Zobel. Albrecht Breitschuh

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Название Zobel
Автор произведения Albrecht Breitschuh
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783964230508



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ausfällt. Gemeint waren die Stürmer Skoblar und Heynckes sowie der Mittelfeldspieler Hans Siemensmeyer, der zu diesem Zeitpunkt bereits dreimal für die A-Nationalmannschaft aufgelaufen war.

      Die Vorfreude auf die neue Saison war riesig, die Stadt galt als traditionell fußballverrückt. 1963, bei der Gründung der Bundesliga, hatte 96 noch gegenüber dem ungeliebten Rivalen Eintracht Braunschweig den Kürzeren gezogen, als Hannover dann mit einem Jahr Verzögerung im Oberhaus ankam, gab es kein Halten mehr. Die Mannschaft beendete die Spielzeit auf einem nicht für möglich gehaltenen fünften Platz und die über 40.000, die die Heimspiele im Durchschnitt besuchten, bedeuteten Platz eins in der Zuschauertabelle. An die Begeisterung dieser noch nicht so lange zurückliegenden Saison wollte der Verein unter Cajkovski wieder anknüpfen.

      Zobel wusste, welcher Ruf diesem Trainer vorauseilte. Und er war nach der ersten Begegnung schwer beeindruckt. Klein und dick, wie er nun einmal war, erinnerte „Tschik“ nicht auf Anhieb an einen früheren Weltklassespieler, aber sobald er den Ball am Fuß hatte, war er eine Sensation. Cajkovski hatte Tricks drauf, die ihm kaum einer nachmachte und wer es trotzdem versuchte, stolperte dabei oft über die eigenen Beine. Jeder Pass, jede Flanke kam präzise dort an, wo er sie hinhaben wollte, und wenn „Tschik“ einen Ball stoppte, war es so, als hätte ein Magnet ein Stück Eisen angezogen. Wäre dieser wirklich voluminöse Ranzen nicht gewesen, der seine Trainingsjacke bis zum Äußersten spannte, hätte er eigentlich selber für die 96er auflaufen müssen.

      Das Training ohne Ball fand Zobel nicht annähernd so beeindruckend, was Cajkovski da zu bieten hatte, kannte er auch von früher. Er musste viel laufen, an manchen Tagen standen Intervalle von 10 mal 200 Meter in vollem Tempo auf dem Programm, gefolgt von ein paar Dehnübungen, dann wurde gespielt. Oft acht gegen acht, meistens nur in einer Hälfte, jeder bekam einen Mann zugeordnet, an dem er sich aufreiben konnte. Taktische Dinge spielten kaum eine Rolle. Sonderlich originell war das nicht. Der wesentliche Unterschied zum SC Uelzen bestand darin, dass bei Hannover 96 nahezu täglich trainiert wurde. Montags und mittwochs einmal, dienstags und donnerstags zweimal, am Freitag das Abschlusstraining, samstags das Spiel, am Sonntag war frei. Seinen neuen Alltag beschrieb Zobel ein paar Jahre später in einem Interview so: „Ich bin spät aufgestanden und habe aufs Mittagessen gewartet. Dann habe ich aufs Training gewartet und dann aufs Abendessen und dann bin ich ins Bett.“

      Vor Heimspielen übernachtete die Mannschaft in einem Gasthof am „Blauen See“ im Vorort Garbsen, ein beliebtes Ausflugsziel auch für die Zuhälter vom Steintorviertel, die ihre Wohnwagen dort aufstellten und sich von ihren kräftezehrenden Nachtschichten erholten. Wie die meisten Hannoveraner nahmen auch sie regen Anteil am Schicksal von 96, mit der Zeit entwickelte sich so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis. Man kam sich näher, unterhielt sich über das kommende Spiel und wenn Zobel unter der Woche mit seiner Familie oder Freunden durch die Stadt ging, ließ es sich kaum vermeiden, dass er von der einen oder anderen Rotlichtgröße gegrüßt wurde. Man konnte sich seine Fans nicht aussuchen und die hier gehörten zu den wenigen, die ihn als Profi von Hannover 96 erkannten. Wie die meisten seiner Mannschaftskameraden konnte Zobel ein unauffälliges Leben führen. Zwar eines mit Autogrammkarte, aber die Nachfrage hielt sich in Grenzen. Das Bild war ihm ohnehin etwas unangenehm. Am Tag vor dem Fototermin waren ihm noch die Weisheitszähne gezogen worden, richtig glücklich blickte er jedenfalls nicht in die Kamera.

      Vielleicht ließ „Tschik“ nicht nach den letzten Erkenntnissen der Sportwissenschaft trainieren, in der Mannschaftsführung machte ihm aber keiner etwas vor. Die Spieler schätzten ihn, das Betriebsklima war familiär. Wann immer sich die Gelegenheit bot, gingen sie zusammen essen, meistens zum Jugoslawen, ab und zu kochte auch Cajkovskis Frau. In geselligen Runden brachte er seine Umgebung zum Lachen, vor allem, wenn er sich mit seiner abenteuerlichen Grammatik verständlich machen wollte. „Ein fröhlicher Trainer, eine fröhliche Mannschaft“, lüftete „Tschik“ einmal sein Erfolgsgeheimnis. Nicht zuletzt als Talentförderer hatte er sich einen Ruf gemacht. Er konnte mit jungen Leuten umgehen, und genau so einen Mann brauchten sie jetzt bei Hannover 96. Anders als in den Jahren zuvor hatte der Verein nur für kleines Geld eingekauft, darunter die Vertragsamateure Peter Loof und Rainer Zobel. Im Angriff waren zwei der drei Plätze an Jupp Heynckes und Josip Skoblar vergeben, gesucht wurde noch ein Rechtsaußen.

      Cajkovski hatte auf dieser Position einige Kandidaten ausprobiert, so richtig überzeugen konnte ihn keiner. Beim Inter-Toto-Runden Spiel gegen den Schweizer Verein AC Bellinzona bekam der Neuling aus Uelzen seine Chance. Vielleicht nicht seine Lieblingsposition, aber das war nur zweitrangig, passte sie doch wunderbar zu Zobels oberstem Prinzip: Wo auch immer der Trainer dich aufstellt, sei so gut, dass die Mannschaft dich braucht, dass du unverzichtbar bist. Seine Vielseitigkeit zahlte sich aus. 96 gewann das Spiel locker mit 4:0, die Frage nach dem dritten Mann im Sturm war geklärt und die Fachpresse beeindruckt: „Rainer Zobel, der Amateur-Nationalspieler, ist der kommende Rechtsaußen bei Hannover 96. Von allen Möglichkeiten, die Tschik Cajkovski auf dieser Position ausprobierte, spielte er am wirkungsvollsten.“ Seinem Bundesligadebüt in ein paar Tagen stand nichts mehr im Wege.

      Rechtzeitig vor Saisonbeginn hatte sich der Deutsche Fußball-Bund mit ARD und ZDF auf einen neuen Vertrag geeinigt. Der alte war ausgelaufen und es gab Vereine, denen die Fernsehbilder überhaupt nicht passten, Bayern München gehörte dazu. Deren Präsident Wilhelm Neudecker war davon überzeugt, dass die „Sportschau“ um 17:45 Uhr die Leute aus den Stadien treibe und die Einnahmeverluste weit höher seien als die gerade einmal 2.300 Mark Entschädigung pro Verein und Heimspiel. Tatsächlich strömten die Fans nicht mehr so zahlreich zu den Bundesligaspielen wie noch in den ersten Jahren. Ob es an den Fernsehbildern bereits eine halbe Stunde nach dem Abpfiff lag, darüber wurde gestritten. Am Ende entschied wie so oft das Geld, man einigte sich kurz vor Anstoß der Saison 68/69. Die ARD durfte samstags ab 18 Uhr eine halbe Stunde berichten, dem ZDF wurden ab 21 Uhr drei bis vier Bundesligaspiele zugestanden, ebenfalls in einer Gesamtlänge von maximal 30 Minuten. Die beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten zahlten dafür 1,68 Millionen Mark pro Saison, fast doppelt so viel wie bisher.

      „Der Fernsehkrieg ist aus“, freute sich der „kicker“, dessen Kommentator Richard Becker seine Vorbehalte gegenüber diesem Medium aber nicht verbergen konnte: „Der Bildschirm ist ein Kind unserer Zeit. Aber ich habe etwas gegen die Mini-Ausschnitte, die dem unbedarften Betrachter das Gefühl suggerieren wollen, er könne nun mitreden und wisse alles. Diese drei oder vier Minuten pro Spiel, gespickt mit Toren und den sogenannten Höhepunkten, verfälschen den Fußball. Mit diesen Ausschnitten läßt sich alles beweisen, aber sie interpretieren den Fußball keineswegs so, wie er wirklich ist. Darin sehe ich die große Gefahr.“

      Zobel sah es weniger verbissen und freute sich auf seinen ersten Auftritt in der Bundesliga, seine Mannschaft musste bei Werder Bremen antreten. Dass er im Weserstadion zur Startelf zählen würde, hatte ihm sein Trainer schon ein paar Tage vorher gesteckt. Obwohl er nicht die geringste Spur von Nervosität zeigte, forderte ihn sein Trainer am Spieltag auf, gleich nach dem Frühstück eine Art Zaubertrank zu sich zu nehmen. „Um die Nerven zu beruhigen“, so Cajkovskis fürsorgliche Begründung. Ansonsten war Flüssigkeitsaufnahme verpönt, bei Hannover 96 genauso wie bei jedem anderen Verein in der Bundesliga. Die Spieler sollten mit so wenig Wasser wie möglich auskommen, empfahl die Ernährungswissenschaft. Später bei Bayern München gab es beim Abendessen für jeden eine kleine Flasche Mineralwasser. Wer mehr wollte, ließ sich besser nicht erwischen. Beim Bier waren die Vorschriften weniger streng. „Fritz Walter ist auch ohne Wasser ausgekommen“, war so ein Spruch, den Zobel immer wieder hörte und dann entgegnete: „Der sah ja auch aus wie eine ausgetrocknete Zitrone.“

      Beeindrucken konnte er seine Trainer damit nicht. Das Gebräu, das er vor seinem ersten Bundesligaspiel zu sich nehmen sollte, hieß in der Mannschaft Ochsenblut. Es sollte vor allem jüngeren Spielern Beine machen und der Name deutete mehr als nur an, dass es um die Mobilisierung der allerletzten Reserven ging. „Tschiks“ Zaubertrank bestand aus rohem Eigelb, Traubenzucker und einem ordentlichen Quantum Rotwein. Alles in einen Mixer, ordentlich schütteln – und dann runter damit. Das erste Glas hätte ihm schon fast die Schuhe ausgezogen, aber „Tschik“ wollte auf Nummer sicher gehen, schenkte nach und befahl, auch das zweite Glas Ochsenblut zu leeren. Gegen Mittag war Zobel wieder soweit in Schuss, dass er den Ausführungen seines Trainers bei der Mannschaftsbesprechung