen hatte wie er. Uwe Seelers 2:1 in der 84. Minute brachte die deutsche Mannschaft ins Viertelfinale.
Nach dem Abpfiff feierten Rainer und Gerhard mit anderen deutschen Fans auf dem Bahnhof in Birmingham, tranken dem Anlass entsprechende Mengen Bier, bis sie irgendwann feststellten, dass sie nicht nur müde waren, sondern auch den letzten Zug zurück nach Sheffield verpasst hatten. Sie entdeckten auf einem Abstellgleis einen geöffneten Waggon, legten sich dort hinein und schliefen ihren Rausch aus. Allemal bequemer, als auf den harten Bahnhofsbänken zu übernachten.
Als sie wieder aufwachten, war es schon hell und der Zug fuhr in den Bahnhof von Coventry ein. Dort standen sie nun, wieder nüchtern, aber ohne ihr Reisegepäck. Das hatten sie in der Jugendherberge in Sheffield zurückgelassen. Eine möglichst schnelle Rückkehr war aber noch aus einem weiteren Grund geboten: in Sheffield traf die deutsche Nationalmannschaft in zwei Tagen auf Uruguay. Karten für das Spiel hatten sie bereits, aber sie wollten auch erleben, wie die Spannung in der Stadt vor diesem wichtigen Spiel stieg. Viertelfinale, so langsam ging das Turnier in seine entscheidende Phase. Das Feld wurde kleiner, ihr finanzieller Spielraum allerdings auch. Bis zum Endspiel würden sie es kaum noch schaffen.
Auch der kleine, rot-grün karierte Puppenkoffer seiner jüngeren Schwester Dagmar, den die beiden in den Wochen vor ihrer Tour bis zum Rand mit Zwei-Pfennig-Stücken gefüllt hatten, hatte deutlich an Gewicht verloren. Die Sache war zwar illegal, aber mindestens ebenso verlockend. Irgendjemand hatte Rainer vor Beginn ihrer Reise den sachdienlichen Hinweis gegeben, dass sich die deutschen Zwei-Pfennig-Stücke nicht von den Sixpence-Münzen unterschieden und in die britischen Snack-Automaten passten. Der Kurs für ein Sixpence lag bei etwa 30 Pfennig, auf dieser Basis ließ sich der Preis für Fish & Chips, Cola und andere Grundnahrungsmittel schon einmal erheblich drücken. Aber auch diese Quelle war inzwischen nahezu ausgetrocknet und nach dem 4:0 gegen Uruguay im Viertelfinale waren ihre Reserven aufgebraucht. Die Reisekasse war leer, der sportliche Erfolg der deutschen Nationalmannschaft überstieg die finanziellen Möglichkeiten der beiden Freunde aus Bad Zwischenahn. Schweren Herzens machten sich Rainer und Gerhard noch vor dem Halbfinale gegen die UdSSR auf den Heimweg.
Dass die unfreiwillige und vorzeitige Heimreise auch ihr Gutes hatte, wurde den beiden erst nach dem Abpfiff des Finales bewusst. In diesen bitteren Stunden waren sie zu Hause im Kreise der Familie und unter Freunden besser aufgehoben. Fußball-Deutschland stand unter Schock. Der „kicker“ wollte sogar 1.000 Mark Belohnung für ein Foto bezahlen, auf dem klar zu sehen war, dass der Ball die Linie überschritten hatte: „Um den Verdacht einer Montage auszuschließen, muß mit der Aufnahme auch der Negativfilm eingereicht werden. Falls mehrere Fotos eingehen, entscheidet der Zeitpunkt der Absendung (Poststempel). Es geht uns nur um die Wahrheit, gleichgültig wie sie lautet. Denn auch eine bittere Wahrheit wäre immer noch besser als das nagende Gefühl, Unrecht erlitten zu haben. Tausend Mark Belohnung – wir würden sie gerne bezahlen.“
Fünf Jahre später, 1971, sollte Rainer Zobel in seinem ersten großen Finale ein Schuss gelingen, der den von Sir Geoffrey Hurst zum berühmten „Wembley-Tor“ noch in den Schatten stellte. Er brachte es damit sogar bis in die Wochenschau der Kinos. Nach mehreren Zeitlupen bemerkte der Kommentator in Anspielung auf das WM-Finale von 1966: „Diesmal war er wirklich drin.“