Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Margarete Bolten

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Название Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern
Автор произведения Margarete Bolten
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170362925



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eine mangelnde Nahrungsaufnahme bzw. Gewichtszunahme definiert, sondern kann auch bestimmte Verhaltensmuster, wie beispielsweise ein genereller Mangel an Interesse am Essen oder eine dysfunktionale Art zu essen (z. B. nur im Schlaf, extrem selektiv), umfassen.

      Diagnostische Kriterien der Essstörung mit Einschränkung der Nahrungsaufnahme nach DC: 0-5 (ZERO TO THREE, 2019)

      Alle folgenden Kriterien müssen zutreffen.

      A. Das Kind isst durchgängig weniger als für sein Alter angemessen.

      B. Der Säugling/das Kleinkind zeigt eine oder mehrere der nachfolgend aufgeführten unangemessenen Essgewohnheiten:

      1. Anhaltendes fehlendes Interesse an Essen

      2. Ängstliches Vermeiden des Essens

      3. Regulationsschwierigkeiten während des Fütterns (z. B. wiederholtes Einschlafen oder Agitiertheit

      4. Essen nur während des Schlafs

      5. Erfolglose Umstellung auf feste Nahrung

      6. Essen nur unter spezifischen und durch das Kind erzwungenen Bedingungen, die durch die Betreuungsperson erfüllt werden. (z. B. vor dem Fernseher mit einem speziellen Programm, beim Spielen oder Vorlesen, etc.)

      7. Extrem wählerisches und selektives Essen; das Kind weigert sich, Nahrung mit bestimmten Farben oder Konsistenzen zu essen, oder ungewöhnlich eingeschränkte Auswahl an Speisen

      8. Verlängertes Zurückhalten von Nahrung im Mund, ohne sie herunterzuschlucken

      C. Das unangemessene Essverhalten ist nicht besser durch eine medizinische Erkrankung oder medikamentöse Nebenwirkungen erklärbar.

      D. Die Symptome der Störung oder Reaktionen der Bezugspersonen haben erheblichen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des Kindes und der Familie auf eine oder mehrere der folgenden Arten:

      1. Verursachen Stress und Leid beim Kind.

      2. Beeinträchtigen die Beziehungen des Kindes.

      3. Schränken die Teilnahme des Kindes an entwicklungsbedingt erwarteten Aktivitäten und Routinen ein.

      4. Schränken die Teilnahme der Familie an Alltagsaktivitäten und Routinen ein.

      5. Schränken die Fähigkeit des Kindes ein, neue Fertigkeiten zu lernen und zu entwickeln, oder beeinträchtigen den Entwicklungsprozess.

      Alter: Es gibt keine Altersbeschränkung.

      Dauer: Die Symptome müssen über einen Zeitraum von mehr als einem Monat vorhanden sein.

      1.5 Überprüfung der Lernziele

      • Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um von auffälligem Verhalten im Säuglings- und Kleinkindalter zu sprechen?

      • Definieren Sie den Begriff exzessives Schreien nach Wessel.

      • Was sind die häufigsten Schlafstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern? Definieren Sie diese.

      • Nennen Sie mind. zwei Klassifikationssysteme, welche spezifisch für psychische Auffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter (0–5 Jahre) entwickelt wurden.

      • Definieren Sie den Begriff »Pädiatrische Fütterstörungen«.

      2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen

      Fallbeispiel

      Jan (26 Monate) ist das dritte Kind von Frau K. (24 Jahre). Frau K. ist alleinerziehend und bezieht Sozialhilfe. Die Kinder haben unterschiedliche Väter, zu denen kein Kontakt besteht. Im Erstgespräch berichtet Frau K., dass Jan aus einer Vergewaltigung entstanden sei und sie ihn eigentlich abtreiben wollte. Jedoch habe sie die Schwangerschaft zu spät bemerkt, so dass es für eine Abtreibung zu spät war. Die Schwangerschaft sei insgesamt sehr belastend gewesen, da der Abstand zu den anderen Kindern sehr klein ist. Jan habe von Beginn an sehr viel geschrien und kaum geschlafen. Auch habe er nicht richtig trinken wollen bzw. die Milch gleich wieder erbrochen. Somit sei sie den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, ihren Sohn entweder zu tragen oder zu ernähren. Zunehmend sei die Situation zu Hause für sie immer schwieriger geworden, denn die Versorgung der Kinder habe sie kaum noch zur Ruhe kommen lassen. Das habe dann auch öfter dazu geführt, dass sie ihre Kinder angeschrien habe. Irgendwann habe sich dann das Jugendamt gemeldet.

      Wenn Jan weine, versuche sie ihn immer auf dem Arm oder mit Hilfe einer Flasche Milch zu trösten. Jedoch schlafe er einfach nicht in der Nacht, so dass sie begonnen habe, ihn einfach vor den Fernseher oder den Tablett-Computer zu setzen, damit sie wenigstens einige Stunden Schlaf in der Nacht bekommen würde. Allerdings funktioniere das auch nicht immer. Manchmal schlage er wie wild um sich, mit dem Kopf auf den Boden oder gegen die Wand. Nachts sei er zwischen 22:00 und 4:00 Uhr eigentlich immer wach. Seinen Schlafbedarf decke er am Tag und schlafe dann auf ihr oder im Kinderwagen. Auf Nachfrage hin berichtet Frau K., dass ihr Sohn aufgrund der Tag-Nacht-Umkehr nicht wirklich an Familienaktivitäten bzw. täglichen Routinen teilnehme. Jan spreche noch nicht und sei motorisch eher unsicher. So könne er beispielsweise nur an der Hand laufen.

      Die anderen zwei Kinder sind am Vormittag zwar im Kindergarten, sie selbst komme jedoch kaum zur Ruhe. Das Schreien und Quengeln löse bei ihr häufig Gefühle von Panik aus. Auch fühle sie sich innerlich häufig leer und sehr traurig. Gleichzeitig erlebe sie jedoch auch Phasen mit einer unkontrollierbaren Wut. Auf ihre eigene Gesundheit angesprochen, berichtet Frau K. von ständigen Schmerzen.

      Lernziele

      • Sie kennen die Prävalenzzahlen für das exzessive Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen.

      • Ihnen sind typische Verläufe von Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen vertraut.

      • Sie können den Begriff Schütteltrauma definieren und kennen dessen Ursachen.

      2.1 Epidemiologie des exzessiven Schreiens

      Vermehrtes Schreien des Säuglings ist einer der häufigsten Vorstellungsgründe in Kinderarztpraxen. Gemäß Papousek (2004) ist etwa in Deutschland jeder 4. bis 5. in den ersten drei Lebensmonaten ein exzessiv schreiender Säugling. Die Prävalenzzahlen schwanken dabei je nach Studie erheblich. Diese Differenzen lassen sich primär auf abweichende Definitionen, die verwendeten Diagnoseinstrumente bzw. die Altersspanne der untersuchten Kinder zurückführen. Reijneveld et al. (2001) verglichen Prävalenzraten in einer niederländischen Population für zehn verschiedene Operationalisierungen des exzessiven Schreiens und fanden Werte von 1,5–11,9 %.

      Wird die 3er-Regel von Wessel (image Kap. 1) zur Definition herangezogen, liegen aktuelle Prävalenzzahlen in europäischen Ländern zwischen 1,5 % (Niederlande; Reijneveld et al., 2001), 9,2 % (Dänemark; Alvarez, 2004) und 16,3 % (Deutschland; von Kries, Kalies, & Papousek, 2006). Fazil